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Martin Widerker

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Martin Widerker (geb. 1935), deutscher Unternehmer und Komponist religiöser Musik

Leben

tachles, 18.12.2020:

Der deutsche Unternehmer Martin Widerker wird 85 Jahre alt – und blickt auf ein abenteuerliches, engagiertes und bewegtes Leben.

Es ist eine Biografie, die eher ins aufstrebende Amerika denn ins gemächliche Stuttgart passt: Ein erfolgreicher Immobilienunternehmer, der als Fensterputzer in Stuttgart begonnen hat, eine erste Gebäudereinigungsfirma gründete und ein Firmenimperium aufbaute, das er heute mit seinen beiden Söhnen leitet, ist Pilot und Pionier. Als Kind talentierter Musiker absolvierte er das Konservatorium und ist heute angesehener Komponist von synagogaler Kantorenmusik. Soeben ist seine fünfte CD herausgekommen: «Die Musik bestimmte schon immer mein Leben», sagt Widerker. Der Unternehmer ist in diesen Tagen 85 Jahre alt geworden, denkt rasch, spricht in kurzen, klaren Sätzen und sprüht vor Energie.

Von Tel Aviv nach Breslau

Geboren ist Martin Widerker 1935 in Tel Aviv. Als er 12 Jahre alt war, fuhr die ursprünglich aus dem galizischen Lemberg stammende Familie 1947 nach Polen und wurde von den Kommunisten an der Rückkehr gehindert. Im Jahre 1958 konnte die Familie dann aber in Richtung Westdeutschland ausreisen. Dort studierte er an der Technischen Hochschule in Stuttgart. 1959 wurde er indessen von einem Schicksalsschlag eingeholt: Sein Vater verunglückte bei einem Autounfall in Sindelfingen tödlich. Widerker erzählt von den dramatischen Ereignissen mit so präziser Erinnerung, als ob sie nur wenige Tage zurücklägen – Tage, die sein abenteuerliches Leben prägten. In diesen Jahren des deutschen Wirtschaftswunders ging vieles schnell.

Geprägt vom Kommunismus in Polen fasste Widerker mit Immobiliengeschäften rasch Fuss in der Wirtschaft, heiratete, gründete eine Familie und blieb stark mit Israel verbunden: «Ich habe eine jüdische und zionistische Seele.» Das zeigte sich schon früh, als er in der kommunistischen Jugendorganisation Polens ZMP während der Gymnasiumszeit zum Vorsitzenden gewählt worden war. Als solcher verlangte er, dass jedes Jahr am Tag des Warschauer Ghettos Wandzeichnungen zum Thema gemacht wurden und es eine Sonderveranstaltung der Schüler mit Schweigeminute gab. Das habe ihn, wie er betont, «zum Glück» die kommunistische Karriere gekostet, indem er wegen seiner «zionistischen Tendenzen» nicht in das Kontingent Polens für ein Studium in Moskau kam. Es war in jener Zeit, als er seine Eltern, die nach Israel zurückkehren wollten, überredete, nach Stuttgart zu ziehen, wo er studieren wollte. Mittlerweile ist Martin Widerker neunfacher Grossvater; er bezeichnet sich selbst als modern-orthodoxen Juden. Über 40 Jahre lang engagierte er sich bei der Israelitischen Religionsgemeinschaft Württemberg, war Vorstandsmitglied und später -vorsitzender, an seiner Seite der aus Basel stammende Gemeinderabbiner Netanel Wurmser. Engagiert war er 26 Jahre lang als stellvertretender Vorsitzender beim Keren Hajessod Deutschland, und 40 Jahre bis 2019 als Vorsitzender von Maccabi. Die Gemeinde, mit der er in den letzten Jahren immer wieder teils vor Gericht Sträusse ausgefochten hat, liegt Widerker am Herzen: «Heute wird die Gemeinde zusehends kleiner; ohne die Kontingenteinwanderer würde es sie wohl nicht mehr geben.» Für die Gemeinde konnte er mit grossem Einsatz zusammen mit dem damaligen Ministerpräsidenten Günther Oettinger einen Staatsvertrag über jährlich fünf Millionen Euro aushandeln. Widerker gründete die Jüdische Grundschule und war federführend beteiligt an mehreren wichtigen Gemeindeprojekten. Widerker wollte Stuttgart zu einem jüdischen Zentrum gedeihen lassen, ein jüdisches Gymnasium, ein Internat und anderes mehr gründen, um vor allem die Jugendlichen bei der Stange zu halten.

Widerker erinnert sich: «Beim Zuzug der Juden aus der ehemaligen Sowjetunion machten sich viele in Württemberg lebende Gemeindeaktivisten Illusionen und träumten von einer Renaissance des jüdischen Lebens bis hin zum Stand vor dem Krieg.» Widerker sagte damals, man solle die Einwanderer nach Stuttgart bringen, wo es wenigstens eine jüdische Infrastruktur vom Gemeindehaus bis zum Kindergarten gebe. Aber sie wurden dann doch auf die «Zweigstellen» an verschiedenen Orten ohne Infrastruktur platziert. «Viele dieser Leute sind uns deshalb als Juden geistig verloren gegangen, sie sind assimiliert. Das war der grösste Fehler, den man im jüdischen Württemberg je gemacht hat!» Jene, die nach Stuttgart einwanderten, integrierten sich rasch und umfänglich in die Gemeinde.

