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Staatsentstehung

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Unter dem Begriff Staatsentstehung werden Ursachen, Entstehungsbedingungen und Begleitumstände des Übergangs von vorstaatlichen Gesellschaften zu solchen mit staatlicher Herrschaft im Sinne eines durch Abgaben der Untertanen finanzierten Gewaltmonopols diskutiert mit dem Ziel, allgemeingültige oder zumindest idealtypische Szenarien geschichtlich zu rekonstruieren.

Die Theorien der Staatsentstehung sind zunächst als geschichtliche Spekulation entworfen worden, konnten aber nach Herausbildung der Ethnologie als wissenschaftliche Disziplin teils empirisch belegt werden.

Viele Theorien streben danach, ein allgemeingültiges Szenario zu entwickeln. Im Vordringen ist hingegen die Auffassung, die geschichtliche Entstehung staatlicher Herrschaft sei in jedem Einzelfall zu ermitteln und ein allgemeingültiges Ursachenmodell der Staatsentstehung nur durch eine kombinierte (alternative und/oder kumulative) Anwendung der Theorien zu entwickeln.

Historische Einordnung

Zeitliche Einordnung

Die ersten Staaten entstanden im vierten bis dritten Jahrtausend vor Christus in Mesopotamien in den Städten (Uruk, Kiš, Lagasch, Eridu, Isin, Sippar, Larsa, Adab, Nippur, Šuruppak, Ur, Akkad) und Elam (Susa), Ägypten (Naqada) und China (Xia-Dynastie); im dritten bis zweiten Jahrtausend entstanden Staaten in Indien (Indus-Kultur), Griechenland, Kreta (Minoische Kultur), später dann in Mexiko (Olmeken und Maya) sowie Peru (Caral).[1]

Äußere Merkmale vor- und frühstaatlicher Gesellschaften

Staatliche Herrschaft hat sich nur in sesshaften Gesellschaften entwickelt, und nur dort, wo die Landwirtschaft schon so weit entwickelt war, dass ein Überschuss produziert wurde.

Vor der Entstehung von Häuptlingsherrschaften und früher staatlicher Gewalt waren die Völker segmentär konstituiert, Kriegführung war bereits in Jäger- und Sammler-Kulturen und bei locker organisierten neolithischen Bauern bekannt, mit generell höheren Todesraten in vorzeitlichen Auseinandersetzungen als in modernen Kriegen.[2]

Erste Phase der Staatsentstehung: Die Auflösung der akephalen Gesellschaft

Nach Lesart anarchistischer Autoren lebten die Menschen für Zehntausende von Jahren in Gesellschaften ohne formale politische Institutionen oder konstituierte Autorität. Die meisten zeitgenössischen Anthropologen, Ethnologen, Vor- und Frühgeschichts-Forscher, Historiker sowie Anarchisten stimmen allgemein darin überein, dass für Jahrtausende, also für die längste Zeit vor jeder aufgezeichneten Geschichte die menschlichen Gesellschaften ohne eine herrschende Klasse existierten, was ebenso durch die moderne Ethnologie und Untersuchung aller indigenen Kulturen bestätigt wird. So existieren alle staatenlosen Kulturen, die zugleich immer egalitäre Kulturen waren und teilweise noch heute sind, ohne eine gesonderte Gruppe von etablierten Autoritäten oder formalen politischen Institutionen.[3] Nach dem kanadischen Professor Harold Barclay muss der Anarchismus als eigenständige Perspektive bzw. die Gentilstruktur, die wir auf dem gesamten Planeten auf allen Kontinenten in abgewandelter Form wiederfinden,[4][5] bereits lange zuvor schon in der Altsteinzeit entstanden sein, bevor der Mensch aus Afrika in alle Welt emigrierte; nur so lassen sich die universalen anarchen Strukturen weltweit, die Kriege und Privilegientum weniger verhinderten und gerade damit faktisch unmöglich machten, erklären. So lebten die Menschen den größten Teil ihres Daseins seit Jahrtausenden in vollständig autonomen und absolut autarken selbstverwalteten Gesellschaften, ohne je eine institutionalisierte Regierung oder politische Klasse zu benötigen.

