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Der Schimmelreiter

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Theodor Storm
Titelblatt der Erstausgabe 1888

Der Schimmelreiter ist eine Novelle von Theodor Storm aus der Literaturepoche des Realismus. Das im April 1888 veröffentlichte Werk ist Storms bekannteste Erzählung und zählt zu seinem Spätwerk.

Die Novelle, in deren Zentrum der fiktive Deichgraf Hauke Haien steht, basiert auf einer Sage, mit der Storm sich über Jahrzehnte befasste. Mit der Niederschrift der Novelle begann er jedoch erst im Juli 1886 und beendete seine Arbeit daran im Februar 1888, wenige Monate vor seinem Tod. Die Novelle erschien das erste Mal im April 1888 in der Zeitschrift Deutsche Rundschau, Bd. 55.[1]

Inhalt

Franz Karl Basler-Kopp (1879–1937): Der Schimmelreiter
Jens Rusch: „Dein neuer Koog ist ein fressend Werk.“ – Zitat aus dem Schimmelreiter (Mischtechnik 1989)

In der Novelle Der Schimmelreiter geht es um die Lebensgeschichte von Hauke Haien, die der Schulmeister eines Dorfes einem Reiter in einem Wirtshaus erzählt. Die Deiche in Nordfriesland, Handlungsort der Geschichte, spielen in Haukes Leben eine bedeutende Rolle. Am Ende stirbt Hauke mitsamt seiner Frau und seinem Kind einen tragischen Tod.

Hauke Haien, der Sohn eines Landvermessers und Kleinbauern, setzt sich, anstatt sich mit Gleichaltrigen zu treffen, viel lieber mit der Arbeit seines Vaters auseinander. Er schaut dem Vater zu und hilft ihm beim Ausmessen und Berechnen von Landstücken. Er lernt mit Hilfe einer holländischen Grammatik Niederländisch, um eine niederländische Ausgabe von Euklids Werken lesen zu können, die der Vater besitzt. Fasziniert scheint er von der See und von den Deichen zu sein. Oft sitzt er bis in die tiefe Nacht am Deich und beobachtet, wie die Wellen an den Damm schlagen. Er überlegt, wie man den Schutz vor Sturmfluten verbessern könnte, indem man die Deiche zur See hin flacher anlegt.

Als der örtliche Deichgraf Tede Volkerts einen seiner Knechte entlässt, bewirbt sich Hauke um die Stelle und wird angenommen. Doch auch hier hilft er dem Deichgrafen mehr beim Rechnen und Planen als in den Ställen, was dem Deichgrafen zwar gut gefällt, ihn aber bei Ole Peters, dem Großknecht, unbeliebt macht. Da Hauke auch das Interesse von Elke, der Tochter des Deichgrafen, wecken kann, verschärft sich der Konflikt zwischen Hauke Haien und Ole Peters weiter.

Auf dem nordfriesischen Winterfest gewinnt Hauke das Boßeln und erfährt so erste gesellschaftliche Anerkennung. Danach beschließt er, Elke einen Ring anfertigen zu lassen und ihr auf einer Hochzeit von Verwandten einen Heiratsantrag zu machen. Doch Elke lehnt vorerst ab, da sie noch warten will, bis der Vater sein Amt aufgibt. Der Plan ist, dass Hauke, der das Amt inzwischen inoffiziell führt, durch die zur rechten Zeit angekündigte Hochzeit sich anschließend als Nachfolger bewerben soll.

Binnen kurzer Zeit versterben Haukes und Elkes Väter. Hauke erbt Haus und Land seines Vaters. Als es darum geht, die Stelle des Deichgrafen neu zu vergeben, keimt der Konflikt zwischen Hauke und Ole erneut auf. Traditionell kann nur Deichgraf werden, wer ausreichend Land sein Eigen nennt. Dies träfe auf Knecht Hauke nicht zu, weshalb einer der älteren Deichbevollmächtigten befördert werden soll. Gegenüber dem Oberdeichgrafen, der die Stelle des örtlichen Deichgrafen zu vergeben hat, ergreift Elke allerdings das Wort und erklärt, sie sei bereits mit Hauke verlobt und durch eine Hochzeit werde Hauke das Land ihres Vaters bekommen und damit genügend Grundbesitz aufweisen. So wird Hauke Deichgraf.

