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Emil Roosen

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Emil Roosen (2019)

Emil Roosen (19262020), Holocaustüberlebender

Leben

gemäss einem Artikel in der NZZ am 29. Dezember 2020, von Marc Tribelhorn und Simon Hehli:

Emil Roosen verlor im Holocaust alles – nur nicht seinen Glauben

Er wuchs orthodox auf, versuchte vor den Nazis zu fliehen und landete im KZ Bergen-Belsen. Selbst in Lagerhaft befolgte Emil Roosen die strengen religiösen Regeln – hinter dem Rücken der SS-Schergen.

Als sich die Alliierten dem Konzentrationslager Bergen-Belsen nähern, erfährt Emil Roosen ein letztes Mal die Bestialität der Nazis. Der 18-Jährige wird am 11. April 1945 zusammen mit 2500 anderen jüdischen Häftlingen in Güterwagen gepfercht und deportiert – in Richtung KZ Theresienstadt. Doch dort trifft er nie ein. Die Irrfahrt durch noch unbesetzte Gebiete des «Dritten Reichs» dauert zwölf Tage, katastrophal versorgt und ohne sanitarische Einrichtungen. Der Räumungstransport geht als der «verlorene Zug» in die Geschichte ein. Vor einer gesprengten Eisenbahnbrücke im brandenburgischen Tröbitz endet er. Sowjetische Truppen entdecken den Zug und befreien die noch lebenden Insassen aus den verriegelten Waggons.

Für Emil Roosen ist es die Rettung. Er wiegt kaum noch 30 Kilogramm, kann nicht mehr laufen und wird in ein Notspital gebracht. Seine Mutter, die mit ihm im Zug war, stirbt zwei Wochen später an Typhus. Sein Vater, einst ein kräftiger Mann, wurde in Bergen-Belsen zu Tode geschunden, seine Schwester und deren kleine Tochter in Auschwitz ermordet.

Doch seinen Glauben hat der streng orthodoxe Jude während des Holocaust nicht verloren – nicht wie viele andere Überlebende, die angesichts der Vernichtung von sechs Millionen Juden fragten: Wo war Gott? Wie konnte er das zulassen?

75 Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs treffen wir Emil Roosen in einem jüdischen Alters- und Pflegeheim in Zürich. Der 94-Jährige ist geschwächt von einer Lungenentzündung und sitzt im Rollstuhl, doch das Gespräch ist ihm wichtig. «Damit nicht vergessen geht, was damals geschah!», wie er mehrfach sagt. Mitgebracht hat er Fotos seiner Kinder, Enkel und Urenkel sowie einen Orden der niederländischen Königin – beides Zeichen seines Glücks in der Nachkriegszeit. Es wird unsere einzige Begegnung mit Roosen sein. Wenige Wochen später verstirbt er, 94-jährig. Seine eindrückliche Lebensgeschichte bleibt.

Emil Roosen wird 1926 in Krefeld bei Düsseldorf geboren. Der Vater ist Textilfabrikant, die Familie lebt streng orthodox, zu Hause haben sie eine eigene kleine Synagoge. Als Kind besucht Emil eine jüdische Schule und bekommt zunächst wenig mit vom Unheil, das sich unter Hitler zusammenbraut. Als die antisemitischen Übergriffe immer schlimmer werden, flieht die Familie 1938 in die niederländische Grenzstadt Venlo, später nach Amsterdam. Weiter weg, nach Grossbritannien oder in die USA, will der Vater nicht, die Verwandtschaft soll zusammenbleiben. Die Neutralität der Niederlande ist indes eine trügerische Sicherheit. 1940 überrennen deutsche Truppen das Land.

«Die ersten zwei Jahre hat man noch wenig von der Besetzung gemerkt, auch als Jude nicht», erzählt Roosen später in einem Interview mit dem Dokumentationszentrum Bergen-Belsen. Doch ab 1942 dürfen Juden auch in den Niederlanden nicht mehr arbeiten und müssen den gelben Stern tragen. Emils Vater richtet 1943 vorsorglich ein Versteck in einem Büro ein, die Wertsachen, darunter Schmuck und eine Thorarolle, übergibt er den nichtjüdischen Nachbarn, die sie im Garten vergraben. Das Versteck kann die Familie aber nicht mehr beziehen. Sie wird von der niederländischen Polizei verhaftet und von den Nazis ins Durchgangslager Westerbork gesteckt.

