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Kanun (Gewohnheitsrecht)

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Beim Kanun (albanisch auch Kanuni = der Kanun) handelt es sich um das mündlich überlieferte mittelalterliche Gewohnheitsrecht vor allem der albanischen Gegen.

Formen

Wenn von Kanun die Rede ist, meint man meist den Kanun des Lekë Dukagjini, da dieser am besten dokumentiert wurde und als erster schriftlich festgehalten wurde. Es gab aber diverse regionale Varianten wie zum Beispiel Kanun von Skanderbeg (albanisch Kanuni i Skënderbeut), Kanun i Arbërisë, Kanun der Labëria (Kanuni i Labërisë) und Kanun der Malësia e Madhe (Kanuni i Malësisë së Madhe).

Kanun des Lekë Dukagjini

In den nordalbanischen Bergen waren die Bewohner - die Gegen - durch die dortigen geografischen Gegebenheiten so von der Außenwelt abgeschottet, dass sich hier ein aus dem Mittelalter stammendes, möglicherweise sogar vorrömisches Gewohnheitsrecht bis in die Neuzeit erhalten hat. Dieses wird in seiner meistzitierten Fassung als Kanun des Lekë Dukagjini (Kanuni i Lekë Dukagjinit) bezeichnet, nach einem zu Skanderbegs Zeiten lebenden mächtigen Fürsten. Unwahrscheinlich ist die häufige These, dass Lekë (Alexander) Dukagjini (1410–1481) Namensgeber oder sogar Urheber dieser Gesetzessammlung war. Lek ist vielmehr das albanische Wort für Gesetz (heutiges Standard-Albanisch: ligj).[1]

Grundlage des Kanuns ist das Leben in der Großfamilie, in der meist drei Generationen unter der Anführerschaft des ältesten Mannes unter einem Dach wohnten. Die Gesetzessammlung regelt die Bereiche Schuldrecht, Ehe- und Erbrecht, Strafrecht sowie Kirchen-, Landwirtschafts-, Fischerei- und Jagdrecht ziemlich umfassend. Im Strafrechtsbereich ist der Kanun noch von der Ehrverletzung geprägt, wobei der Begriff des Gottesfriedens als Teilaspekt der Besa bereits bekannt ist. Da der Kanun bis heute tief im Denken der nordalbanischen Gegen verwurzelt ist, entsteht oft ein Konflikt zwischen modernen Gesetzen und dem Kanun. Die Frauen spielen im Kanun eine marginale Rolle und haben kaum Rechte. Sie gelten als „Schlauch“ (shakull), „in dem die Ware transportiert wird“, sind aber auf der anderen Seite unverletzlich, wenn es zu Ehrverletzungen kommt.

Die Nordalbaner erkannten keine zentrale Herrschaft an. Streitigkeiten wurden auf Versammlungen (Kuvend) der Familienoberhäupter eines Dorfes oder Stammes geregelt, etwa vergleichbar einem germanischen Thing oder einer Schweizer Landsgemeinde. In der Mirdita war der Kapedan („Kapitän“) die einzige weltliche Autorität, der jeweils vom Oberhaupt der Familie Gjonmarku gestellt wurde. Er war Anführer der Mirditen und letzte Instanz in Entscheidungen und Streitfragen. Die Rechte der privilegierten Familie und die Rolle des Kapedan waren im Kanun genau umschrieben. Jeder Mirdite, der jemanden tötete, musste den Gjonmarku eine Abgabe zahlen.

Kanun i Papazhulit

Im Süden des Landes bestand ein nur in Details verschiedener Kanun i Papazhulit, auch Kanun i Labërisë, der auf die unterschiedlichen sozialen, religiösen und gesellschaftlichen Umstände Rücksicht nimmt. Im weniger abgeschiedenen Südalbanien waren die Bedeutung und die tiefe Verwurzelung in der Bevölkerung aber viel geringer.