Unheimlich erscheint den Dorfbewohnern ihr Deichgraf durch sein Pferd: Einen edel aussehenden Schimmel, den er, krank und verkommen, einem zwielichtigen Durchreisenden abgekauft und aufgepäppelt hat. Der Schimmel soll, darin bestätigen sich die Einwohner gegenseitig, das wiederbelebte Pferdeskelett von der verlassenen Hallig Jeverssand sein, das mit dem Kauf des Schimmels verschwunden war. Oft wird das Tier mit dem Teufel in Verbindung gebracht und sogar als dieser selbst bezeichnet.

Hauke setzt nun die neue Deichform, die er als Kind bereits geplant hat, in die Tat um. Manche Leute sind dagegen. Doch Hauke setzt sich mit Zustimmung des Oberdeichgrafen durch. Vor einem Teil des alten Deiches lässt er einen neuen bauen, ein neuer Koog entsteht und somit mehr Ackerfläche für die Bauern. Als die Arbeiter einen Hund eingraben wollen, da es alter Brauch ist, etwas „Lebiges“ in den Deich einzubauen, rettet er diesen, und so sehen viele einen Fluch auf diesem Deich lasten. Ebenfalls auf Missmut stößt die Tatsache, dass Hauke Haien, teils durch Planung, teils durch Zufall, bereits große Landstücke in dem neuen Koog besitzt und daher selbst stark vom Deichbau profitiert.

Tagein, tagaus beobachtet er seinen Deich, indem er ihn mit seinem Schimmel abreitet. Der neue Deich hält den Stürmen stand, doch der alte Deich, der rechts und links des neuen Kooges weiterhin verläuft und dort die vorderste Front zur See darstellt, scheint marode und von Mäusen durchgraben. Angesichts der Beschwichtigung durch Ole Peters und der bereits maulenden Arbeiter führt Hauke an dem Deich keine umfassenden Baumaßnahmen durch, sondern beschränkt sich mit großen Gewissensbissen lediglich auf Flickwerk. Als Jahre später eine Jahrhundertsturmflut hereinbricht und der alte Deich zu brechen droht, will man auf Anordnung des Bevollmächtigten, Ole Peters, den von Hauke konstruierten neuen Deich durchstoßen, da jener sich damit erhofft, dass sich die Kraft des Wassers in den neuen, noch unbewohnten Koog ergießen und damit der alte Deich gerettet werde. Hauke stellt die Arbeiter kurz vor dem Durchstich zur Rede und verhindert die Vollendung dieser Arbeit, kurz darauf bricht der alte Deich endgültig. Als in jener Nacht auch Elke mitsamt ihrer gemeinsamen Tochter Wienke, die geistig behindert ist, aus Angst um Hauke in Richtung Deich hinausfährt, muss dieser mit ansehen, wie die durch den Deichbruch in den alten Koog schießenden Wassermassen Frau und Kind unter sich begraben. In seiner Verzweiflung stürzt er sich ebenso mitsamt seinem Pferd in die tosenden Wasser, die das Land überfluten, und ruft: „Herr Gott, nimm mich; verschon die andern!“

Damit endet die Erzählung des Schulmeisters. Er weist darauf hin, dass andere die Geschichte anders erzählen würden. So seien seinerzeit alle Einwohner des Dorfes überzeugt gewesen, dass das Pferdeskelett nach Haukes und seines Pferdes Tod wieder auf der Hallig gelegen habe. Außerdem erwähnt er, dass der neue, von Hauke Haien erschaffene Deich noch immer den Fluten standhalte, obgleich sich die erzählte Geschichte bereits vor fast hundert Jahren zugetragen haben soll.

Gattung und Form

Gattungsfrage – Novellenkriterien

Theodor Storm untertitelte seinen Schimmelreiter selbst als Novelle. Dies lässt sich an einigen rudimentären Kriterien auch belegen. Schon zu Beginn fällt die novellentypische Rahmenkonstruktion auf, die Storm kunstvoll über die Erzähler „Zeitungsleser“, „Reisender“ und „Schulmeister“ doppelt. Der gesamte Aufbau bestätigt Storms eigene Forderung, die Novelle solle dem Drama entsprechen. Ob der Falke – nach Heyses gängiger Falkentheorie – hier der Schimmel ist oder doch eher der Deich, ist umstritten. Klar ist, dass der Konfliktkern der Novelle weder auf die Thematik des kulturschaffenden Kampfes des Menschen gegen die Natur noch auf das Problem unüberwindlichen Aberglaubens in der eigentlich aufgeklärten Moderne begrenzt werden kann.

