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Neapel sehen

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Neapel sehen ist eine Kurzgeschichte aus der Sammlung Dorfgeschichten 1960, mit der Kurt Marti in jenem Jahr erstmals als Erzähler hervortrat. Es geht darin um das Sterben eines Arbeiters, der sein Leben dem Akkord der Fabrik geopfert hatte.

Entstehung

Dorfgeschichten 1960 entstand in Niederlenz, einem Industriedorf im Schweizer Mittelland. Marti war im Pfarramt und wurde durch das Dorfleben, wie er selbst sagt,

politisiert […] durch die Begegnung mit Leuten, die zu kurz kommen, ungerecht behandelt werden, sozial und ökonomisch schlecht dran sind. Das hat mich nach links getrieben, und ich wurde, ohne es zu wollen, in diesem Industrie-Dorf der Pfarrer der Sozi-Minderheit.[1][2]

Inhalt

Ein Fabrikarbeiter wird nach 40 Jahren Akkordarbeit das erste Mal krank. Ans Bett gefesselt, verabscheut er seine Frau, seinen Meister und die verlogene Rücksicht, die ihm entgegengebracht wird. Sein Blick aus dem Fenster auf sein kleines Gärtchen endet an einer Bretterwand, welche er gebaut hatte, um sich den Anblick der Fabrik zu ersparen.

Als ihm das Gärtchen zu verdrießlich wird, ordnet der Mann an, zwei Bretter aus der Wand zu entfernen. Nach einer Woche lässt er die Hälfte der Wand abreißen, da ihm der immer gleiche Anblick der Wand zu langweilig wird. Der Blick des Mannes ruht nun zärtlich auf der Fabrik und er beobachtet das Tagesgeschehen. Bald schon lässt er die restliche Wand entfernen, und der alte Mann lächelt nun sogar, bis er nach wenigen Tagen schließlich stirbt.

Form

Für Marti ist Literatur in erster Linie Sprache und Form: „Für mich ist die Form die Hebamme des Inhalts. Formeinfälle, Formvorstellungen, Formversuche, Formspiele bringen allmählich den Inhalt zur Welt.“[3]

Der Text ist in einer stark reduzierten Form geschrieben, wobei der Grundriss des Geschehens aus Haus und Gärtchen, Bretterwand und Fabrik entsteht. Dabei gibt es keine Abschnitte; wie ein kompakter Block stehen die knapp fünfzig Zeilen da.

Des Weiteren fehlt jegliche Psychologisierung der Figuren: Sie werden als „die Frau“, „der Meister“, „der Arzt“ und „der Nachbar“ eingeführt – sie sind kaum konturiert.

Die Syntax ist einfach und das Vokabular ist simpel, zwei Verben stechen jedoch besonders heraus: In der ersten Hälfte ist es hassen – es taucht zehn Mal auf, oft als Anapher „Er hasste“. In der zweiten Hälfte ist es sehen – elf Mal tritt es auf, jedoch auf subtilere Art und Weise.

Das Wort Blust ist ein Mundartwort aus dem Berndeutschen „Bluescht“ und bezeichnet die Baumblüte im Frühling.

Interpretation

Der Titel Neapel sehen ist eine Anspielung auf eine neapolitanische Redensart, von der Johann Wolfgang von Goethe in seiner Italienischen Reise berichtet:

»Vedi Napoli e poi muori!« sagen sie hier. »Siehe Neapel und stirb!«[4]

Heute üblicherweise als Neapel sehen und sterben übersetzt, soll das heißen: Neapel erlebt zu haben, kann von nichts im späteren Leben eines Menschen mehr übertroffen werden. Der kranke Arbeiter erkennt, dass die verhasste Arbeitswelt doch das Wichtige und Bestimmende in seinem Leben war – und mit dieser Erkenntnis kann er friedlich sterben.

Der „Akkord“ in Neapel sehen ist eine Klammer, welche die Arbeit und das Private unerbittlich zusammenfügt. Dem Akkord verdankt der Mann seinen kleinen Wohlstand, Haus und Garten. Doch die Akkordarbeit, die ihm dies ermöglicht hatte, ergreift Besitz von ihm und höhlt ihn aus. Auch wenn er auf den ersten Blick sein eigener Herr zu sein scheint – ist er doch nur sein eigener Sklaventreiber.

Literatur

Ausgaben
  • Neapel sehen. In: Kurt Marti: Dorfgeschichten 1960. Sigbert Mohn, Gütersloh 1960. S. 60–63.
  • Neapel sehen. In: Kurt Marti Werkauswahl in 5 Bänden. Ausgew. von K.M. und Elsbeth Pulver. Bd. 1: Neapel sehen. Erzählungen. Nagel und Kimche, Zürich/Frauenfeld 1996. S. 16 f.
  • Neapel sehen. In: Werner Bellmann (Hrsg.): Klassische Deutsche Kurzgeschichten. Reclam, Stuttgart 2003, ISBN 978-3-15-018251-2. S. 251 f.
Interpretation
  • Elsbeth Pulver, in: Werner Bellmann (Hrsg.): Klassische deutsche Kurzgeschichten. Interpretationen. Reclam, Stuttgart 2004, ISBN 978-3-15-017525-5. S. 240–245.

Weblinks

Einzelnachweise

  1. Dossiers Kurt Marti, par Elsbeth Pulver et Anna Stüssi, in: Feuxcroisés. Litteratures et Echanges culturels en Suisse. Revue du Service de Presse Suisse, No. 5, Editions d'en Bas, Lausanne 2003, S.23.
  2. Elsbeth Pulver in: Werner Bellmann (Hrsg.): Klassische deutsche Kurzgeschichten. Interpretationen. Reclam, Stuttgart 2004. S. 240
  3. Kurt Marti: Red' und Antwort. Rechenschaft im Gespräch. Stuttgart 1988, S.29 books.google
  4. Goethe: Italienische Reise. Zweiter Teil. Neapel. 3. März 1787. zeno.org. »Sono Napolitano. Vedi Napoli, e poi muori», Carlo Goldoni: La bottega del caffè 2. Akt 16. Szene (deutsch Das Kaffeehaus), in: Le Commedie di dottore Carlo Goldoni. Edizione giusta l'esemplare di Firenze. Dall' autore corretta, riveduta ed ampliata. Tomo primo. Torino MDCCLVI (1756). S. 213 books.google.
Dieser Artikel basiert ursprünglich auf dem Artikel Neapel sehen aus der freien Enzyklopädie Wikipedia und steht unter der Doppellizenz GNU-Lizenz für freie Dokumentation und Creative Commons CC-BY-SA 3.0 Unported. In der Wikipedia ist eine Liste der ursprünglichen Wikipedia-Autoren verfügbar.