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Viktimisierung

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Viktimisierung ist ein Fachbegriff vor allem in der Kriminologie. Das Verb viktimisieren bedeutet „zum Opfer machen“ (lat. victima, „Opfer“), indem jemand durch kriminelles Handeln geschädigt wird. Insbesondere in der Sozialwissenschaft beschreibt der Begriff auch den Vorgang, jemandem oder einer Personengruppe einen Opferstatus oder die Opferrolle zuzuschreiben, sowie entsprechende Selbstzuschreibungen.

Seit den 1990er Jahren wird eine Debatte in den Medien über die politischen und sozialen Implikationen der Schädigung und der Benutzung des Begriffs Opfer geführt.

In verschiedenen Bereichen

Kriminologie

In der Kriminologie beschäftigt sich die Viktimologie wissenschaftlich mit Menschen, die zweifelsfrei als Opfer von Straftaten geschädigt wurden. Der Begriff Viktimisierung bezieht sich hier auf den Prozess der Schädigung durch Straftäter und beschreibt die Beziehung zwischen Opfer und Straftäter.

Rechtswissenschaft

Voraussetzung für Leistungen nach dem bundesdeutschen Opferentschädigungsgesetz ist eine „Viktimisierung“, nämlich die Feststellung, dass ein Antragsteller „Opfer“ im Sinne des Gesetzes ist.

Als Viktimisierung wird von Juristen auch die ungerechtfertigte Benachteiligung von Menschen, die Klage gegen ihre Ungleichbehandlung eingereicht haben, bezeichnet, sofern die geltend gemachte Schädigung als „Diskriminierung“ anerkannt wird. Die vier Anti-Diskriminierungs-Richtlinien der EU verbieten diese Form der Viktimisierung (Antirassismusrichtlinie Richtlinie 2000/43/EG, Rahmenrichtlinie Richtlinie 2000/78/EG, Genderrichtlinie (2002) Richtlinie 2002/73/EG, Genderrichtline (2004) Richtlinie 2004/113/EG). So heißt es in der Einleitung der Gleichbehandlungsrahmenrichtlinie:

„(30) Die effektive Anwendung des Gleichheitsgrundsatzes erfordert einen angemessenen Schutz vor Viktimisierung.“[1]

In § 16 des deutschen Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetzes (AGG, auch „Antidiskriminierungsgesetz“) wird das Viktimisierungsverbot weniger missverständlich als „Maßregelungsverbot“ bezeichnet.

In der Schweiz bietet das Opferhilfegesetz Instrumente, die der sekundären Viktimisierung entgegenwirken sollen.[2]

Sozialwissenschaften

Erweiterter Viktimisierungsbegriff

Der Begriff Viktimisierung wird in den Sozialwissenschaften unterschiedlich verwendet, sowohl transitiv (jemand macht jemand anderen zum Opfer oder bezeichnet jemand anderen als Opfer) als auch reflexiv (jemand hält sich für ein Opfer bzw. bekennt sich dazu, ein Opfer zu sein). Durch Stigmatisierung kann eine Opferrolle, ein Opferstatus oder ein Opfermythos entstehen.[2]

Auch können Menschen durch schicksalhaft-unabwendbare Vorgängen (z. B. eine Naturkatastrophe) geschädigt werden. Johan Galtung und seine Anhänger fassen des Weiteren Menschen, die durch Diskriminierung, Rassismus, Kriegsfolgen, Armut usw., also durch „strukturelle Gewalt“ geschädigt wurden, unter den Opferbegriff.

Zuschreibungen

Die Zuschreibung einer Opferrolle an einzelne Mitglieder oder Gruppen der Gesellschaft erfolgt unter Umständen durch Mitglieder dominanter gesellschaftlicher Gruppen, Institutionen oder Ideologien.

Bei der Verstetigung der Rolle von Opfern spielt der Effekt der erlernten Hilflosigkeit eine Rolle. Durch Attribuierung von außen oder durch die Übernahme entsprechender Etikettierungen ins Selbstbild können leicht aus Menschen, die einmal oder mehrmals geschädigt wurden (Vorgangspassiv), Menschen werden, die dauerhaft geschädigt sind (Zustandspassiv), die also dauerhaft in eine Opferrolle geraten sind, einen dauerhaften Opferstatus erworben haben oder einen Opfermythos pflegen.