Die Erzählung wird dem literarischen Realismus zugeordnet. Der Schimmelreiter zeigt nach Christian Begemann nicht nur, wie scheinbar obsolet gewordene Realitätsdeutungen inmitten einer wissenschaftsgläubigen Epoche dazu dienen können, deren Selbstgewissheit in Frage zu stellen. Ähnlich wie in Fontanes Ballade Die Brück’ am Tay (1880) sieht Begemann beim Schimmelreiter eine Wiederkehr des Mythischen in einer scheinbar durchrationalisierten Welt, die deren Gefährdung, Labilität und buchstäbliche Bodenlosigkeit demonstriert. Beim Schimmelreiter wird das insoweit auf die Spitze getrieben, als Hauke Haien, als technikfixierter Aufklärer selbst zum Wiedergänger wird.[2]

Aus der reflektierenden Bearbeitung des Sagenstoffes reizt Storm hier – ganz modern – ganz gezielt die Gattungsfrage, da es nicht erst seit Goethes Definition der Novelle als „unerhörte, sich ereignete Begebenheit“ konstitutiv zum Genre gehörte, einen deutlichen Wirklichkeitsbezug aufzuweisen.

Aufbau der Novelle

Das Werk ist in drei Erzählebenen aufgebaut. Zunächst berichtet ein Erzähler davon, wie er einst von einer Geschichte erfahren hat. Danach wird eine Rahmenerzählung konstruiert. In diesem Rahmen erzählt ein Reisender, wie er sich mit dem Pferd bei Sturm und Regen von einem Besuch bei Verwandten auf den Weg zur Stadt macht. Bei dem Ritt auf dem Deich nimmt er eine dunkle Gestalt auf einem Schimmel wahr, die an ihm vorüberzieht. Es ist der Schimmelreiter, der sich mitsamt seinem Pferd in eine Wehle stürzt. Der Reisende sieht schließlich in der Ferne die Lichter einer Gastwirtschaft, kehrt dort ein und berichtet von seinem Erlebnis. Die anwesenden Gäste werden von seinen Worten in Unruhe versetzt, und ein alter Schulmeister beginnt – als Binnenerzähler und in der dritten Ebene – die Geschichte des Hauke Haien zu erzählen. Die Binnenhandlung wird an bestimmten Stellen zur Steigerung der Spannung wieder durch den inneren Rahmen unterbrochen, der im Gegensatz zum äußeren auch wieder abschließt.

Die Erzählstruktur

Die dreistufige Erzählstruktur im Schimmelreiter bietet sowohl Einblicke in die Glaubwürdigkeit der Novelle als auch damit verbundene Interpretationsansätze. Begonnen wird die Erzählung von einem ersten Erzähler, der weder einen Namen noch bestimmte Charaktereigenschaften aufweist. Er erzählt aus der Erinnerung von einer Geschichte, die er in einer Zeitschrift gefunden hatte. Diese Niederschrift ist ebenfalls eine Erinnerung – allerdings von einem weiteren Erzähler. Dieser Erzähler ist ein (ebenfalls) namenloser Deich-Reisender, der den „Schimmelreiter“ sieht und sich vom dritten und endgültigen Erzähler die Binnenhandlung erzählen lässt. Dieser letzte Erzähler ist ein Schulmeister, der sowohl von der Legende des Schimmelreiters weiß als auch die damit zusammenhängenden „realen“ Fakten zusammengetragen hat. Doch auch dessen Fakten scheinen zum größten Teil auf mündlichen Überlieferungen zu basieren, wodurch die Glaubwürdigkeit zu wünschen übrig lässt und die Erzählung mehr als eine „Erzählung über das Erzählen aufgefasst“ werden muss als ein Zeugnis über wirkliche Geschehnisse.[3] Trotzdem ist die Wahl der drei männlichen Erzähler ein Zeichen dafür, dass gesteigerter Wert auf die bestätigte verschriftlichte Erzählung gelegt wird und die „weibliche Stimme“ zugunsten dieser auf Fakten gestützten männlichen Sichtweise vernachlässigt wird. Diese „weiblich konnotiert[e]“ Stimme ist „[die] nur angedeutete abergläubische Geschichte“, wodurch eine komplexe Erzählstruktur entsteht.[4] Die männliche Erzählweise steht für eine aufgeklärte Sicht, in der Fortschritt und Wissenschaft eine wichtige Rolle spielen. Doch auch die aufgeklärte Haltung des Schulmeisters ist mangelhaft, denn er kann die Existenz des Schimmelreiters für sich nicht komplett leugnen, wird er doch nur durch die Erwähnung der Sagengestalt auf seine Erzählung gebracht.[5] Durch den großen Wert, den der Schulmeister auf Wissen und Aufklärung über Emotionen (und im Zweifelsfall auch über Geld) legt, entsteht eine Sympathie und Ähnlichkeit zu Hauke Haien. Mehr noch könnte Hauke als das Idealbild des Schulmeisters gesehen werden, da Hauke nicht nur mit besseren körperlichen Eigenschaften beschrieben wird, sondern auch seine Ambitionen durchsetzen konnte.