Jeden Dienstag fährt von dort ein Zug «nach Osten», nach Auschwitz. Dass Roosen diesem Schicksal entgeht, verdankt er den gefälschten Papieren, die der Vater mit viel Geld besorgt hat – ob es Pässe aus Argentinien oder Uruguay waren, weiss Emil Roosen später nicht mehr. Im Januar 1944 wird die Familie nach Bergen-Belsen verlegt. Es ist das vermeintlich kleinere Übel. Denn Bergen-Belsen ist kein Vernichtungslager und zunächst auch kein typisches Konzentrationslager. Es sind dort Juden festgehalten, welche die Nazis mit den Alliierten gegen deutsche Kriegsgefangene, Devisen oder Waren austauschen wollen, sogenannte Austauschhäftlinge. Roosen hört davon, dass vereinzelt Transporte freigelassener Juden nach Palästina losfahren, nach Nordafrika, in die Schweiz. Er und seine Familie sind nie unter ihnen.

Die Bedingungen sind anfangs noch besser als in anderen KZ, Familien können zusammenbleiben. Aber die Häftlinge werden auch hier scharf bewacht, müssen Zwangsarbeit verrichten, sind der Willkür ihrer Aufseher ausgeliefert. «Die Deutschen entschieden, was wir zu tun und zu lassen hatten. Stundenlang standen wir beim Appell draussen – bei jedem Wetter. Essen gab es kaum. Das war das Schlimmste», erinnert sich Roosen. Der Tod ist im immer stärker überfüllten KZ allgegenwärtig. Allein zwischen Januar und April 1945 sterben dort mehr als 35 000 Häftlinge wegen Hunger, Seuchen, Erschöpfung.

Für strenggläubige Juden wie Roosen kommt noch etwas hinzu: Sobald sie im KZ ankommen, sind sie in ihrer religiösen Praxis stark eingeschränkt. Sie werden gezwungen, am Schabbat und an jüdischen Feiertagen zu arbeiten, dürfen nicht zur vorgeschriebenen Zeit beten und die Speisegesetze nicht einhalten. Wer kann es sich schon erlauben, koscher zu essen oder gar zu fasten, wenn es ums nackte Überleben geht?

Der Holocaust-Überlebende Elie Wiesel, der in Auschwitz und Buchenwald war, schreibt: «Im Lager habe ich weder die Kraft noch die Zeit, mich in theologische Betrachtungen zu versenken oder metaphysische Spekulationen über das Leben des Herrn der Welt anzustellen. Wird die Tagesration Brot einen Zentimeter dicker oder dünner sein? Wird es Margarine oder Marmelade dazu geben? Alles dreht sich um diese Fragen. Die Angst vor Schlägen ist grösser als die Furcht vor himmlischer Strafe.»

Emil Roosen setzt trotzdem alles daran, die religiöse Praxis einzuhalten. Auch wenn laut jüdischer Tradition die Gebote der Thora nicht mehr befolgt werden müssen, wenn Leben oder Gesundheit gefährdet sind. Ihm gibt die Religion Halt und Kraft: Sie ist ein Akt der jüdischen Selbstbehauptung im KZ. Roosen wird dem Schuhkommando zugeteilt. Er muss die Stiefel gefallener Soldaten zerlegen; aus dem zurückgewonnenen Leder werden Kinderschuhe produziert. «Am Schabbat habe ich aber nie etwas gemacht», erzählt er im Gespräch. Er sei jeweils mit der Leiter auf die riesigen Berge aus Stiefeln gestiegen. Dort sei er, von den Blicken der Aufseher verborgen, liegen geblieben, bis der Schabbat vorbei gewesen sei. Noch eine andere List habe er angewandt, um das Arbeitsverbot an Schabbat einzuhalten, erinnert sich Roosen: Er habe gesagt, er müsse mit der Schubkarre im Wald Holz holen. Ausser Sichtweite habe er sich auf den Boden gesetzt und die Zeit untätig verstreichen lassen. Wenn SS-Männer vorbeigekommen seien, habe er gesagt: «Ich warte noch, bis die Schubkarre voll ist.»

