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Diskussion:Rosa Grimm

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tachles Newsletter 9.11.2018:

Die jüdische Kommunistin Rosa Schlain war selbst den Schweizer Linken zu radikal – auch ihrem eigenen Ehemann Robert Grimm, der den Landesstreik vor genau 100 Jahren anführte, während sie am Rande der Gesellschaft endete.

Ihre politischen Gegner sparten nicht mit Schimpfwörtern, wenn sie über Rosa Grimm-Schlain schrieben. «Giftkröte» wurde die Kommunistin genannt, ein «Häuflein getrocknetes Elend» oder «Hyäne des Bolschewismus». Die «rote Rosa» war ein Bürgerschreck. Sie rauchte, pflegte ihre Beine auf den Schreibtisch zu legen, hatte eine spitze Feder und kämpfte in feurigen Reden für das Frauenstimmrecht und legale Abtreibung.

Rosa Grimm-Schlain fiel auf in der kleinen Schweiz. Weil sie Russin und Jüdin war, weil sie Kommunistin war. Und vor allem, weil sie eine Frau war. Anfang des 20. Jahrhunderts hatten Frauen in der Öffentlichkeit und erst recht in der Politik nichts zu suchen. Sie waren für das Private zuständig, für das traute Heim, das Innere der eigenen vier Wände, für die Kinder und den Ehemann, am Herd und in der Waschküche.

Die rote Rosa aber ging auf die Strasse, sie demonstrierte, organisierte Streiks, wurde ver­haftet. Ihre Reden waren bissig und ironisch. Rosa hatte die Schauspielschule in Wien besucht, sie wusste, wie man vor Publikum auftritt. Physisch war die Russin unscheinbar, klein und dünn, «eine schmächtige Frau, in deren zerbrechlichem Körper lodernde Flammen die Lebenssubstanz zu verzehren schienen», sagte ihr Parteigenosse Paul Thalmann. «Wenn sich diese ausserordent­liche Erscheinung auf der Tribüne zeigte, erhob sich im Saal oft Räuspern und Kichern, aber es verstummte im Nu, sobald Rosas tiefe Stimme die Zuhörer erreichte.»

Im Schatten des Ehemannes Heute kennt kaum mehr jemand ihren Namen. Ihr Ex-Mann Robert Grimm hingegen ist noch in aller Munde. Es ist nun 100 Jahre her, seit der wohl umstrittenste und wirkmächtigste linke Politiker, den die Schweiz je hatte, die Schweiz an den Rand eines Bürgerkriegs brachte. Er hatte als Kopf des Oltener Aktionskomitees zum Generalstreik ausgerufen. 250 000 Arbeiter legten am 12. November 1918 ihre Arbeit nieder. Die Armee mobilisierte fast 100 000 Soldaten, um den Streik niederzuschlagen – am Tag nach dem Ende des Ersten Weltkriegs. Die Forderungen des Komitees waren bedrohlich für die bürgerliche Schweiz: AHV und Invalidenrente, das Frauenstimmrecht, die 48-Stunden-Woche für Arbeiter. Nun, im 100. Jubiläumsjahr des Generalstreiks, wird viel über Robert Grimm geschrieben, wenig aber über seine radikale Ehefrau Rosa.

Als Robert Grimm 1908 die jüdische Intellektuelle Rosa Schlain kennenlernte, war er fasziniert vom schier überquellenden Wissen der Russin. Der junge Marxist bezeichnete sich selbst als «kaum aus der Werkstatt entflohenen Arbeiter», der bloss die Volksschule besucht hatte. Er dürstete nach Bildung. Schlain hingegen stammte von einer wohlhabenden jüdischen Kaufmannsfamilie aus Odessa, war belesen und gebildet. Sie brachte ihm Rhetorik bei, schrieb ihm Reden und Artikel.