Interpretation

Haukes Charakter

Hauke Haiens Charakter ist zwiespältig. Einerseits ist er intelligent, zielstrebig und meist liebevoll, andererseits kann er aber aggressiv, rücksichtslos, gleichgültig und hasserfüllt sein.

Hauke ist bereits in jungen Jahren in sich gekehrt und verbringt die Tage allein am Deich. Eine seiner Freizeitbeschäftigungen besteht darin, Strandläufer mit Steinen abzuschießen. Durch diesen sinnlosen Zeitvertreib wird nicht nur Haukes Aggressivität und seine Verachtung anderen Lebens deutlich, sondern auch sein Bedürfnis, Überlegenheit zu demonstrieren.[6] Dieses Verhalten gipfelt schließlich darin, dass er den Angorakater der alten Trin’ Jans im Jähzorn erwürgt. Er zeigt ein „destruktives Naturverhalten“ und er hat das Bedürfnis, sich als der Stärkere zu beweisen. Nach Jost Hermand entwickelt sich Hauke dadurch zu dem, was er in Wahrheit ist: „Einer verschlossenen einsamen Gewaltnatur“.[7] Um seine Aggressionen abzubauen, stürzt sich Hauke fortan in die Arbeit und auch seine Arbeitsanstrengungen tragen einen kämpferischen Charakter: Durch den neuen Deich will er die Natur beherrschen und so seine Überlegenheit sich und seinen Mitmenschen demonstrieren.[8] Durch seine rationale, eigenwillige und von sich selbst überzeugte Art ist er bei den Dorfbewohnern unbeliebt. Hauke sieht nur sich zum Deichgrafen berufen und betrachtet die anderen als Bedrohung:

„Eine Reihe von Gesichtern ging vor seinem innern Blick vorüber, und sie sahen ihn alle mit bösen Augen an; da faßte ihn ein Groll gegen diese Menschen: er streckte die Arme aus, als griffe er nach ihnen, denn sie wollten ihn vom Amte drängen, zu dem von allen nur er berufen war. – Und die Gedanken ließen ihn nicht; sie waren immer wieder da, und so wuchsen in seinem jungen Herzen neben der Ehrenhaftigkeit und Liebe auch die Ehrsucht und der Haß. Aber diese beiden verschloß er tief in seinem Innern; selbst Elke ahnt nichts davon.“

Das Verhältnis zwischen Hauke und den Dorfbewohnern wird durch Haukes Kauf des Schimmels und die damit verbundenen abergläubischen Befürchtungen seiner Mitmenschen noch verschlimmert. Diese begegnen Hauke immer mehr mit Argwohn, Furcht und Trotz, was Hauke wiederum vor allem in Bezug auf die Deicharbeiten immer härter und sturer werden lässt. Tragischerweise trotzt er den anderen Dorfbewohnern gerade dann nicht mehr, als dies die Flutkatastrophe hätte verhindern können: Nachdem er aufgrund relevanter Schäden am alten Deich eine gründliche Instandsetzung und Verstärkung nach Art des neuen Deiches vorschlägt, trifft er auf breiten Widerspruch – insbesondere von Ole Peters. Bei einer weiteren Begehung der fraglichen Deichstelle lässt er sich in seiner erneuten Beurteilung dann von diesen Einwänden leiten und stimmt einer Instandsetzungsmaßnahme geringeren Umfangs zu. An genau dieser Stelle jedoch bricht später der Deich.

Haukes Frau Elke und seine Tochter Wienke lernen ihn jedoch als einen netten, fürsorglichen und liebevollen Mann kennen. Doch auch den Dorfbewohnern ist er nicht ausschließlich feindlich gesinnt: So hilft er seinem Knecht Iven auf und fragt nach dessen Zustand, nachdem dieser von Haukes Schimmel umgestoßen worden war. Auch mit seinem Schimmel, den Hauke aus Mitleid gekauft hat, geht er liebevoll um und päppelt ihn wieder auf. Hauke widersetzt sich auch dem Aberglauben der Dorfbewohner und rettet so einem Hund das Leben.