Das Aufkommen des Staates ist regional sehr unterschiedlich, so begannen die frühesten Staatsbildungen in Mesopotamien bereits im 4. Jahrtausend v. Chr. in Form von Stadtstaaten, wonach die Stadt Eridu den sumerischen Königslisten nach angeblich die älteste aller Städte sein soll, während für die meisten afrikanischen und amerikanischen Regionen die Staatsbildungen erst mit den Entdeckungsfahrten und Eroberungen der europäischen Seefahrer einsetzten, für manche Regionen Afrikas jedoch gar erst im 19. Jh. mittels des Kolonialismus und Imperialismus der europäischen Mächte einsetzte.[4]

Erst vor etwa 6000 Jahren, um die Zeit der so genannten Anfänge der Zivilisation, begannen die ersten Gesellschaften mit formalen Strukturen, Gestalt anzunehmen. Hierarchie, Führungs- und Gehorsams-Ideologien begannen sich in einigen Regionen durchzusetzen. Zunächst waren diese hierarchischen Gesellschaften relativ selten und isoliert in erster Linie auf den Nahen Osten des heutigen Asiens und später auch auf den Mittleren Osten beschränkt. Langsam stiegen sie an Größe und an Einfluss, manchmal eroberten sie die umliegenden weiterhin anarchischen Stammesgesellschaften, in denen die meisten Menschen weiterlebten, womit diese dann der Herrschaft eines Staates unterworfen wurden, meist geschah dies in Form von Sklaverei.[4]

Manchmal unabhängig davon als Reaktion des Drucks von außen, entwickelten andere Stammesgesellschaften auch hierarchische Erscheinungsformen, soziale und politische Organisation. Dennoch, bis zur Ära der europäischen Kolonisation, blieb ein Großteil der Erde weltweit im Wesentlichen anarchisch organisiert, mit den unterschiedlichsten Kulturen der Menschen in den verschiedensten Teilen der Welt, weiterhin ohne formale Institutionen der Regierung teilweise für einige Regionen noch bis ins 19. Jahrhundert hinein. Erst im 20. Jahrhundert, als der Globus endgültig aufgeteilt wurde zwischen den europäischen Kolonialmächten, beanspruchten diese staatlichen Modelle politischer Organisation den gesamten Planeten für sich, welche fast ausschließlich von den europäischen Mächten unter sich aufgeteilt wurden (siehe Berliner Kongokonferenz 1884–1885).[6] Über diese vorgeschichtliche Entstehung der ersten einheitlich verfassten politischen Gemeinwesen gibt es verschiedene historische Theorien, die oft mit der Legitimation einer aktuellen Staatsform verbunden sind.

Unterwerfungstheorie

Hauptartikel: Unterwerfungstheorie

Die Unterwerfungstheorie geht davon aus, dass der Staat in einem Prozess der Unterwerfung friedlicher Bauernvölker durch kriegerische Hirtenvölker entstanden ist: Einer anfänglichen Phase ungeordneter Plünderungen folge eine Institutionalisierung der Abgaben der Unterworfenen, aus der sich in weiteren Phasen die Staatlichkeit entwickelt habe. Dies ist laut Uwe Wesel eine der ethnologisch am besten gesicherten Erkenntnisse.[1]

Weitere Theorien

Damit ist die erste Phase der Staatsentstehung durch die Unterwerfungstheorie nachgezeichnet. Daneben gibt es eine Reihe von Theorien, die die Staatsentstehung auf endogene Ursachen (→ Sozialer Wandel) stützen wollen.

Zu nennen ist insbesondere die materialistische Theorie Friedrich Engels’: Danach beginnen Bauern durch Produktionsfortschritte einen Überschuss zu erwirtschaften. Der Handel mit diesem Überfluss ermögliche den Übergang von der Subsistenzwirtschaft zur Warenwirtschaft. Durch den Handel mit dem Überfluss eigneten sich die Besitzenden immer mehr Besitz an. Bald bildeten sich zwei Klassen von Menschen: Die Besitzenden auf der einen und die weiterhin von ihrer Arbeit lebenden auf der anderen Seite. Nunmehr nutzten die Besitzenden ihre Mittel zum Ausbau einer militärischen Organisation, die ihnen zur Sicherung ihrer Position dienen sollte: dem Staat.[5]

Nach der Patriarchaltheorie ist staatliche Herrschaft eine Art Weiterentwicklung der männlichen Gewalt in der Familie: Die Macht der Männer über die Frauen greife auf andere Bereiche des Soziallebens über und führe so zu einer dauerhaften Etablierung von Machtstrukturen, die schließlich in ein Gewaltmonopol des Stärksten münden.

Nach der Patrimonialtheorie gründet staatliche Herrschaft in privatem Eigentum an Grund und Boden. Der Grundeigentümer habe sich schließlich das Gewaltmonopol über die auf seinem Land Ansässigen verschafft. In der „AktientheorieJustus Mösers wurde dieser Ansatz dahingehend erweitert, dass die Entstehung des Staates aus dem Zusammenschluss von Grundbesitzern zu erklären ist, die zum Zwecke des gemeinsamen Schutzes und der Bewirtschaftung ihrer Güter eine Gemeinschaft bilden und fortan über die Besitzlosen herrschen.