Besa

Der ganze Kanun baut auf der Ehre auf, aus der sich zahlreiche Pflichten, negative Aspekte wie die Blutrache, aber auch positive Aspekte wie das Gastrecht und die Besa ableiten. Letztere lässt sich nicht direkt ins Deutsche übersetzen, sondern umfasst die Begriffe „Friedenspakt, Allianz, Waffenstillstandsabkommen, gastfreundschaftliches Bündnis, Ehre des Hauses, Ehrenwort, Schwur, Sicherheitsgarantie, Loyalität, Treue und anderes mehr“[2]. Die Besa schützt von der Blutrache Bedrohte für gewisse Zeiten oder Orte vor Verfolgung und entbindet gleichzeitig den zur Blutrache Verpflichteten, ein Verbrechen zu rächen. Die Besa konnte einerseits zwischen Personen oder Familien vereinbart werden. Sie wurde zum Beispiel für wichtige Besorgungen, Feldarbeit, familiäre Feiern oder kirchliche Feiertage gewährt. Meist wurde auch dem Mörder für gewisse Zeit nach einer Blutrachetat Besa gewährt. In der Besa für Vieh und Hirten erlaubten Stämme untereinander, das andere Stammesgebiet zu bestimmten Zeiten und auf bestimmten Strecken bereisen zu dürfen. Die allgemeine Besa unterband alle Sühnetaten in Kriegszeiten.

Der Ehrenkodex führte auch dazu, dass während des Zweiten Weltkriegs um die 2000 Juden auf der Flucht vor den Nationalsozialisten in Albanien Zuflucht und Schutz fanden. Als Albanien 1943 von Deutschland besetzt wurde, weigerten sich die Albaner, Namenslisten der Juden ihren Besetzern auszuhändigen. Im Namen der Besa brachten viele in der Bevölkerung nicht nur Juden bei sich unter, sondern besorgten ihnen auch gefälschte Pässe. Fast alle Juden in Albanien haben den Krieg überlebt. Albanien ist das einzige von den Deutschen besetzte Land Europas, das nach dem Holocaust mehr Juden hatte als zuvor.[3][4]

Daneben waren aber auch ganze Personengruppen wie Frauen, Kinder oder Priester vor Verfolgung geschützt.

Eine besondere Form der Besa findet sich bei den sogenannten eingeschworenen Jungfrauen. Dieses familiäre Rechtskonstrukt dient dazu, das Fehlen eines männlichen Familienoberhauptes zu kompensieren. Dabei verspricht eine Frau des Familienclans, niemals eine sexuelle Beziehung einzugehen, dafür aber ein Leben wie ein Mann zu führen. Damit verbunden ist die Anerkennung dieser Frau als Familienoberhaupt mit allen dessen Rechten (außer dem Stimmrecht).

Etymologie

Kanun respektive Qanun ist ein Begriff aus dem Türkischen für ein vom osmanischen Sultan erlassenes Gesetz. Das Wort stammt ursprünglich von griechisch κανών (kanón) respektive lateinisch canon („Richtschnur“) ab.[5]

Geschichte

Eine Kulla im nordalbanischen Theth, in der sich von der Blutrache bedrohte Männer einschlossen.

In den unzugänglichen nordalbanischen Gebirgen hatten die Osmanen, die das Land rund 500 Jahre lang besetzten, nie wirklich die Macht erlangt. Somit konnten sie dort auch nicht ihre Gesetze einführen. Mangels anderer staatlicher Macht konnte sich der Kanun deshalb bis in die Neuzeit erhalten.

Das immer nur mündlich überlieferte Gesetzeswerk wurde erstmals vom Franziskanerpater Shtjefën Gjeçovi (1874–1929) am Ende des 19. Jahrhunderts in der Version des Kanun des Lekë Dukagjin gesammelt und in der Folge in Teilen publiziert. Die erste vollständige Publikation erschien 1933 in Shkodra.

