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Pauperismus

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Mit Pauperismus (lat. pauper „arm“) bezeichnet man die strukturell bedingte, längerfristige Armut weiter Teile der Bevölkerung zur Zeit der Frühindustrialisierung, besonders etwa die Situation in Deutschland am Übergang zwischen Ständegesellschaft und Industriegesellschaft: in etwa der ersten Hälfte des „langen 19. Jahrhunderts“. Es handelt sich bei dem Begriff auch um eine zeitgenössische Bezeichnung.[1]

Die Entstehung dieser Massenarmut ist nicht monokausal zu erklären. Vielmehr gibt es eine Vielzahl von Faktoren, die schließlich dazu führen, dass eine breite Bevölkerungsschicht nicht mehr in der Lage war, für das eigene Auskommen zu sorgen. Mit dieser elenden Situation gingen gesellschaftliche Auflösungserscheinungen wie Unruhen, Epidemien und Verwahrlosung unter den Betroffenen einher (→ Soziale Frage).[2][3]

Das vorindustrielle Bevölkerungswachstum

Ab etwa 1750 nahm in Deutschland die Bevölkerung rapide zu; von etwa 16–18 auf 22–24 Millionen Menschen im Jahre 1800. Dabei vermehrte sich besonders die ländliche Unterschicht. Möglich geworden war das Bevölkerungswachstum durch eine Erweiterung des Nahrungsspielraumes, durch Ausbau der Anbauflächen und verbesserte Bewirtschaftungsmethoden in der Landwirtschaft. Insbesondere die Einführung der Kartoffel hat die Grundversorgung der ländlichen Massen erst ermöglicht; sie stellte im Vergleich zum Getreide bei gleicher Anbaufläche die 3,6-fache Nahrungsenergie zur Verfügung. Weiterhin wurden neue Arbeitsplätze und damit Existenzmöglichkeiten geschaffen, vor allem in der Hausindustrie. Auch fielen grundherrschaftliche Bindungen und damit Heiratsbeschränkungen weg. Die in Teilen Deutschlands herrschende Erbpraxis der Realteilung, bei welcher der vorhandene Besitz gleichmäßig auf die männlichen Erben verteilt wurde, ermöglichte allen Söhnen eine Lebensgrundlage, wenngleich auf niedrigerem Niveau. Es fanden also mehr und mehr Menschen für sich und ihre Familie ein Auskommen (allerdings oft nur an der Grenze zum Existenzminimum), die Sterblichkeitsrate sank. Im 19. Jahrhundert weitete sich dieses Wachstum zu einer regelrechten Bevölkerungsexplosion aus.

Das Bevölkerungswachstum hatte gewaltige soziale Konsequenzen, da zunächst die Produktivität der Wirtschaft mit den gestiegenen Anforderungen nicht mithalten konnte. Viele Menschen suchten ihr Auskommen nun im Gewerbe, besonders in Hausindustrie und Handwerk.

Die Entstehung der Lohnarbeiterschaft

Mit der Entwicklung der Hausindustrie ab dem Spätmittelalter waren in manchen Gegenden bedeutende Bevölkerungsschichten faktisch zu abhängigen Lohnarbeitern geworden: Ein Verleger belieferte die Produzenten an ihrem Wohnort mit Rohstoffen und nahm das fertige Produkt wieder ab. Auf Grund der stark arbeitsteiligen Produktion waren die erforderlichen Arbeitsgänge schnell zu erlernen; damit waren die Arbeiter leicht ersetzbar. Die Überbesetzung erzeugte Preisdruck, den die Heimarbeiter durch Mehrarbeit auszugleichen suchten, dadurch verschärften sie die Situation immer mehr.

Als weiteren ländlichen Gewerbezweig, in dem Lohnarbeiter tätig waren, gab es die Manufaktur. Dies war ein meist zentralisierter Großbetrieb, in dem unselbstständige Handwerker, oft auch Insassen von Zwangsanstalten, beschäftigt wurden.

Mit der Bauernbefreiung wurden auch aus den vormals in der Grundherrschaft oft eigenständig wirtschaftenden Bauern lohnabhängige Landarbeiter: Zwar waren sie nun rechtlich frei, die Freiheit allerdings mussten sie sich vom Grundherren erst teuer erkaufen. Dies zwang viele, sich dem Herren anschließend als Lohnarbeiter anzubieten. Gerade in den ostelbischen Gebieten wurde dieser Prozess von den Gutsbesitzern aktiv vorangetrieben, da sie an einer Landarbeiterschicht, die es im Gegensatz zu den gutsabhängigen Bauern nicht zu versorgen galt, starkes Interesse hatten.

Auch in den Städten entstanden viele Lohnarbeitergruppen, so in den neu entstehenden Fabriken. Die Lockerung der Zunftschranken und die Überbesetzung des Handwerks hatten außerdem zur Folge, dass viele Handwerker ebenfalls nur noch als Lohnarbeiter Beschäftigung fanden.[4] Außerdem standen sie nun in Konkurrenz mit industrieller und heimgewerblicher Produktion.