Tiere als Begleiter des Teufels

Die Tiere in Storms Novelle spielen eine wichtige Rolle. Die Natur agiert hierbei als das Böse und die Tiere dienen als Symbole. Der weiße Angorakater der alten Trien Jans ist das erste Zeichen des Dämonischen, denn dieser neidet Hauke seine Beute, wodurch er den Kater erwürgt und seinen ersten Fehler gegen die Natur begeht. Daraufhin verflucht die hexenartige Trien Jans ihn. Ratten und Otter, die der alten Frau ihre Enten entreißen, sind bekanntlich Teufelstiere, die das Nutzvieh schädigen und Hauke bereits in seiner Jugend umgeben. Ein weiteres Mal tritt das Dämonische durch den Kauf des Schimmels wieder in das Leben Haukes und jedem aus dem Dorf ist das zunächst hagere Tier mit den feurigen Augen unheimlich, außer Hauke, denn er ist der Einzige, der den ungezähmten Schimmel reiten kann. Sein zweites Vergehen wider die Natur ist das nicht eingelöste Deichopfer, welches zugleich gegen den üblichen Brauch der Dorfbewohner verstößt. Hauke entreißt der Natur das Recht auf ihr Opfer, wobei er selbst zum späteren Zeitpunkt der Erzählung mit seinem eigenen Leben sühnen muss. Ein weiterer Fehler, den Hauke begeht, ist das Aufnehmen der Trien Jans in sein Zuhause, weil diese das Fell ihres weißen Angorakaters mitbringt. Die Tiere, das verweigerte Hundeopfer und Trien Jans sind alle in seinem näheren Umfeld und stehen somit als Embleme des Teuflischen. Auch die weiße Farbe des Katers, des Schimmels und der Lachmöwe sind auffällig, da schwarze Tiere zu offensichtlich in der Erzählung gewesen wären, somit steht die weiße Farbe als Kunstsymbol und für das Unheil. Haukes Tierbegleiter sind allesamt nicht gänzlich gezähmt und lassen daher die Existenz Haukes in ein bedrohliches Licht rücken.[9]

Der Schimmel entstammt als Motiv einer Sage aus der germanischen Mythologie, in welcher das Tier einst heilig war und mit Frô (Freyr) und Wodan (Odin) in Verbindung gebracht wurde. Der Gott Fro besaß weissagende weiße Pferde, die ihm als Berater dienten und Wodan ritt auf einem weißen Pferd zur Jagd. Erst später wurde das Tier durch die Christianisierung heidnisch negativ konnotiert und mit dem wilden Jäger, Hel, der Herrscherin der Unterwelt oder dem Teufel selbst assoziiert. Durch den Kauf dieses dämonischen Wesens, zudem noch von einem fremden und seltsam teuflisch lachenden Mann erworben, erregt Hauke die Aufmerksamkeit der abergläubischen Dorfgemeinschaft.[10] Holander schreibt dazu: „Schimmel – Teufel – Tod, das ist die abergläubische Assoziation, auf der Storm aufbaut, um seinem Schimmel die erforderlichen gespenstischen Züge zu verleihen. Davon ausgehend ist es dann ein Leichtes, auch den Reiter selber in einer Aura des Bösen und des Verderbens erscheinen zu lassen.“[11]

Hintergründe

Möglicher Ursprung der Sage an der Weichsel

Gespenstergeschichten aus Schleswig-Holstein faszinierten Storm schon seit seiner Jugend. Er ließ sich davon zu eigenen Geschichten inspirieren und plante, diese eines Tages in einer Sammlung mit dem Titel Neues Gespensterbuch zu veröffentlichen. Während Storms Lebenszeit ist es zu dieser Veröffentlichung nicht gekommen; die Sammlung wurde erst 1991 das erste Mal publiziert. Der Schimmelreiter ist in dieser Sammlung allerdings nicht enthalten. In einem Brief an einen Freund schreibt Storm, dass diese Sage zwar aufgrund ihres Charakters zu anderen Geschichten durchaus passe, doch sie würde leider „nicht unserem Vaterland gehören“.

Storm schreibt in der Einleitung seiner Novelle:

„Was ich zu berichten beabsichtige, ist mir vor reichlich einem halben Jahrhundert im Hause meiner Urgroßmutter, der alten Frau Senator Feddersen, kundgeworden, während ich, an ihrem Lehnstuhl sitzend, mich mit dem Lesen eines in blaue Pappe eingebundenen Zeitschriftenheftes beschäftigte; ich vermag mich nicht mehr zu entsinnen, ob von den Leipziger oder von Pappes Hamburger Lesefrüchten.“

Tatsächlich erschien 1838 im Hamburger Pappe-Verlag eine Ausgabe, in der ein Nachdruck des Danziger Dampfboots vom 14. April 1838 enthalten war. Dieser Nachdruck enthielt auch die Geschichte Der gespenstige Reiter. Ein Reiseabenteuer.[12] Der Handlungsort dieser Geschichte, die auffällige Parallelen aufweist, liegt jedoch nicht an der Nordsee, sondern an der Weichsel. Dies würde erklären, warum Storm seine Novelle Der Schimmelreiter nicht in seiner Sammlung Neue Gespenstergeschichten aufnehmen wollte. Die oft der Novelle zugeschriebene Legende, dass der Schimmelreiter immer dann, wenn am Deich Gefahr drohe, auf einem Schimmel zu sehen sei, findet sich nicht bei Storm, sondern nur in der Geschichte von 1838.