Einsatz für den Klal

Heute sagte er nüchtern und diplomatisch zugleich: «Daraus ist aber bis heute nichts geworden, und die Gemeinde hat andere Prioritäten verfolgt.» Ganz Unternehmer, vermisse er heute im Vorstand der Gemeinde die «Macher-Fähigkeiten», die er damals einsetzen konnte und mit denen vieles möglich wurde.

In seiner Immobilienfirma hingegen arbeitet er auch jetzt noch rund um die Uhr. Die Unternehmensgruppe Widerker umfasst heute einen Flächenbestand von über 600 000 m² in eigenem Besitz und Verwaltung und über 1000 Mitarbeiter. Zu Geschäftsterminen fliegt er als Pilot oft selbst hin. Was für Aussenstehende nach Abenteuer klingt, sieht Widerker pragmatisch: «Das spart Zeit und ist effizient. So kann ich flexibel jeden Ort erreichen.»

Auf Deutschland blickt Widerker mit Sorge: «Was sich in den letzten Jahren hier tut, dass Juden hier in Angst leben und ihr Judentum verstecken müssen, ist katastrophal.» Doch nach Israel auswandern will er vorläufig nicht. «Wer so stark verwurzelt ist wie ich, der bleibt, auch wenn die Sorge über den zunehmenden Antisemitismus mich umtreibt.» Er habe einen deutschen Pass, aber mit dem Begriff «deutscher Jude» könne er sich nicht identifizieren, auch wenn er das wollte. Bei seinen geschäftlichen Kontakten spüre er sein Jüdischsein selten, als Grossvater mache er sich allerdings doch Sorgen um seine Enkel: «Vor 40 Jahren hat man das nicht so stark gespürt wie jetzt.» Je weiter der Holocaust zeitlich zurückliege, desto mehr werde an Tabus gerüttelt. Seine Überzeugung sei indessen, dass man die Mehrheit der Deutschen bei pauschaler Betrachtung nicht ändern könne und fordert: «Die Bekämpfung des Antisemitismus muss zum Schulfach für alle, beginnend mit der ersten Klasse, erklärt werden. Nur so kann man eine neue Generation ohne Klischees und Vorurteile erziehen.»

Judenfeindschaft vor Gericht

«Unser Unternehmen hat beispielsweise, vor zwei Jahrzehnten in einem Immobilien-prozess verloren und viel Geld verloren.» Widerker erinnert sich: «Für alle konsultierten Anwälte war glasklar, dass wir den Fall gewinnen würden. Vor der Verhandlung erfuhren wir jedoch durch einen anderen Richter an jenem Gericht, dass unser Richter stellvertretender Vorsitzender der NPD sei. Das Urteil wurde so ausgefertigt, dass keine Revision möglich war.» Und schlussfolgert: «Die ganz grossen Nazis sind zwar nicht mehr da, aber der Antisemitismus kommt immer noch aus dem Elternhaus.» Dennoch wolle er nicht nach Israel auswandern: «Meine Enkel leben hier.» Israel ist für Widerker eine Erfolgsgeschichte. Es gebe kein anderes Land auf dieser Welt, das in so kurzer Zeit solche Errungenschaften erreicht habe. Und er meint: «Am besten wäre es, wenn alle Juden in Israel leben würden, denn dies ist die eigentliche Heimat.» Für ihn, so wie er heute lebt, ist Israel jedoch seine geistige Heimat.

Auch existenzielle Erfahrungen haben ihn immer wieder zur Musik gebracht; ein fast tödlicher Bootsunfall und andere Herausforderungen liessen ihn immer wieder Ruhe in der Komposition finden. «Das Leben besteht aus Geben und Nehmen», sagt er. Mit der liturgischen Musik «möchte ich mich bei Gott für all das bedanken, was ich erhalten habe». Die Musik hatte ihn schon immer interessiert, und deshalb wolle er seinen Dank in diese Richtung gestalten, denn seine Musik sei wie ein Lobesgebet. So setzte er sich das Ziel, Schabbatlieder zu komponieren – derzeit steht er bei 50, die er auch auf CDs und Videoclips eingespielt hat. Im Moment arbeitet er am fünften Album «Schabbat Hamalka». Widerker spricht mit Leidenschaft über die Musik und sie ist den Kompositionen voller Inbrunst auch anzuhören.

Doch rasch rufen wieder das Geschäft und auch die Herausforderungen der Covid-19-Pandemie. Letztere packte er bei den Hörnern und entwickelte in den vergangenen Monaten auf der Basis der menschlichen In-frarotstrahlen ein «Abstand-Messsystem mit Signalwirkung» bei Unterscheidung einer Entfernung eines Menschen zum nächsten mit einem Radius von zwei Metern. Ziel ist der Schutz der Gesellschaft vor ansteckenden Krankheiten. Widerker erzählt mit Freude, dass er das Messsystem beim Patentamt nach langen Recherchen erfolgreich hat schützen lassen. Es ist eine Erfindung, die er in den Sommermonaten entwickelte, nachdem ihn sein Enkel darauf hinwies, dass er immer wieder vergisst, Abstand zu halten. Widerker betont: «Menschen schützen und Menschen gesund halten ist doch sehr wichtig».