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Zeuge (Verkehrsunfall)

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Die Zeugenaussage ist ein Eckpfeiler der Rechtspflege und einer der wichtigsten Anknüpfungspunkte für die Rekonstruktion eines Verkehrsunfalls. Sie kann wesentlich zur Klärung von Schuld- und Haftungsfragen beitragen. Objektive Grundlagen wie Reifenspuren, Tachographenschreiberblätter etc. liegen in der Mehrzahl der Fälle nicht vor. Es ist die Aufgabe des Sachverständigen für die Verkehrsunfallrekonstruktion, meist im Gerichtsauftrag, Zeugenaussagen auf ihre physikalisch-technische Möglichkeit zu überprüfen, wobei die physiologischen und psychologischen Gegebenheiten beachtet werden müssen. (Der Problembereich einer bewussten Falschaussage, um sich oder einem Anderen einen Vorteil zu verschaffen, ist nicht Gegenstand dieses Beitrags.)

Die menschliche Beobachtungsmöglichkeit und Gedächtnisleistung ist durch psychologische Gegebenheiten eingeschränkt [1]. Der Inhalt einer Aussage kann ohne Kenntnis dieser Grenzen und ohne Berücksichtigung bestimmter regelmäßig auftretender "Fehlleistungen" nicht richtig gewürdigt werden. Wichtige praktische Beispiele siehe [2].

Einfluss von Wahrnehmung, Erkennen, Gedächtnis

Systematische "Verfälschungen" der Erinnerung an das Erlebte und damit notwendigerweise auch der Zeugenaussagen treten sowohl beim Wahrnehmen, Erkennen, Abspeichern als auch bei der Wiedergabe auf.

Dem Erkennen gehen das Sehen und das Wahrnehmen voraus. Sinnestäuschungen sind eine erste Quelle der "Verfälschung" von erlebten Ereignisabläufen. Erkennen ist – als psychische Funktion – das Einordnen von Wahrnehmungsinhalten in den bisherigen Erfahrungsschatz. Das Absinken der Unfallhäufigkeit mit steigendem Alter (z. B. 30 verglichen mit 20 Jahren) hat nicht notwendigerweise mit zunehmender Reife zu tun, sondern mit dem größeren Erfahrungsschatz, was typische kritische Verkehrssituationen betrifft.

Das Erlebte wird in der Folge über das Ultrakurzzeit- und Kurzzeitgedächtnis im Gehirn letztlich langfristig gespeichert. Dabei kommt es aus folgenden Gründen zu weiteren "Verfälschungen". Je stärker die gefühlsmäßige Beteiligung, desto stärker ist zwar die Einprägung, desto stärker aber auch die Gefahr, dass sich das Erinnerungsbild dem Wunschbild annähert. Je häufiger die geistige Beschäftigung mit dem Geschehen (Selbstreflexion, Gespräche mit Freunden, Angehörigen, mehrfache Vernehmungen), umso sicherer wird die Wiedergabe, umso größer ist aber die Gefahr, dass nicht das Erlebte, sondern bereits Wiedergegebenes ausgesagt wird.

Präsenzzeit, zeitliche Abfolge eines Unfallgeschehens

In der zeitlichen Abfolge Vergangenheit – Gegenwart – Zukunft wird die Gegenwart als sogenannte "Präsenzzeit" erlebt [3]. Sie dauert ca. 6 – 12 Sekunden und ist daher länger als der wesentliche Zeitraum eines gesamten Unfallsgeschehens. Beispielsweise dauert es nur 2 Sekunden, um durch eine Vollbremsung ein Fahrzeug aus 50 km/h bis zum Stillstand abzubremsen, inklusive Vorbremszeit nur 3 Sekunden.

Innerhalb dieser 6 – 12 Sekunden lang dauernden Gegenwartsphase ist alles gleichzeitig präsent, es gibt noch keine sichere Ordnung der zeitlichen Reihenfolge. Wahrnehmungs- und in der Folge Gedächtnisinhalte werden durch unbewusstes Schließen von Kausalketten beeinflusst und verfälscht.

Wenn z. B. ein Zeuge durch ein Reifen- oder Kollisionsgeräusch auf das Unfallgeschehen aufmerksam geworden ist ("Knallzeuge") können Antworten zum Fahrverhalten der Beteiligten zu einem früheren Zeitpunkt nur auf Rückschlüssen beruhen und nicht auf konkreten Wahrnehmungen.

Verfahrenspezifische Einflüsse

  • Provozierte "falsche" Aussage

Bewusst oder unbewusst suggestiv formulierte Fragen durch Polizeibeamte, Richter oder Sachverständige führen zu unterschiedlichen Reaktionen des Befragten. Erkennt oder fühlt er eine Erwartungshaltung des Fragenden reagiert er entweder

- opportunistisch (Tendenz verstärkend) oder

- oppositionell (Tendenz abschwächend).

