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Diskussion:Walter Arlen

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tachles Newsletter 31.7.2020:

Klang der Sehnsucht

Komponist Walter Arlen wird 100 Jahre alt

Walter Arlen verliess seine Heimatstadt Wien 1938 und ging ins amerikanische Exil. Komponieren war eine Möglichkeit, das Erlebte zu verarbeiten – und die Erinnerung zu bewahren.

Im Sommer 1920 bereitete sich Sigmund Freud in der Berggasse in Wien unter anderem auf den Internationalen Psychoanalytischen Kongress in Den Haag vor, wo er seinen Vortrag «Ergänzungen zur Traumlehre» halten würde. In diesem Sommer 1920 kam, ganz in der Nähe, ein Junge namens Walter Aptowitzer in Wien zur Welt. Und der blickt nun, im Sommer 2020, als Walter Arlen auf ein Jahrhundertleben zurück.

Die Familie führte ein grosses Kaufhaus am Brunnenmarkt in Wien, das «Warenhaus Leopold Dichter», gegründet vom Grossvater 1890. Die Familie wohnte über den Geschäftsräumen, und Walter kam so schon von Anbeginn in Kontakt mit Musik. Der Grossvater hatte ein hochmodernes Tonsystem installieren lassen, die Kunden wurden während ihres Aufenthaltes im Geschäft von Grammophon-Musik begleitet, Schellackplatten mit den damals neuesten Schlagern, wie sie heute zum Repertoire eines Max Raabe gehören. Walters Musikalität fiel der kunstsinnigen Familie – sein Vater war Maler – früh auf, der Junge erhielt Klavierunterricht und in der fünften Klasse begann er, erste Stücke zu komponieren. Eine wichtige Rolle dabei spielte sein Schulkamerad, der spätere Pianist Paul Hamburger, mit dem Walter oft in die Oper ging, beide sprachen viel über Musik.

Am Freitag, den 11. März 1938, am Tag des Befehls zum Einmarsch in Österreich, ging der 17-Jährige wie üblich in die Schule, es wurde sein letzter Schultag, der letzte Tag des gewohnten Lebens für die Familie. Am Wochenende wurde in einer Nacht- und Nebelaktion der Vater abgeholt und inhaftiert, die Räume geplündert, am Montag darauf das Kaufhaus vom «Arisierer» übernommen, die Konten unter Kuratel gestellt, die Familie musste packen und ihr Haus verlassen. Die Mutter brach zusammen, musste ins Krankenhaus, der Vater kam nach Dachau, dann nach Buchenwald. Und der 18-jährige Walter musste für die Familie sorgen.

Im März 1939 flüchtete der 18-jährige Walter zu Verwandten nach Chicago, während Mutter, Schwester und Grossmutter die Freilassung des Vaters abwarten und nachkommen wollten. Die Verwandten hatten Verbindung zur Familie Pritzker, Gründer der Hyatt-Hotelkette und Stifter des Pritzker-Preises für Architektur. In Chicago arbeitete Walter Arlen bei einem Pelzhändler, mit Kriegsbeginn 1941 wechselte er in eine Chemiefabrik. Was unterdessen mit seinen Eltern war, dass sie nun in London waren, erfuhr er erst später. In Chicago begann Walter, um seiner Depressionen Herr zu werden, eine freudsche Psychoanalyse, in der er seine Träume bearbeitete, um das Erlebte besser zu ertragen, zu verarbeiten. Nach einer Weile, als es ihm besser ging, begann er zu komponieren und gewann prompt einen Musikwettbewerb. Ab jetzt ging es bergauf.

Musik als Gedächtnis

Nach Kriegsende waren auch Arlens Eltern und seine Schwester in die USA gekommen. Arlen begann 1947 als Assistent des Komponisten Roy Harris und ging nach Santa Monica, wo damals die legendäre Künstlerkolonie mit Bewohnern wie Bert Brecht, Alfred Döblin, Vicki Baum, Franz Werfel, Alma Mahler-Werfel, Lion Feuchtwanger und Familie Mann heimisch war. Menschen, die lebhafte Erinnerungen an Thomas Mann im kalifornischen Exil während der vierziger Jahre haben, dürfte es nicht mehr allzu viele geben. Der 99-jährige Walter Arlen hat sie, erzählte von dieser Zeit, von Wien, seiner Karriere als Musikkritiker und davon, was die Musik ihm bedeutet, in einem Anfang Juli erschienenen Gespräch mit der Wochenzeitung Die Zeit (28/2020). Walter Arlen schrieb sich nach seiner Zeit bei Harris als Musikstudent an der University of California in Los Angeles ein. Darüber ergab sich Anfang der fünfziger Jahre seine Tätigkeit als Musikkritiker für die «Los Angeles Times». Er lernte viele der exilierten Künstler kennen, besuchte die Feuchtwangers, die Manns, die Schönbergs, war mit Gustav Mahlers Tochter Anna befreundet. Als langjähriger Musikkritiker des renommierten Blattes hatte Arlen über Jahrzehnte mit einigen der grössten Komponisten zu tun, von Leonard Bernstein bis Igor Strawinsky. Zudem gründete er 1969 das Music Department der Loyola Marymount University in Los Angeles und trug wesentlich zum Kulturtransfer österreichischer Musik bei. Über all die Tätigkeiten als Musikkritiker und Universitätsprofessor war eigenes Komponieren zeitweise etwas in den Hintergrund gerückt, ab den sechziger Jahren fand er wieder Zugang dazu. Er schrieb Lieder, Songs, Klavierstücke und Kammermusiken. 2011, als Arlen über 90 Jahre alt war, führten die Wiener Symphoniker einige seiner Kompositionen auf. Im November 2011 wurde in Wien eine Gedenkmatinee zur Erinnerung an das Novemberpogrom 1938 veranstaltet, zu der Walter Arlen, der 1965 das erste Mal wieder in seine alte Heimatstadt gereist war, geladen wurde. Arlens Mutter hingegen war ein Neubeginn nicht gelungen. Sie konnte das Ertragene nicht verarbeiten, bekam die schrecklichen Bilder und Geschehnisse nicht aus dem Kopf und beging in Chicago Selbstmord, wie auch ein Onkel und ein Cousin. Die Grossmutter war in Theresienstadt umgekommen. Durch Walter Arlens Musik klingt Schmerz und Trauer. Und sie ist durchdrungen von Sehnsucht. Wenn er komponiere, sagte Walter Arlen einmal, «bin ich wieder in Wien». Am 31. Juli wird Walter Arlen 100 Jahre alt.


Katja Behling