Es waren «zwei stürmische Charaktere», die zueinander fanden, wie Robert Grimms Biograf Adolf Mc Carthy schrieb. «Seine Zuneigung war von rasender Leidenschaft», schrieb Rosa später über die Anfänge ihrer Beziehung. «Keine Zärtlichkeit war zärtlich genug, keine Worte reichten aus, um seine Gefühle mitzuteilen.» Grimm habe fortwährend betont, «dass seine kühnsten Träume ihm nicht so viel Glück verhiessen, wie ich ihm gebracht habe.»

Doch das Eheglück war nicht von Dauer. Es ist die Geschichte eines Mannes, der sich vom Revolutionär zum politischen Schwergewicht mauserte und ganz oben im politischen System landete – und einer Frau, die für radikale Ideen kämpfte und am Rande der Gesellschaft endete.

Eine «widerspenstige» Ehefrau Es war Silvester, vor etwas mehr als 100 Jahren, als Rosa realisierte, dass ihre Ehe am Ende war. Sie hörte, wie ihr Mann im Nebenzimmer mit jemandem telefonierte. Er könne nicht kommen,­ sonst würde sie ja wieder jammern. Danach stieg sie auf den Estrich, drohte ihrem Mann, sich auf die Strasse zu stürzen. «Auf einmal tat sich mir ein schrecklicher Abgrund auf», erinnerte sie sich später. Für die überzeugte Atheistin war Silvester der einzig wichtige Feiertag im Jahr, sie wollte ihn mit ihrem Mann und den beiden kleinen Kindern verbringen. Doch ihrem Mann war die Ehe zur «Qual» geworden. Aus dem Familienleben hatte er sich längst zurückgezogen.

Die Basler Historikerin Caroline Arni hat bei Archivarbeiten für ihr Buch «Entzweiungen» zufällig die Scheidungsbriefe der beiden gefunden. Seine Frau besitze «einen festen, ausge­sprochenen Eigenwillen, der dominieren will», beklagte sich Grimm darin. «Schon das erschwerte das Leben und gestaltete es mitunter zu einer Marter.» Die ständigen Reibereien hätten ihm das Leben verleidet.

Nicht nur Robert Grimm bekundete Mühe mit seiner widerspenstigen Ehefrau. Revolutionär gesinnte Frauen wie Rosa Schlain-Grimm eckten an. Sie galten in der männerdominierten Öffentlichkeit als hysterische, «blutrünstige» Furien. Wenn die Frau einmal rebellisch werde, kenne sie keine Furcht mehr, schrieb etwa der Kriminalpsychologe Hans von Hentig 1923. Aufgrund der Menstruation, die bei den Frauen tiefe Spuren in der Seele hinterlasse, seien Frauen ausserdem sehr viel entzündlicher als Männer.

Politisch aktive Frauen wurden öffentlich lächerlich gemacht, oftmals auf ihr Aussehen bezogen. «Wie ein roter Faden durchziehen per­sönliche­ Attacken die Biografien revolutionärer Frauen jener Zeit», so die Historikerin Brigitte Studer.­ Die Berner Professorin hat Rosa Schlain-Grimms Biografie rekonstruiert. Solche Angriffe musste auch die «rote Rosa Nr. 2» erfahren, wie die Marxistin Rosa Bloch von der bürgerlichen Presse genannt wurde. Sie sei «eine lange, dürre Hopfenstange mit austretenden, rollenden Augen» schrieb ein Journalist über sie. Als in Basel 1917 die Arbeiter streikten, gaben die Streikgegner vor allem Rosa Grimm-Schlain die Schuld: «Es ist die verfaulte Schicht arbeitsscheuen Grossstadtgesindels (...) zusammen mit Rosa Grimm, einer Russin aus Odessa, die unsere Ordnung über den Haufen rennen möchte.»