Während der kommunistischen Diktatur in Albanien war der Mechanismus der Blutrache sistiert; denn der Staat konnte seine Rechtshoheit landesweit durchsetzen. Seit dem Zusammenbruch des Kommunismus anfangs der 1990er Jahre hat sich insbesondere die Blutrache wieder etabliert. Der junge demokratische Staat war zu schwach, um diese Dynamik der Selbstjustiz regulieren zu können. Erst das Erstarken des albanischen Staates nach den Unruhen von 1997 führte zu einem langsamen Rückgang der Blutrache-Konflikte. Heute sollen – je nach Quelle – wieder bis zu 15.000 albanische Familien in Blutrache-Konflikte verstrickt sein, die zum Teil auf Vorfälle vor dem Zweiten Weltkrieg zurückgehen. Dabei werden die regulierenden Bestimmungen des Kanun aber meist nicht eingehalten, so dass auch Kinder und Frauen bedroht werden und in ärmlichen Verhältnissen zu Hause gefangen sind. Dieses Aufweichen der Regeln veranlasste Gjin Marku, Vorsitzender des schlichtenden Komitees der Nationalen Aussöhnung, von einer degenerierten Form des Kanuns zu sprechen.[6]

Die katholische und die islamische Geistlichkeit in Nordalbanien sprechen sich konsequent für die Achtung des bürgerlichen Rechts und damit für die Sistierung des Kanuns aus. Ihr Einfluss ist allerdings begrenzt.

1990 haben in Kosovo, Mazedonien und Montenegro über eine Million Albaner an verschiedenen „Versöhnungszeremonien“ teilgenommen. Diese wurden von einer Gruppe um den Soziologen Anton Ceta († 1995) organisiert.[7] In Albanien gibt es seit einigen Jahren ein sogenanntes „Versöhnungsprojekt“, bisher aber nur mit kleinen Erfolgen.

Literatur

Quellen

  • Bardhec Berisha (Übersetzung), Martin Schällebaum (Hrsg.): Der Kanun. edition xenia, Luzern/Klina 2016, ISBN 978-3-9523769-1-1.
  • Marie Amelie Freiin von Godin: Das albanische Gewohnheitsrecht. In: Zeitschrift für vergleichende Rechtswissenschaft (ZVR). Band 56, 1ff, Band 57, 5 ff sowie Band 58, 121 ff. (Übersetzung ohne Einführung bei OpinioIuris)
  • Leonard Fox (Hrsg. und Übersetzer): Kanuni i Leke Dukagjinit/The Code of Lekë Dukagjini. Gjonlekaj Publishing Company, New York 1989, ISBN 0-9622141-0-8.
  • Kazuhiko Yamamoto: The Ethical Structure of the Kanun – is it the original form of ethics in human society? In: Illyria. Nr. 1425–1428, März 2005.
  • Johann Georg von Hahn: Albanesische Studien. 3 Bände, Jena 1854.
  • Ludwig von Thallóczy: Kanun i Lekës: ein Beitrag zum albanischen Gewohnheitsrecht. In: Illyrisch-albanische Forschungen. T. 1, 1916, S. 409–460.
  • G. Castelletti: Consuetudini e vita sociale nelle montagne albanesi secondo il Kanun i Lek Dukagjinit. In: Studi albanesi. T. 3–4, 1933–1934, S. 61–163.
  • C. Libardi: I primi moti patriottici albanesi nel 1910–1911–1912, specie nei Dukagjini. Trente 1935, S. 2.
  • H. Kaleshi: Türkische Angaben über den Kanun des Leka Dukadjini. In: G. Reichenkron, A. Schmaus (Hrsg.): Die Kultur Südosteuropas: ihre Geschichte und ihre Ausdrucksformen. Wiesbaden 1964, S. 103–112.
  • Albert Ramaj: Kanuni në botën gjermanofone (Der Kanun im deutschsprachigen Raum). In: At Shtjefen Gjeçovi dhe Kanuni, Zagreb 2007, S. 14–26
  • Albert Ramaj: Der Kanun von Lekë Dukagjini. Das albanische Gewohnheitsrecht und die Stellung der Frau. In: Ehe, Familie, Gesellschaft. Verlag Bär, Niederuzwil 2011, S. 645–652, ISBN 978-3-9523212-6-3.
  • S. Pupovci: Gradjanskopravni odnosi u zakoniku Leke Dukadjina (Relations de citoyenneté dans le Kanun de Lekë Dukagjini). Prishtina 1968.
  • S. Pupovci: Burimet për studimin e Kanunit të Lekë Dukagjinit (Les sources pour l'étude du Kanun de Lekë Dukagjin). In: Studime historike. 2, 1971, S. 75–98.
  • S. Pupovci: Origjina dhe emri i Kanunit të Lekë Dukagjinit (L’origine et le nom du Kanun de Lekë Dukagjini). In: Studime historike. 1, 1972, S. 103–128.
  • Maurus Reinkowski: Gewohnheitsrecht im multinationalen Staat: Die Osmanen und der albanische Kanun (PDF; 3,2 MB) In: Michael Kemper, Maurus Reinkowski (Hrsg.): Rechtspluralismus in der Islamischen Welt: Gewohnheitsrecht zwischen Staat und Gesellschaft. de Gruyter, Berlin, New York 2005.