Die handelnden Personen der Novelle und ihre historischen Vorbilder

Einzelheiten über das Leben des Deichgeschworenen erfährt man in der Geschichte Der Güttlander Deichgeschworene nicht. Storm griff zwar das Motiv dieser Geschichte auf, die Vielzahl der handelnden Personen und ihre unterschiedlichen Charakteristiken schuf er aber selbst. Seine Darsteller lehnte er an Personen an, die real existierten.

Vorlage für die Persönlichkeit Hauke Haiens, der Hauptperson in Der Schimmelreiter, war in vielerlei Hinsicht der Einzelgänger Hans Momsen aus Fahretoft in Nordfriesland (1735–1811), der Landmann, Mechaniker und Mathematiker war. Er brachte es als Autodidakt zu erstaunlichen Leistungen. Er verstand es, Seeuhren, Teleskope und auch Orgeln herzustellen. Der Bezug auf die historische Person Momsen wird auch darin deutlich, dass Storm seinen Namen (Hans Mommsen geschrieben) in seiner Novelle erwähnt.

In Storms Novelle spiegeln sich auch die Ideen des in Nordfriesland tätigen Deichbaufinanziers Jean Henri Desmercières bezüglich neuer Deichprofile wider. Desmercières gilt als der Erbauer des Sophien-Magdalenen-Kooges, des Desmerciereskooges und des Elisabeth-Sophien-Kooges. Die Deichgrafenfamilie Iwersen-Schmidt gilt als weiteres Vorbild für die Person des Hauke Haiens. So scheint die behinderte Tochter des Deichgrafen Johann Iversen Schmidt (der Jüngere) (1844–1917) das Vorbild für Haukes Tochter Wienke in der Novelle zu sein.

Der britische Historiker Harold James vergleicht Hauke Haiens Streben und Lebensphilosophie mit der Alfred Krupps.[13]

Landschaftlicher Hintergrund

Die Hattstedtermarsch und der Hattstedter Neue Koog bilden den landschaftlichen Hintergrund für die Novelle. Die Große Wehle nördlich der Hattstedtermarsch, das ehemalige Gasthaus Schimmelreiterkrug in Sterdebüll sowie die Harmelfshallig gelten als Vorbilder für Schauplätze der Novelle.[14] Das Gehöft des Deichgrafen in der Novelle scheint ein Abbild des Hofes des Deichgrafen Johann Iwersen-Schmidt (1798–1875) zu sein. Übereinstimmungen lassen sich auch an weiteren Personen und Dingen festmachen.

Ein Bericht von der Sturmflut vom 7. Oktober 1756 mit 600 Toten an der Nordsee diente Storm als weitere Anregung.[15]

Nach der Hauptfigur der Novelle ist das Naturschutzgebiet Hauke-Haien-Koog in Nordfriesland benannt.

Verfilmungen

Produktion von 1934

Regie: Hans Deppe und Curt Oertel

Darsteller: Mathias Wieman, Marianne Hoppe, Hans Deppe. Musik von Winfried Zillig.

Produktion von 1977

Die Peterswarf in Ockholm

Regie: Alfred Weidenmann

Darsteller: Lina Carstens, Anita Ekström, Gert Fröbe, Werner Hinz, John Phillip Law, Vera Tschechowa, Richard Lauffen. Die Musik schrieb Hans-Martin Majewski.

Dieser Film weicht teilweise vom Buch ab. Viele Szenen der Novelle gehen nicht oder abgeändert in den Film ein, so zum Beispiel der Tod von Tede Volkerts und Haukes Tochter Wienke. Gedreht wurde der Film unter anderem in Ockholm. Hauptmotiv der Außenaufnahmen war die Ockholmer Peterswarf. Wie im Buch und in der Realität ist sie auch im Film der Hof des Deichgrafen.