Politikerin und Intellektuelle Rosa Grimm sah sich als Politikerin und Intellektuelle, die Hausarbeit lag ihr nicht. Ihr Mann beklagte sich vor Gericht über die fehlende häusliche «Erholung und Frische, auch eine gewisse Behaglichkeit». Auch in ihrem poli­tischen Umfeld wurde ihr vorgeworfen, sich nicht genügend um die beiden Kinder und den Haushalt gekümmert zu haben. Sie habe ihrem «durch übermässige Arbeit abgespannten und überreizten Ehemann nicht die nötige Ruhe und das nötige Entgegenkommen in der Familie»­ gezeigt, urteilten die Scheidungs­richter 1916.

Mit der gescheiterten Ehe haderte Rosa Schlain bis an ihr Lebensende. «Dass Robert Grimm nicht bereit war für eine gleichbe­rechtigte Ehe auf Augenhöhe, war eine grosse Enttäuschung für Rosa», sagt die Historikerin Caroline Arni. Auch die vermeintlich emanzipierten Genossen seien bezüglich Gleichstellung noch in der «Grossvaterzeit», beklagte sich Schlain in einem Zeitungsartikel von 1919. Die Ehe sei eine «Sackgasse» für politisch aktive Frauen. Zehn Jahre später fiel ihr Urteil über die Ehe noch drastischer aus. Diese sei «von Staates­ wegen eine geschützte Prostitution», «im günstigsten Fall ein Geschäft und nur im al­­lerseltensten Fall ein eheliches Zusammenleben».

Verlust der Kinder Als Robert Grimm 1918 nach drei Tagen den Landesstreik abbrach, war er bereits nicht mehr mit der roten Rosa verheiratet. Zwei Jahre nach der Scheidung hatte er sich mit der 16 Jahre jüngeren Krankenschwester Jenny Kuhn vermählt. Sie soll ihn zum Abbruch des Streiks überredet haben. Robert Grimm wurde vom revolutionären Marxisten zum kompromissbereiten Sozialdemokraten, machte politische Karriere und bekleidete zuletzt gar das Amt des Nationalratspräsidenten. Schlain wirkte derweil entscheidend an der Gründung der kommunistischen Partei in der Schweiz mit. Grimm wate im Sumpf des Opportunismus, warf ihm Schlain öffentlich vor. 1919 muss Schlain noch einmal vor Gericht. Robert Grimm beantragt das Sorgerecht für die beiden Kinder. Eine politisch aktive Frau könne keine gute Mutter und Erzieherin sein, urteilen die Richter. Schlain verliert die Kinder an ihren Ex-Mann und seine frisch angetraute Jenny Kuhn. Die rote Rosa lebt fortan ein rastloses und prekäres Leben, zieht von Bern nach Zürich, dann nach Basel und wiederum nach Zürich. Zehnmal wechselt sie innerhalb von vier Jahren ihre Wohnadresse. Aus Basel etwa habe sie fortgehen müssen, schrieb Rosa Schlain, «weil ich den andern dort nicht behage». Sie sei «rechthaberisch» und «schwierig», eine «unausstehliche Person», sagte ein junger Parteigenosse damals über sie.

Immer wieder reist sie für mehrere Monate in die Sowjetunion, sieht ihre Ideale in ihrer Heimat aber zunehmend verraten. Auch dort würden die Frauen von ihren Männern unterjocht, schreibt sie. Ende der 1930er Jahre tritt sie enttäuscht aus der kommunistischen Partei aus.

Schlain sei eines Tages «wirklich verzweifelt» bei ihr aufgetaucht, erinnert sich die befreundete Künstlerin Lilli Humm, und habe Arbeit gesucht – als Haushälterin. 1955 stirbt Rosa Schlain, im «Schlössli», einer Zürcher Heilanstalt für Geisteskranke. Sie sei persönlich vereinsamt und politisch heimatlos gewesen, heisst es in ihrem Nachruf. «Es ist ein trauriges, bitteres Frauenschicksal», sagt die Historikerin Caroline Arni.

Yaël Debelle