Auch sonst versuchen Roosen und andere Gläubige, die wenigen Freiräume in Bergen-Belsen zu nutzen, um die strengen religiösen Gebote irgendwie zu befolgen. An Jom Kippur fasten sie, obwohl sie schon Hunger leiden. Für das Pessachfest gelingt es ihnen sogar, ein bisschen Mehl aufzutreiben, um heimlich eine kleine Matze zu backen, den traditionellen ungesäuerten Brotfladen. Die Gebetsriemen halten sie versteckt und ziehen sie frühmorgens kurz an, ohne dass die SS-Aufseher es bemerken. Solche Formen der jüdischen Religionsausübung sind auch für andere KZ überliefert und werden vom Historiker Thomas Rahe im Buch «Höre Israel» beschrieben. Es handelt sich aber um ein seltenes Phänomen. Meist ist eine religiöse Praxis im Zwangsregime unmöglich, schon gar nicht in den Vernichtungslagern.

Nach seiner Befreiung steht Emil Roosen allein da. Seine nächsten Verwandten sind alle tot oder verschollen. Er kehrt nach Amsterdam zurück, wo ihm seine früheren Nachbarn die Habseligkeiten der Familie zurückgeben. Nur die Thorarolle ist wegen der Feuchtigkeit im Versteck unleserlich geworden. Roosens Plan, nach Brasilien zu einer Tante auszuwandern, zerschlägt sich. Doch ein Cousin seines Vaters hat überlebt und bietet ihm eine Stelle in einer Firma für Metallrecycling an. Im Unternehmen, das er später leiten wird, findet er nicht nur grossen beruflichen Erfolg, der ihm sogar die Auszeichnung der niederländischen Königin einbringen wird. Er trifft dort auch auf eine Sekretärin, die zu seiner Ehefrau wird – eine Überlebende, die im Holocaust ebenfalls die ganze Familie verloren hat. Ihre drei Kinder, die sehr religiös erzogen werden, wachsen unbeschwert auf und ahnen lange nicht, was die Eltern im Krieg durchgemacht haben. «Wir haben nicht viel darüber gesprochen», sagt Roosen später. «Man will sie ja nicht belästigen mit den Greueltaten, die man erlebt hat.»

Lange nicht jeder Orthodoxe, der den Holocaust überlebte, ist dem Glauben treu geblieben. Und nicht jeder, der dennoch religiös blieb, war später bereit, über den Schrecken zu erzählen. Das hat auch Anita Winter beobachtet. Sie kümmert sich mit der von ihr gegründeten Stiftung Gamaraal seit Jahren um Holocaust-Überlebende, die in der Schweiz leben, und kennt deshalb viele ihrer Biografien. Sie hat eine These, weshalb gerade auch in religiösen Familien das Geschehene nur selten thematisiert werde: Viele Überlebenden glaubten, dass ihre Kinder und Enkel den Schrecken nicht verstünden. «Es geht um die Sorge, dass die Nachkommen Gott infrage stellen oder sogar ganz vom Glauben abfallen könnten, wenn sie Erlebnisse aus dem KZ hören.»

Roosens jüngste Tochter, die in Zürich lebt, deutet das Verhalten ihrer Eltern indes anders: «Viele Erinnerungen waren einfach zu belastend. Die Frage, weshalb Gott das zugelassen habe, stellten wir in der Familie nie. Es musste wohl sein, wie es war. Wir kennen die Gründe von Gott nicht. Warum gibt es jetzt eine Corona-Pandemie?»

Die letzten zehn Jahre seines Lebens verbringt Emil Roosen in der Schweiz, in der Nähe seiner Tochter. Was ihm hierzulande aufgefallen ist: Wie wenig die Schweizerinnen und Schweizer über den Holocaust wissen. Wie oft er gefragt worden ist, ob er davon erzählen könne. Nach Bergen-Belsen ist er nur anlässlich eines Gedenktags zurückgekehrt: «Ich bin froh, dass ich dort nichts mehr zu tun hatte.» Für eine Dokumentation von Steven Spielberg gibt Roosen einmal als Zeitzeuge Auskunft. Sein grösster Stolz ist bis zuletzt die Familie, die der Holocaust-Überlebende gegründet hat: 3 Kinder, 27 Enkel, über 50 Urenkel – alle sehr gläubig.