Im ersten Fall wird die Erwartungshaltung bestätigt, im zweiten Fall wird ihr widersprochen; beides kann falsch sein. Beispielsweise provoziert die Frage "wie knapp?" kleinere Distanzen als die Frage "wie weit?".

  • Semantische Fehler

In Polizeiprotokollen findet man immer wieder die Formulierung, "plötzlich stand der Fußgänger vor mir", "plötzlich stand das Fahrzeug in meinem Fahrstreifen". Wörtlich genommen wäre das ein starker Hinweis auf eine Unaufmerksamkeit, eine verspätete Reaktion. Meist ist aber nur die augenblickliche Position eines bewegten Objekts gemeint, die "eingefrorene" Situation.

  • "Unabhängiger" Zeuge

Nicht jeder scheinbar unbeteiligte Zeuge ist auch emotional unbeteiligt. Erfahrungsgemäß kommt es zu Solidarisierungseffekten bei Insassen in Autobussen oder Straßenbahnzügen mit dem "eigenen" Fahrer. Fußgänger, die sich durch einen der beiden Unfallsbeteiligten gefährdet fühlen, nehmen gegen diesen Stellung indem sie etwa die Geschwindigkeit besonders hoch angeben. Auch die Gespräche nach einem Unfall, die Aggressivität eines der Lenker dem anderen gegenüber führen zu Polarisierungen. Bekanntlich bieten sich Zeugen meist demjenigen an, von dessen Unschuld sie überzeugt sind und wollen ihm oft helfen.

Psychologische Fehlleistungen

  • Schätzungen der Geschwindigkeit (plötzlich = schnell)

Die Zahlenangaben von Zeugen können nur in Ausnahmefällen bzw. mit großer Vorsicht (Solidarisierungseffekt, eigene Gefährdung etc.) verwendet werden [4]. Zeugen und Lenker, die ein zweitbeteiligtes Fahrzeug zunächst übersehen oder unerwartet, überraschend kommen sehen, geben immer eine viel zu hohe Geschwindigkeit an. Ein Fahrzeug, das zunächst noch nicht in einem bestimmten Fahrbahnbereich gesehen wird (weil es übersehen wird), dann aber "plötzlich" da ist, "muss" schnell gefahren sein, es legte ja vermeintlich eine große Strecke in kurzer Zeit zurück. Eine sehr brauchbare Kontrollfrage ist die nach der Strecke, die das Fahrzeug während der Beobachtungszeit zurücklegte.

  • Zeitschätzungen (unbrauchbar)

Jedermann kennt die krassen Fehleinschätzungen von kurzen Zeitspannen. Statt weniger Sekunden werden oft Minuten geschätzt. Noch mehr als bei Geschwindigkeitsschätzungen sind derartige Angaben nur in Ausnahmefällen brauchbar.

  • Zurückprallen nach Kollision

Fährt ein Pkw auf einen stillstehenden, gleich schweren Pkw auf, ist es physikalisch unmöglich, dass der auffahrende Pkw zurückgeschleudert wird. Dennoch wird oft ausgesagt, der eigene Pkw sei zurückgeprallt. Die Wahrnehmung und die physikalische Beschreibung von Bewegungen benötigen Bezugssysteme. Bewegungen sind immer relativ, es gibt keine absolute Bewegung. Zwei "naheliegende" Bezugssysteme für den Fahrzeuglenker sind sein Fahrzeug und die Fahrbahn. Unmittelbar vor einem Auffahrunfall konzentriert sich die Wahrnehmung derartig auf das Vorderfahrzeug, dass nur der sich ändernde Tiefenabstand wichtig ist. Die Fahrbahn stellt momentan subjektiv nicht das relevante Bezugssystem dar.

Literatur

  1. F. Sacher, "Unzureichende Informationsaufnahme als Unfallursache", Verkehrsunfall und Fahrzeugtechnik, 6, 1993, S. 155
  2. B. Wielke: "Zeugenaussagen problematisch, aber unverzichtbar" in: "Sachverständige in Österreich", Festschrift 2012, S. 445 ff; Hrsg.: M. Rant; ISBN 978-3-7073-2188-3 (PDF; 255 kB)
  3. Hubert Rohracher, "Einführung in die Psychologie", Urban & Schwarzenberg, Wien 1976
  4. F. Meyer-Gramcko, "Die Schätzung der Fahrgeschwindigkeit", in: Der Sachverständige, 1, 1980, S. 2


  • F. Arntzen, "Psychologie der Zeugenaussage, System der Glaubwürdigkeitsmerkmale", C. H. Beck Verl. 1993
  • F. Sacher, "Die menschliche Komponente im Straßenverkehrsunfall. Was der Sachverständige nicht in der Ingenieurausbildung lernt", in: Verkehrsunfall und Fahrzeugtechnik, 5, 1988, S. 119
  • Fucik–Hartl–Schlosser–Wielke (Hrsg.): "Handbuch des Verkehrsunfalls", 2. Teil "Unfallaufklärung und Fahrzeugschaden", 2. Auflage, Verlag Manz, Wien, 2008.
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