Produktion von 1984

Regie: Klaus Gendries

Darsteller: Sylvester Groth, Hansjürgen Hürrig, Fred Düren und andere

Dieser Fernsehfilm war eine Koproduktion zwischen der DDR und der Volksrepublik Polen. Die an der Nordsee spielenden Szenen wurden an der Ostseeküste der beiden Länder gedreht. Der Film wurde am 26. Dezember 1984 erstmals im DDR-Fernsehen gezeigt und hatte am 7. September 1985 in Husum bundesdeutsche Uraufführung.

Bühnenfassungen

Der Schimmelreiter. Zweiundzwanzig Szenen und ein Zwischengesang nach Theodor Storm. Musik von Wilfried Hiller. Libretto von Andreas K. W. Meyer. Uraufführung Kiel 1998.

Der Schimmelreiter. Bearbeitung: John von Düffel. Uraufführung Hamburg 2008.

Der Schimmelreiter. Regie Christian Schmidt, Musik Friedrich Bassarek; "Theater am Rand", Zollbrücke (Märkisch Oderland); Premiere 2017

Erstausgabe

Verlagseinband der Erstausgabe 1888

Theodor Storm: Der Schimmelreiter. Novelle. Paetel Berlin, 1888, 222 S. (W./G.² 49) (Digitalisat und Volltext im Deutschen Textarchiv)

Sekundärliteratur

  • Paul Barz: Der wahre Schimmelreiter. Die Geschichte einer Landschaft und ihres Dichters Theodor Storm. Hamburg 2000.
  • Andreas Blödorn: Vom Erzählen erzählen: Storms „Schimmelreiter“. In: Der Deutschunterricht LVII.2 (2005), S. 8–17.
  • Gerd Eversberg: Raum und Zeit in Storms Novelle „Der Schimmelreiter“. In: Schriften der Theodor-Storm-Gesellschaft, 58, 2009, S. 15–23.
  • Gerd Eversberg: Der echte Schimmelreiter. So (er)fand Storm seinen Hauke Haien. Heide 2010.
  • Gerd Eversberg: (Hrsg.): Der Schimmelreiter. Novelle von Theodor Storm. Historisch-kritische Edition. Erich Schmidt Verlag, Berlin 2014, ISBN 978-3-503-15506-4.
  • Theodor Storm: Der Schimmelreiter. Eine kommentierte Leseausgabe. Herausgegeben und erläutert von Gerd Eversberg. Mit den Radierungen von Alexander Eckener. Erich Schmidt Verlag, Berlin 2015, ISBN 978-3-503-15572-9. Der Band enthält die historischen Hintergründe der Novelle.
  • Regina Fasold: Theodor Storm. Sammlung Metzler Bd. 304. Stuttgart 1997, S. 152–167.
  • Reimer Kay Holander: Der Schimmelreiter – Dichtung und Wirklichkeit. Kommentar und Dokumentation zur Novelle „Der Schimmelreiter“ von Theodor Storm. Neue, verbesserte und aktualisierte Ausgabe. Bredstedt 2003.
  • Karl Ernst Laage: Der ursprüngliche Schluß der Stormschen „Schimmelreiter-Novelle“. In: Euphorion, 73, 1979, S. 451–457, und in Schriften der Theodor-Storm-Gesellschaft, 30, 1981, S. 57–67.
  • Karl Ernst Laage (Hrsg.): Theodor Storm. Der Schimmelreiter. Text, Entstehungsgeschichte, Quellen, Schauplätze, Aufnahme und Kritik. 13., durchgesehene Auflage. Heide 2009.
  • Jean Lefebvre: Nichts als Gespenster? Die Funktionen des Deichreiters in den Rahmenhandlungen des „Schimmelreiters“. In: Schriften der Theodor-Storm-Gesellschaft, 58, 2009, S. 7–13.
  • Martin Lowsky: Theodor Storm: Der Schimmelreiter. Königs Erläuterungen und Materialien (Bd. 192). Hollfeld 2008.
  • Albert Meier: „Wie kommt ein Pferd nach Jevershallig?“ Die Subversion des Realismus in Theodor Storms „Der Schimmelreiter“. In: Hans Krah, Claus-Michael Ort (Hrsg.): Weltentwürfe in Literatur und Medien. Phantastische Wirklichkeiten – realistische Imaginationen. Festschrift für Marianne Wünsch. Kiel 2002, S. 167–179.
  • Christian Neumann: Eine andere Geschichte vom Schimmelreiter. Der Subtext der Deichnovelle Storms aus literaturpsychologischer Sicht. In: Schriften der Theodor-Storm-Gesellschaft, 56, 2007, S. 129–148.
  • Wolfgang Palaver: Hauke Haien – ein Sündenbock? Theodor Storms Schimmelreiter aus der Perspektive der Theorie René Girards. In: P. Tschuggnall (Hrsg.): Religion – Literatur – Künste. Aspekte eines Vergleichs. Anif/Salzburg 1998, S. 221–236.
  • Irmgard Roebling: „Von Menschentragik und wildem Naturgeheimnis“. Die Thematisierung von Natur und Weiblichkeit in „Der Schimmelreiter“. In: Gerd Eversberg, David Jackson, Eckart Pastor (Hrsg.): Stormlektüren. Festschrift für Karl Ernst Laage zum 80. Geburtstag. Würzburg 2000, S. 183–214.
  • Harro Segeberg: Theodor Storms Erzählung „Der Schimmelreiter“ als Zeitkritik und Utopie. In: Harro Segeberg: Literarische Technikbilder. Studien zum Verhältnis von Technik und Literaturgeschichte im 19. und frühen 20. Jahrhundert. Tübingen 1987, S. 55–106
  • Malte Stein: Deichgeschichte mit Dialektik. In: Malte Stein: „Sein Geliebtestes zu töten“. Literaturpsychologische Studien zum Geschlechter- und Generationenkonflikt im erzählerischen Werk Theodor Storms. Berlin 2006, S. 173–258.

