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Attentismus

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Attentismus (lateinisch attendere, „achtgeben, abwarten, seine Aufmerksamkeit auf etwas richten“) bezeichnet in der Wirtschaft und anderen Fachgebieten ein abwartendes Verhalten, bei dem eine wirtschaftliche Entscheidung aufgrund einer angekündigten oder erwarteten staatlichen Maßnahme vorerst nicht umgesetzt wird. Das Gegenteil von Attentismus ist Aktivismus.

Allgemeines

Attentismus ist zu beobachten, wenn für die betroffenen Wirtschaftssubjekte vorteilhafte Regelungen (Gesetze, Maßnahmen der Zentralbank) in Zukunft eingeführt oder nachteilige entfallen sollen. Um in den Genuss dieser Regelungen zu gelangen, müssen ohnehin geplante Entscheidungen hinausgeschoben werden. Betroffene Wirtschaftssubjekte sind die Privathaushalte, Unternehmen und der Staat mit seinen Untergliederungen (öffentliche Verwaltung, Staatsunternehmen, Kommunalunternehmen). Attentismus gibt es auf allen Märkten, auf denen die Marktpreise oder Marktzinsen schwanken. Die Börsen kennen den Attentismus durch Marktteilnehmer, die zwar die Börse beobachten, aber abwarten und nicht in die Marktentwicklung eingreifen.

Der Begriff Attentismus stammte ursprünglich aus der Politik, ist jedoch in der Wirtschaft von besonderer Bedeutung. Abwartendes oder verzögertes Handeln bedeutet, dass vorgesehene Entscheidungen von Wirtschaftssubjekten nicht wie geplant umgesetzt werden, weil sich eine angekündigte oder erwartete staatliche Maßnahme auf diese Entscheidungen auswirken könnte. In der Wirtschaftswissenschaft beschreibt der Begriff eine Mentalität der Risikovermeidung durch Abwarten und Beobachten des Marktes. Ist beispielsweise auf dem Geldmarkt eine Zinserhöhung angekündigt, werden Anleger ihre vorgesehene Geldanlage bis nach der erfolgten Zinserhöhung verschieben und Unternehmer Investitionen vorziehen, so dass die mit der Investition verbundene Fremdfinanzierung noch zu einem niedrigeren Kreditzins stattfinden kann. Erwarten die Wirtschaftssubjekte sinkende Marktpreise und halten sie sich entsprechend mit Käufen zurück, kann dieser Attentismus eine Spirale weiterer Preissenkungen und einen starken Einbruch wirtschaftlicher Aktivitäten auslösen.[1] Angekündigte Steuererleichterungen animieren die begünstigten Wirtschaftssubjekte, zunächst ihre Entscheidungen aufzuschieben und zurückzustellen, bis die Steuererleichterungen in Kraft treten, um ihre Entscheidungen dann umzusetzen. Der Attentismus ist in diesen Fällen mit einem Mitnahmeeffekt verbunden.

Geschichte

Der Begriff des Attentismus geht auf das frühe 20. Jahrhundert zurück. Der SPD-Politiker Ludwig Frank verfolgte im Jahre 1912 eine Politik des reformistischen Aktivismus gegen den passiven Attentismus der Parteiführung (August Bebel, Karl Kautsky) sowie gegen den revolutionären Aktivismus des radikal-linken Flügels (Rosa Luxemburg, Karl Radek).[2] Bebel wollte keine „große Revolution“, sondern einen „freien Volksstaat“, dem die Parteitage immer wieder Absolution erteilten.

Dieter Groh verfasste 1973 hierüber eine Habilitationsschrift mit dem programmatischen Titel „Negative Integration und revolutionärer Attentismus“. Hierin beschrieb er die abwartende Grundhaltung der deutschen Sozialdemokratie des frühen 20. Jahrhunderts und definierte Attentismus als ein Konglomerat „von politischer Abwartehaltung, auf Umsturz der bestehenden Verhältnisse zielender Revolutionshoffnung und verbalem Radikalismus“.[3] „Negative Integration“ ist „gekennzeichnet durch zunehmende ökonomische Besserstellung und Tendenzen zur rechtlichen und faktischen Gleichberechtigung einerseits bei gleichzeitiger grundsätzlicher Verweigerung der Gleichberechtigung in Staat und Gesellschaft und Fortdauer der Ausbeutung und der Unterdrückungsmaßnahmen andererseits“.[4] In aphoristischer Kürze brachte Karl Kautsky bereits 1893 die kompliziertere Aufgabenstellung seiner Partei auf einen Nenner, wonach die deutsche Sozialdemokratie zwar eine revolutionäre sei, aber keine Revolutionen machende Partei.[5] Kautsky umschrieb damit die attentistische Grundhaltung der SPD.