Die Vertragstheorie (im realhistorischen Sinn, nicht im Sinne der idealistischen Vertragstheorie) geht davon aus, dass staatliche Herrschaft aufgrund eines freiwilligen Vertrags entstanden sei, um bestimmte gesellschaftliche Probleme (Ressourcenknappheit; Verwaltung öffentlicher Anlagen zur Wasserbewirtschaftung) zentral zu lösen.

Die „Theorie der natürlichen Grenzen“ sieht die Ursachen der Staatsentstehung in der Kombination von Bevölkerungswachstum und dem Fehlen von unmittelbar anschließendem Siedlungsraum (→ Politische Geographie). Sei das Gebiet durch Berge, Wüste oder Meer räumlich abgeschlossen, folge dem Bevölkerungswachstum Streit und Krieg um das Land, der zur Unterwerfung einzelner Dörfer oder Stämme führe.

Zweite Phase der Staatsentstehung: Der weitere Prozess der Verstaatlichung

Während der erste Schritt der Staatsentstehung als gut belegt gilt, ist der weitere Prozess der Entwicklung staatlicher Herrschaft stark umstritten.

Einigkeit besteht, dass die gewaltsame Eroberung für sich genommen noch keinen Staat erzeugt; hinzu kommen muss die Stabilisierung der Herrschaftsverhältnisse.[7] Genau darin, also wie die manifeste Gewalt in eine strukturelle, latente übergegangen ist, liegt das Hauptproblem der Staatsentstehungslehre.[8][9]

Einige Theorien, unter anderem die Unterwerfungstheorie, gehen von einer (zumindest stillschweigenden und partiellen) Anerkennung der Herrschaft aus.

Sekundäre Staatsentstehung

Robert L. Carneiro unterscheidet zwischen den (seines Erachtens: sechs) ursprünglich entstandenen Staaten („primäre Staaten“), und (allen anderen) durch Kontakt mit diesen entstandenen Staaten („sekundäre Staaten“).

Ungeachtet der Details ist seine Unterscheidung zwischen primärer und sekundärer Staatsentstehung zum anthropologischen Gemeingut geworden.[10]

Siehe auch

Literatur

Allgemein
Speziell
  • Dominik Nagl: No Part of the Mother Country, but Distinct Dominions – Rechtstransfer, Staatsbildung und Governance in England, Massachusetts und South Carolina, 1630–1769. Lit Verlag, Berlin 2013, ISBN 978-3-643-11817-2 (Rezension; Volltext).

Einzelnachweise

  1. 1,0 1,1 Uwe Wesel, Geschichte des Rechts, Rn 32.
  2. Vgl. Lawrence H. Keely, War before Civilization, Oxford University Press, 1996.
  3. Robert Graham: Anarchismus: ein Dokumentarfilm. Geschichte der Libertarian Ideen: von Anarchie zu Anarchismus, S. XI–XV, Montreal: Black Rose Books 2005, ISBN 1-55164-250-6 (Zugriff am 11. August 2010)
  4. 4,0 4,1 4,2 Harold Barclay: Völker ohne Regierung: eine Anthropologie des Anarchismus, Kahn & Averill, London 1982.
  5. 5,0 5,1 Friedrich Engels: Vom Ursprung des Staats, des Privateigentums und der Familie.
  6. David Graeber, Frei von Herrschaft: Fragmente einer anarchistischen Anthropologie, Peter Hammer Verlag, Wuppertal 2008.
  7. Hans Peter Drexler, Metamorphosen der Macht – die Entstehung von Herrschaft, Klassen und Staat, S. 16 f.
  8. Hans Peter Drexler, Metamorphosen der Macht – die Entstehung von Herrschaft, Klassen und Staat, S. 16 f.
  9. Michael Schmid, Zur Evolution von Regeln. Einige modelltheoretische Überlegungen, S. 124 f. (PDF (Memento vom 1. Februar 2012 im Internet Archive))
  10. Vgl. beispielsweise Jean-François Millaire, Primary State Formation in the Virú Valley, North Coast of Peru. Proceedings of the National Academy of Sciences. Vol. 107 Issue 14 vom 6. April 2010, S. 6186–6191; Henry T. Wright, Recent Research on the Origin of the State, Annual Review of Anthropology, 1977, S. 379–397.
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