Darstellungen

  • Robert Elsie (Hrsg.): Der Kanun. Dukagjini Publishing House, Peja 2001
  • Peter Zihlmann: Basel-Pristina oder die Blutrache in der Schweiz. Orell Füssli Verlag, Zürich 2007, ISBN 978-3-280-06084-1
    Der Tatsachenbericht analysiert einen Gerichtsfall aus dem Jahre 2002 vor dem Hintergrund des Kanuns aus den verschiedenen Blickwinkeln der Beteiligten.

Romane

Filme

  • The Forgiveness of Blood, Drama – USA/Albanien/Dänemark/Italien. 2011, Gewinner des Silbernen Bären der Berlinale 2011 für das beste Drehbuch
  • Der Bergfürst, Dokumentarfilm – Deutschland 2010, von Philip Vogt
  • Kanun - Blut für Ehre, Dokumentarfilm – Deutschland 2009, von Marc Wiese, Gewinner des Hauptpreises für Dokumentarfilme auf dem Internationalen Filmfestival von Biarritz
  • Ungesühnt - Dossier K., Spielfilm – Niederlande Belgien 2009

Weblinks

Einzelnachweise

  1. von Godin zitiert in Maurus Reinkowski: Gewohnheitsrecht im multinationalen Staat: Die Osmanen und der albanische Kanun (PDF; 3,2 MB). In: Michael Kemper, Maurus Reinkowski (Hrsg.): Rechtspluralismus in der Islamischen Welt: Gewohnheitsrecht zwischen Staat und Gesellschaft. de Gruyter. Berlin, New York 2005
  2. Schwandner-Sievers, Stephanie: Zur Logik der Blutrache in Nordalbanien. Ehre, Symbolik und Gewaltlegitimation. In: Sociologus 46, 1996, S. 116
  3. Harvey Sarner: Rescue in Albania. Brunswick Press, Cathedral City 1997, ISBN 1-888521-11-2, S. 1.
  4. Besa: A Code of Honor. Muslim Albanians who Rescued Jews During the Holocaust. Introduction. Yad Vashem, archiviert vom Original am 11. Dezember 2014; abgerufen am 26. Februar 2017 (english).
  5. Michael Schmidt-Neke: Der Kanun der albanischen Berge: Hintergrund der nordalbanischen Lebensweise. In: 'Der Kanun. Dukagjini Publishing House, Peja 2001, S. 11-34.
  6. Thomas Fuster: Albaniens vom Leben ausgesperrte Kinder. In: Neue Zürcher Zeitung. Nr. 133, 2010-06-12 S. 9.
  7. Jacques Semmelin: Analysis of a Mass Crime. Yugoslavia 1991–1999. Fußnote 42, in: Robert Gellately, Ben Kiernan (Hrsg.): The specter of genocide. Cambridge University Press, Cambridge/UK 2003, ISBN 0-521-52750-3, Seite 364
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