In der jüngeren Geschichte bezeichnete man beispielsweise die abwartende Haltung der europäischen Politik gegenüber dem Aufstieg des Nationalsozialismus als Attentismus, ebenso nannte man die passive Haltung der Bevölkerung im Angesicht der deutschen Besatzungsmacht und ihrer Gewalttaten Attentismus.[6] Attentismus wird durch unklare Randbedingungen und Planungsunsicherheit ausgelöst. Er ist oft – besonders in der Politik – auch als eine Haltung zu verstehen, die vorhandene Probleme „aussitzt“ und nicht löst. Bundeskanzlerin Angela Merkel wird mitunter attentistisches Regierungsverhalten vorgeworfen.[7] So meint auch der deutsche Berufsdiplomat Markus Ederer, gebraucht werde „mehr Mut zur Außenpolitik“, es müsse ein Ende haben mit dem „bisherigen Attentismus“.[8]

Auswirkungen

Bereits schlichte Verlautbarungen künftiger wirtschaftspolitischer Absichten staatlicher Organe können bei Marktteilnehmern Signalwirkungen auslösen, die diese Teilnehmer zu einer Reaktion veranlassen. Diese Reaktion kann aus einem Vorziehen eigentlich später geplanter Entscheidungen (Vorzieheffekt) als auch in einem Hinauszögern eigentlich früher geplanter Entscheidungen (Attentismus) bestehen. Das abwartende Zögern der Marktteilnehmer auf geldpolitische Maßnahmen der Zentralbank kann beispielsweise unerwünschte Zinseffekte mit sich bringen, die ihrerseits die Gesamtnachfrage beeinflussen. Ein Attentismus der Anleger vermag Zinssteigerungen zu erzwingen, umgekehrt kann ein Attentismus der Investoren und öffentlichen Hand eine Zinssenkung bewirken.[9] An der Börse können Gerüchte insbesondere über Zinsänderungen oder Devisenkursänderungen zu einer Beschleunigung der Kursentwicklung führen, da Anleger dem Markt ihre Nachfrage nach Wertpapieren oder Devisen entziehen.[10]

Attentismus führt meist zu Ineffizienzen beim Politikeinsatz durch Wirkungsverzögerungen.[11] Hierdurch verschärfen Zentralbanken und Regierungen eine Krise und erreichen das Gegenteil ihrer Absichten.[12] Nicht nur Maßnahmen der Zentralbank, sondern alle anstehenden staatlichen Maßnahmen mit Finanzwirkung können Attentismus betroffener Wirtschaftssubjekte hervorrufen. Die politische Lage kann auch unternehmerische Investitionsentscheidungen beeinflussen: „Der Attentismus gewinnt weniger Raum, wenn die Wirtschaft Vertrauen in die zukünftigen Absichten der Politik hat, wenn es uns gelingt, die Kooperation mit der Regierung zu verbessern“.[13] Eine deflationäre Entwicklung führt zu einem Attentismus bei Investitionen und Konsum, denn bei sinkenden Preisen lohnt es sich für Investoren und Konsumenten, so lange abzuwarten, bis die geplanten Käufe am günstigsten sind.

Regierungen und Zentralbanken sind dazu übergegangen, ihre finanzwirksamen Entscheidungen nicht mehr vorher anzukündigen, sondern sie überraschend bekannt zu geben. Viele Entscheidungen (etwa über Auf- oder Abwertung) werden deshalb am Wochenende veröffentlicht, wenn die Marktteilnehmer wegen Bankfeiertagen nicht reagieren können.

Weblinks

Einzelnachweise

  1. Otmar Issing, Der Euro: Geburt, Erfolg, Zukunft, 2008, S. 90.
  2. Ludwig Frank, Auf der Landagitation, in: Pan, Heft 7 vom 4. Januar 1912, S. 209 f.
  3. Dieter Groh, Negative Integration und revolutionärer Attentismus: Die deutsche Sozialdemokratie am Vorabend des Ersten Weltkrieges, 1973, S. 36 ff., ISBN 3-549-07281-3.
  4. Dieter Groh, Negative Integration und revolutionärer Attentismus: Die deutsche Sozialdemokratie am Vorabend des Ersten Weltkrieges, 1973, S. 54
  5. Dieter Groh, Negative Integration und revolutionärer Attentismus: Die deutsche Sozialdemokratie am Vorabend des Ersten Weltkrieges, 1973, S. 36.
  6. Henry Rousso, Les années noires. Vivre sous l’occupation, Paris, Gallimard, 2006.
  7. Falsches Personal, falsches Programm, Der Tagesspiegel vom 23. September 2013.
  8. Kurs auf die Welt, Zeit online vom 6. Februar 2014.
  9. Berndt Keller/Paul Binder, Kritik der traditionellen Wirtschaftstheorie und der herkömmlichen Wirtschaftspolitik, 1975, S. 81.
  10. Wolfgang Gerke, Gerke Börsen Lexikon, 2002, S. 72.
  11. Michael Hohlstein (Hrsg.), Lexikon der Volkswirtschaft, 2009, S. 68.
  12. Fredmund Malik, Richtig denken - wirksam managen, 2007, S. 178.
  13. Otto Wolff von Amerongen, Präsident des DIHT, Neuer Datenkranz für den Aufschwung, in: Vortragsreihe des Instituts der deutschen Wirtschaft, Nr. 46, 1975.
Dieser Artikel basiert ursprünglich auf dem Artikel Attentismus aus der freien Enzyklopädie Wikipedia und steht unter der Doppellizenz GNU-Lizenz für freie Dokumentation und Creative Commons CC-BY-SA 3.0 Unported. In der Wikipedia ist eine Liste der ursprünglichen Wikipedia-Autoren verfügbar.