All diese genannten Lohnarbeitergruppen waren dem traditionellen Sicherungssystem, beispielsweise in Grundherrschaft oder Zunft, entzogen. Sie waren leicht ersetzbar und hatten außer ihrer Arbeitskraft keine Möglichkeit der Existenzsicherung. Damit war ihre Existenzgrundlage konjunkturellen Krisen und Missbrauch/Ausnutzung gegenüber äußerst anfällig.

Erklärungsversuche

Entstehung eines Begriffs

Die Begriffe Pauper und Pauperismus erscheinen in der englischen Sprache zu Beginn des 19. Jahrhunderts, womit eine neue Form der Armut bezeichnet wurde: nicht eine individualisierte Armut oder eine solche, die mit außerordentlichen Umständen wie z. B. schlechten klimatischen Bedingungen gekoppelt ist, sondern eine Massenarmut, die, wie es scheint, mit der Entwicklung der Industrialisierung und des Reichtums unvermeidbar gekoppelt ist. Ein französischer Betrachter gebraucht folgende entlarvende Formulierung: ´Der Pauperismus ist, will man ihn durch ein einziges Wort definieren, die Epidemie der Armut´ (Émile Laurent, 1865).

In seinem großen Werk ´De la misère des classes laborieuses en Angleterre et en France´ (1840) behauptet Eugène Buret, dass ´der aus England entliehene Ausdruck des Pauperismus die Gesamtheit aller Phänomene der Armut umfasst. Dieses englische Wort soll für uns Elend im Sinne von gesellschaftlicher Plage, öffentliches Elend bedeuten.´

Die von der Académie des sciences morales et politiques gestellte Preisfrage nach den Ursachen der Armut wurde von Pierre-Joseph Proudhon aufgegriffen und in den Titel gesetzt von seinem Système des contradictions économiques ou Philosophie de la misère (1846).

Das Wort „Pauperismus“ ist allmählich außer Gebrauch geraten.[5]

Friedrich Engels

Friedrich Engels machte in seiner Studie über die Situation der englischen Fabrikarbeiterschaft die frühe Industrialisierung mit der Umstellung von Handarbeit auf Maschinen für die Massenarmut verantwortlich. Sie mag lediglich dazu dienen, den Kontrast zum Elend des Industrieproletariats zu verschärfen, um die politischen Forderungen Engels' zu unterstützen. Tatsächlich bemerkten bereits Zeitgenossen, dass die Industrie Armut nicht nur erzeuge, wie Engels behauptete, sondern sie auch anzog. Der Pauperismus wirkte sich eben dort am schlimmsten aus, wo keine Industrie vorhanden war, so bei den schlesischen Webern, die auf Grund veralteter Produktionsmethoden (Heimarbeit) der industriellen Konkurrenz nicht mehr gewachsen waren.

Wilhelm Abel

Eine ganz andere These als Engels brachte später der Agrarhistoriker Wilhelm Abel vor. Seiner Ansicht nach war der Pauperismus lediglich der Ausläufer der alten vorindustriellen Armut, verschärft durch das schnelle Bevölkerungswachstum bei noch geringem Produktivitätszuwachs. Im Gegensatz zu Engels sah er die Industrialisierung als Rettung aus der Pauperismuskrise.

Pauperismus als Folge der preußischen Reformen

Weiterhin existiert noch die Überlegung, dass der Pauperismus die Folge der preußischen Reformen sei, welche Heiratsbeschränkungen aufhoben und Freizügigkeit gestatteten. Dies habe Bevölkerungsdruck erzeugt und die Kleinbauern in das Landarbeiterproletariat herabgedrückt.[6]

Pauperismus und Revolte

Auch wenn die Geschichte der Arbeiterbewegung meist erst mit den ersten Organisationsgründungen in den 1830er Jahren angesetzt wird, sehen einige Historiker wie Ahlrich Meyer in den Strategien der Bevölkerung gegen den Pauperismus eine Wurzel nicht nur des Proletariats, sondern auch der Arbeiterbewegung. Diese Strategien umfassten Aneignungen, die oft erst im Nachhinein zu "Diebstählen" umdefiniert wurden - wie etwa das Holzssammeln in Herrschaftlichen Wäldern. Aber auch Unruhen und erste Streiks gehörten zur Gegenwehr der Pauper. Sie wehrten sich damit einerseits gegen existenzielle Not und Hunger, andererseits auch gegen den vorher unbekannten Zwang zur kapitalistischen Fabrikdisziplin, der durch Institutionen wie Arbeitshäuser anfang des 19. Jahrhunderts auch staatlich durchgesetzt wurde.[7]

Pauperismus als Folge verschiedener Entwicklungen

Heute ist man sich in der Forschung weitgehend einig, dass es für den Pauperismus keine monokausale Erklärung gibt. Vielmehr war es das schnelle Bevölkerungswachstum bei stagnierendem Produktivitätszuwachs, welches einen bedeutenden Teil der Bevölkerung am Existenzminimum leben ließ. Als sich dann eine Agrarkrise mit Missernten (Getreide, Kartoffeln) mit der ersten neuartigen gesamtwirtschaftlichen Rezession verband, entstand die eigentliche Pauperismuskrise. Ursächlich war demnach also das Zusammentreffen von Krisenerscheinungen alten, vorindustriellen Stils und solcher der gerade aufkommenden Industrialisierung - die Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen.