Weblinks

 Wikisource: Der Schimmelreiter – Quellen und Volltexte
 Wikiversity: Einband und Titelblatt des Erstdrucks – Kursmaterialien, Forschungsprojekte und wissenschaftlicher Austausch

Einzelnachweise

  1. Digitalisat bei archive.org.
  2. Christian Begemann: Phantastik und Realismus (Deutschland). In: Markus May, Hans Richard Brittnacher (Hrsg.): Phantastik. Ein interdisziplinäres Handbuch. Metzler, Stuttgart / Weimar 2013, S. 100–108.
  3. Ulrich Kittstein: …was ist das mit dem Schimmelreiter? In: Ulrich Kittstein, Stefani Kugler (Hrsg.): Poetische Ordnungen. Zur Erzählprosa des deutschen Realismsus. Verlag Königshausen & Neumann, Würzburg 2007, S. 273.
  4. Ulrich Kittstein: …was ist das mit dem Schimmelreiter? In: Ulrich Kittstein, Stefani Kugler (Hrsg.): Poetische Ordnungen. Zur Erzählprosa des deutschen Realismsus. Verlag Königshausen & Neumann, Würzburg 2007, S. 280.
  5. Ulrich Kittstein: …was ist das mit dem Schimmelreiter? In: Ulrich Kittstein, Stefani Kugler (Hrsg.): Poetische Ordnungen. Zur Erzählprosa des deutschen Realismsus. Verlag Königshausen & Neumann, Würzburg 2007, S. 287.
  6. Winfried Freund: Theodor Storm. Der Schimmelreiter. Glanz und Elend des Bürgers. Ferdinand Schöningh, Paderborn 1984. S. 68.
  7. Gerd Weinrich: Grundlagen und Gedanken zum Verständnis erzählender Literatur Theodor Storm Der Schimmelreiter. Diesertweg Verlag, 1988, S. 48
  8. Ulrich Kittstein: …was ist das mit dem Schimmelreiter? In: Ulrich Kittstein, Stefani Kugler (Hrsg.): Poetische Ordnungen. Zur Erzählprosa des deutschen Realismsus. Verlag Königshausen & Neumann, Würzburg 2007.
  9. Ingo Meyer: Im „Banne der Wirklichkeit“. Studien zum Problem des deutschen Realismus und seinen narrativ-symbolischen Strategien. Königshausen und Neumann, Würzburg 2009, S. 428–432.
  10. Reimer Kay Holander: Der Schimmelreiter – Dichtung und Wirklichkeit. Nordfriisk Instituut, Bräist/Bredstedt 2003, S. 32 ff.
  11. Reimer Kay Holander: Der Schimmelreiter – Dichtung und Wirklichkeit. Nordfriisk Instituut, Bräist/Bredstedt 2003, S. 34.
  12. Nachwort in: Der Schimmelreiter, Hamburger Lesehefte, Husum 2004, S. 102.
  13. Harold James: Krupp – Deutsche Legende und globales Unternehmen. Verlag C.H. Beck, München 2011, ISBN 978-3-406-62414-8, S. 31
  14. Gerd Eversberg: Theodor Storms „Schimmelreiter“ – Eine Ausstellung im Storm-Haus. Husumer Kataloge 2. Boyens Buchverlag, Heide 2009
  15. Klaus Hildebrandt: Theodor Storm Der Schimmelreiter. Oldenbourg Verlag, 1999, S. 100
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