Philosophie

In Liebe Dein Symptom wie Dich selbst! beschreibt Slavoj Žižek den Prozess der Viktimisierung als ein gesellschaftliches Identitätsbildungsmerkmal der Postmoderne. Das postmoderne Subjekt neigt zu einem narzisstischen Selbstverhältnis, bei dem es seine Beschädigtheit betont und sich gern in einer selbstgewählten Opferrolle darstellt.

Psychologie

In der Psychologie wird als sekundäre Viktimisierung das Phänomen bezeichnet, dass z. B. durch Naturkatastrophen Geschädigte, Verbrechensopfer oder von illegalen Drogen Abhängige ungerechtfertigt für ihre eigene Lage verantwortlich gemacht werden.

Ideologie- und Sprachkritik

Gegen die Praxis, geschädigte Menschen als „Opfer“ zu bezeichnen, werden Einwände erhoben. Zum einen wird kritisiert, dass der Begriff „Opfer“ inflationär benutzt werde. Er werde dadurch in Mitleidenschaft gezogen, dass oftmals der berechtigte Verdacht naheliege, es gehe eher darum, durch Benutzung eines emotional stark aufgeladenen Begriffs in der Öffentlichkeit Aufmerksamkeit (auch in Konkurrenz oder gar Gegnerschaft zu anderen Opfergruppen) für das Leiden bestimmter Geschädigter zu wecken und einen Anspruch auf Entschädigungszahlungen für sie zu begründen, als den Geschädigten angemessen zu helfen.[3] Zum anderen wird kritisiert, dass vielen Geschädigten der ihnen zustehende Opferstatus vorenthalten werde. Denn bei der Benutzung des Begriffs „Opfer“ schwinge oft die Erwartung mit, Menschen müssten „rein“ und „vollkommen unschuldig“ sein, um das Mitgefühl der Gesellschaft zu verdienen.[4]

Pejorativ, also in kritischer Absicht wird der Terminus verwendet, indem z. B. Forschern wie Pierre Bourdieu unterstellt wird, sie würden jedes soziale Phänomen in das Raster Opfer-Täter einordnen und einseitig Stellung zugunsten der Geschädigten beziehen.[5]

Instrumentalisierung des „Opfer“-Begriffs durch Täter und Politiker

Slavoj Žižek warnt davor, dort einen ethnischen Konflikt zu sehen. Stattdessen sollten seiner Ansicht nach die tatsächlichen machtpolitischen Zusammenhänge wahrgenommen werden. Erst die von außen hineingelegte Interpretation, es gehe um einen rassistischen Zusammenhang, trüge dazu bei, den Konflikt zu einem „ethnischen Ding“ zu machen. Grund für diese Wahrnehmung sei eben auch die Viktimisierung, die hier als eine Art der Hilfe sich nur dann der Opfer annehme, wenn die Helfer sie für Opfer hielten. Sobald der Opferstatus nicht mehr hergestellt werden könne, bleibe die Unterstützung aus. Eine Unterstützung der Betroffenen finde nur deshalb statt, weil die Unterstützenden die Betroffenen in ihrer Opferrolle benötigten. Die Wahrnehmung des Konflikts auf einer rassistischen Folie sei dem Prozess der Viktimisierung also zuträglich.

Ähnlich beschreibt der Kultursoziologe Jonas Pfau den Umgang vieler Deutscher mit der Vergangenheit: „Die Täter machten sich zu Opfern. Teil dieser Viktimisierung war die gemeinsam entwickelte und individuell realisierte Schuldabwehr bezüglich der nationalsozialistischen Vernichtungsrealität. Die Strategien dafür reichten von Ignorieren über Verleugnen zur Universalisierung der Shoah.“

Das Buch „Die Holocaust-Industrie. Wie das Leiden der Juden ausgebeutet wird.“ des Autors Norman G. Finkelstein führte in den deutschen Medien zu Reaktionen, die mit der Walser-Debatte von 1998 vergleichbar waren. Die Debatte zeigte, dass die Viktimisierung von Juden wie auch die Kritik an der Viktimisierung jeweils mit Erinnerungsabwehr und antisemitischen Vorstellungen verbunden werden können:

„Er verleiht der bei Antisemiten beliebten These akademische Weihen, nach der jüdische Eliten verdächtigt werden, mit der Erinnerung an die Vernichtung der europäischen Juden ein Geschäft und pro-israelische Politik zu machen.“

Martin Dietzsch, Alfred Schobert[6]

Widerstand gegen die Einordnung als Opfer

Viele rassifizierte Menschen erfahren durch die Zuschreibung einer Opferrolle eine zusätzliche Form der Unterdrückung. Dagegen wehren sich z. B. Organisationen, wie die Theorie und Praxis einer Migrantinnenselbstorganisation in ihrem anti-eurozentristischen Manifest Anthropophagie als Antwort auf die eurozentrische Kulturhegemonie: „Wir widersetzen uns jeglicher Zuschreibungspraxis, sei es in Form von Viktimisierung oder Exotisierung“.

Literatur

  • Slavoj Žižek: Liebe Dein Symptom wie Dich selbst! Jacques Lacans Psychoanalyse und die Medien. Institut für Neue Medien an der Städelschule. Frankfurt/M. 1991.
  • Pascal Bruckner: Ich leide, also bin ich. Die Krankheit der Moderne. Aufbau, Berlin 1997.
  • Jonas Pfau: Die Viktimisierung der Deutschen. In: Phase 2. 10/2003.
  • Luzenir Caixeta: Anthropophagie als Antwort auf die eurozentrische Kulturhegemonie Oder: Wie die Mehrheitsgesellschaft feministische Migrantinnen schlucken ›muss‹. In: Hito Steyerl, Encarnación Gutiérrez Rodríguez (Hrsg.): Spricht die Subalterne deutsch? Migration und postkoloniale Kritik. Unrast Verlag, Münster 2004, ISBN 3-89771-425-6.
  • Mona Chollet: Wem Gerechtigkeit peinlich ist. Über das reaktionäre Gerede vermeintlich aufgeklärter Geister. In: Le Monde diplomatique. (deutsche Ausgabe), Okt. 2007, S. 22f (Aus d. Franz. von Michael Adrian)
  • Dieter Hermann, Dieter Dölling: Kriminalprävention und Wertorientierungen in komplexen Gesellschaften. Analysen zum Einfluss von Werten, Lebensstilen und Milieus auf Delinquenz, Viktimisierung und Kriminalitätsfrucht. Weisser Ring, Mainz 2001.

Einzelnachweise

  1. Richtlinie 2000/78/EG (PDF)
  2. 2,0 2,1 Wolfgang Lebe: Viktimologie – Die Lehre vom Opfer – Entwicklung in Deutschland. Phänomenologische Entwicklung des Opferbegriffes. In: Berliner Forum Gewaltprävention. Nr. 12, 2003 S. 8–19 (PDF).
  3. Martin Schaad: Victims and Losers (PDF; 126 kB). Einstein Forum, 9. Juni 2006
  4. Wildwasser Arbeitsgemeinschaft gegen sexuellen Missbrauch an Mädchen e.V.: „Edel sei das Opfer – hilflos und gut?“ (PDF; 373 kB). Berliner Fachrunde gegen sexuellen Missbrauch an Mädchen und Jungen, 25. Juni 2007
  5. in diesem Sinne beispielsweise Guillaume Erner: La société des victimes. Paris 2006, (d. h. Die Gesellschaft der Opfer)
  6. Martin Dietzsch, Alfred Schobert: Ein „jüdischer David Irving“? Norman G. Finkelstein im Diskurs der Rechten – Erinnerungsabwehr und Antizionismus. [1]

Weblinks

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Dieser Artikel basiert ursprünglich auf dem Artikel Viktimisierung aus der freien Enzyklopädie Wikipedia und steht unter der Doppellizenz GNU-Lizenz für freie Dokumentation und Creative Commons CC-BY-SA 3.0 Unported. In der Wikipedia ist eine Liste der ursprünglichen Wikipedia-Autoren verfügbar.