Religiöser Pauperismus im Mittelalter

Ende des 12. Jahrhunderts entstanden in Europa als Protest gegen den zunehmenden Reichtum der Kirche auch "freiwillige" Armutsbewegungen. Die Idee, die hinter diesen Bewegungen steht, wird ebenfalls Pauperismus genannt, meint jedoch in diesem Falle eine politische Idee und nicht ein soziologisches Phänomen. Der mittelalterliche Pauperismus sah in der Armut des Jesus Christus ein erstrebenswertes Ideal. Durch Verzicht auf persönlichen Reichtum wollten die Anhänger dieser Bewegungen ihrem Jesus auf ganz besondere Weise nahe sein. Sie provozierten durch ihren Lebensstil viele Mächtige in der Kirche und wurden deshalb bisweilen blutig verfolgt (Albingenser, Katharer, Waldenser). Als bekanntester Vertreter des Pauperismus gilt Franz von Assisi.[8]

Literatur

  • Richard Albrecht, Pauper(ismus). Zur Geschichte und Aktualität eines Zentralaspekts von ´Neuer Armut´ und ´Arbeitenden Armen´; in: JahrBuch für Forschungen zur Geschichte der Arbeiterbewegung, 6 (2007) 2, S. 19-32 (kostenlose erweiterte Netzversion 2008)
  • Karl Bosl: Potens und Pauper. Begriffsgeschichtliche Studien zur gesellschaftlichen Differenzierung im frühen Mittelalter und zum „Pauperismus“ des Hochmittelalters, in: Frühformen der Gesellschaft im mittelalterlichen Europa, München 1964, S. 106-134
  • Wolfram Fischer: Armut in der Geschichte. Erscheinungsformen und Lösungsversuche der „Sozialen Frage“ in Europa seit dem Mittelalter. Vandenhoeck & Ruprecht Göttingen 1982, ISBN 3-525-33465-6
  • Ralf Hoffrogge: Sozialismus und Arbeiterbewegung in Deutschland - Von den Anfängen bis 1914, Stuttgart 2011.
  • Christine Müller, Der gescheiterte Kleinbürger : Unters. zur Literarisierung e. regressiven Utopie ; Pauperismus u. Proletariat in d. sozialkrit. Publizistik, Prosa u. Lyrik zwischen 1844 u. 1848, Köln : Pahl-Rugenstein, 1981.
  • Ahlrich Meyer: Die Logik der Revolten - Studien zur Sozialgeschichte 1789-1848, Berlin/Hamburg 1999.
  • Thomas Nipperdey: Deutsche Geschichte 1800-1866. Bürgerwelt und starker Staat. Beck, München 1998, ISBN 3-406-44038-X
  • Karl Polanyi: The Great Transformation, Frankfurt am Main: Suhrkamp, 1978, ISBN 3-518-27860-6 -
  • Christoph Sachße, Florian Tennstedt: Geschichte der Armenfürsorge in Deutschland. Kohlhammer, Stuttgart 1998, Band 1: Vom Spätmittelalter bis zum 1. Weltkrieg, ISBN 3-17-015290-4
  • Johannes Schilling, Susanne Zeller: Soziale Arbeit - Geschichte, Theorie, Profession. Studienbuch für soziale Berufe , 2007, ISBN 978-3-8252-8304-9.
  • Georg Büchner: 'Woyzeck' Ein Dramenfragment Büchners, in welchem der Pauperismus kritisiert wird

Siehe auch

Weblinks

 Wikisource: Themenseite Armut – Quellen und Volltexte
Wiktionary: Pauperismus – Bedeutungserklärungen, Wortherkunft, Synonyme, Übersetzungen

Quellen

  1. Friedrich Harkort über die Soziale Frage
  2. Der Pauperismus und dessen Bekämpfung durch eine bessere Regelung der Arbeitsverhältnisse, Deutsche Vierteljahresschrift 1844, H. 3, S. 315 ff.
  3. Ursachen der „Wirtschaftskrise“: z.B. sog. „Bauernbefreiung“, Aufhebung der napoleonischen Kontinentalsperre, u.Ä.
  4. Ralf Hoffrogge, Sozialismus und Arbeiterbewegung in Deutschland - von den Anfängen bis 1914, Stuttgart 2011, S. 29ff
  5. Wörterbuch der Sozialpolitik
  6. Ahlrich Meyer: Die Logik der Revolten - Studien zur Sozialgeschichte 1789-1848, Berlin/Hamburg 1999, S. 108.
  7. Ahlrich Meyer: Die Logik der Revolten - Studien zur Sozialgeschichte 1789-1848, Berlin/Hamburg 1999.
  8. www.30giorni.it
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