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Ockhams Rasiermesser

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Wilhelm von Ockham – Skizze aus einem Summa logicae-Manuskript von 1341 mit der Inschrift frater Occham iste

Ockhams Rasiermesser (auch Prinzip der Parsimonie, lex parsimoniae oder Sparsamkeitsprinzip) ist ein heuristisches Forschungsprinzip aus der Scholastik, das bei der Bildung von erklärenden Hypothesen und Theorien Sparsamkeit gebietet. Es findet noch heute Anwendung in der Wissenschaftstheorie und der wissenschaftlichen Methodik. Steht man vor der Wahl mehrerer möglicher Erklärungen für dasselbe Phänomen, soll man diejenige bevorzugen, die mit der geringsten Anzahl an Hypothesen auskommt und somit die „einfachste“ Theorie darstellt. Es enthält ebenso die Forderung, für jeden Untersuchungsgegenstand nur eine einzige hinreichende Erklärung anzuerkennen.

Vereinfacht ausgedrückt besagt es:

  1. Von mehreren möglichen Erklärungen desselben Sachverhalts ist die einfachste Theorie allen anderen vorzuziehen.
  2. Eine Theorie ist einfach, wenn sie möglichst wenige Variablen und Hypothesen enthält, die in klaren logischen Beziehungen zueinander stehen, aus denen der zu erklärende Sachverhalt logisch folgt.

Das ockhamsche Prinzip fordert, dass man in Erklärungen nicht mehr Hypothesen und Variablen einführt, als benötigt werden, um den zu erklärenden Sachverhalt ausreichend herzuleiten. Daraus ergeben sich Kriterien für die Theoriefindung. Der praktische Vorteil soll dabei sein, dass Theorien mit wenigen und einfachen Annahmen leichter falsifiziert werden können als solche mit vielen und komplizierten Annahmen. Es handelt sich aber um ein Prinzip, das nur ein Kriterium für die Güte von Theorien ist und ohne Weiteres kein Urteil über die Gültigkeit von Erklärungsmodellen erlaubt.

Das „Rasiermesser“ lässt sich als Metapher verstehen: Die simpelste und zugleich passende Erklärung ist vorzuziehen, alle anderen werden mit einem Rasiermesser abgeschnitten.

Historische Formulierung und Name

In seiner bekanntesten Formulierung lautet es: „Entia non sunt multiplicanda praeter necessitatem [oder: sine necessitate]“ (deutsch: „Entitäten dürfen nicht über das Notwendige hinaus vermehrt werden.“) Diese wurde 1654 durch den Philosophen Johannes Clauberg (1622–1665) geprägt[1]. In der Form „non sunt multiplicanda entia sine necessitate“ wurde dieses Prinzip schon 1639 von dem Scotisten Johannes Poncius als scholastische Maxime zitiert.

Die englische Bezeichnung lautet Occam’s Razor (oder auch ontological parsimony), die lateinische novacula Occami, die traditionelle deutsche Ockhams Skalpell; bei Condillac findet man 1746 die französische Formulierung rasoir des nominaux.

Diese Regel wurde im 19. Jahrhundert nach Wilhelm von Ockham (1288–1347) benannt, obwohl Ockham selbst nie ausdrücklich ein solches Prinzip aufgestellt und benannt hat, wohl aber implizit in seinen Schriften gebraucht. So forderte er: „Nichts darf man ohne eigene Begründung annehmen, es sei denn es sei evident oder aufgrund von Erfahrung gewusst oder durch die Autorität der Heiligen Schrift gesichert.“ (In I. Sent d 30, q 1)[2] Die Bezeichnung Occam's Razor für dieses Sparsamkeitsprinzip taucht erst im 19. Jahrhundert beim Mathematiker William Rowan Hamilton auf und erlangte in der von John Stuart Mill geführten Diskussion um dessen Wissenschaftstheorie Verbreitung.

Geschichte

Die Idee, die einfachste Erklärung zu bevorzugen, reicht zurück bis zu Aristoteles. Meist wurde sie damit begründet, dass die Natur immer den einfachsten Weg wähle.[3] Ockham lehnte diese Begründung allerdings ab, da sie die Allmacht Gottes limitiere. Eine solche Beschränkung des göttlichen Willens akzeptiert er nicht, Ockham zufolge könnte Gott genauso gut den kompliziertesten Weg wählen.[4] Nicht die Natur selbst, wohl aber Theorien sollen dem Sparsamkeitsprinzip genügen. In der Theorienkonstruktion sollen überflüssige Elemente eliminiert und die einfachere von zwei möglichen Theorien, die beide dasselbe Phänomen erklären können, gewählt werden. Bei Ockham wird also ein ursprünglich ontologisches Gesetz zu einer praktischen Regel für die Erkenntnistheorie.

In der modernen Wissenschaftstheorie gibt es verschiedene Neuinterpretationen von „Ockhams Rasiermesser“, die es als rationale Forschungsmaxime rechtfertigen sollen. So wurde unter anderem Einfachheit mit einem höheren Bestätigungsgrad[5] oder mit der besten Erklärung[6] in Verbindung gebracht. Auch eine höhere A-priori-Wahrscheinlichkeit innerhalb des bayesschen Wahrscheinlichkeitsbegriffes begründet die Bevorzugung einfacherer Theorien. Gegen solche Rechtfertigungen wird eingewandt, dass sie zirkulär werden, wenn sie über kein unabhängiges Kriterium für die Einfachheit von Theorien verfügen. Zudem sei es aufgrund des Induktionsproblems nicht möglich, eine von mehreren Theorien, die gleichermaßen mit allen gegebenen Fakten vereinbar sind, als wahr oder wahrscheinlicher auszuzeichnen, unabhängig davon, wie komplex sie ist.

Gegenwärtige Begründungen, die Zirkularität und das Induktionsproblem vermeiden wollen, deuten Ockhams Prinzip daher als „Suchstrategie“ oder Heuristik: Indem das Prinzip zur Auswahl zwischen verschiedenen, mit den Daten verträglichen Erklärungen wiederholt angewendet wird, soll eine Annäherung an eine wahre allgemeine Theorie erfolgen. Darüber hinaus sei Ockhams Rasiermesser robust, insofern einzelne Abweichungen von der Regel trotzdem zur Konvergenz gegen die wahre Theorie führen, wenn man nach einer erfolgten Verletzung zur Ockham'schen Regel zurückgekehrt.[7] Diese Robustheit ist von Bedeutung, da die Regel in der Wissenschaftspraxis offenbar nicht strikt angewendet wird, und auch im Einzelfall selten eindeutig bestimmt ist, was unter „einfach“ zu verstehen ist. Allerdings kann auch gezeigt werden, dass die strikte Anwendung von Ockhams Rasiermesser unter allen alternativen Regeln, welche ebenfalls zur Konvergenz gegen die wahre Theorie führen würden, dadurch ausgezeichnet ist, dass sie die effizienteste Regel darstellt.[8][9]

Eine andere nichtzirkuläre Rechtfertigung des Ockham'schen Prinzips beruht auf der Beobachtung, dass bei Unkenntnis der korrekten Theorie selbst mit falschen Theorien Prognosen mit einer hohen Trefferwahrscheinlichkeit gemacht werden können, und dass dabei die Komplexität der zur Prognose ausgewählten Theorie bei der Genauigkeit der Voraussagen eine Rolle spielt. Die Verwendung einfacher Modelle, bei Vorhandensein von statistischem Rauschen in den Daten, kann sogar zu genaueren Voraussagen führen.[10][11]

Prinzip der Sparsamkeit statt Prinzip der Vielfalt

Walter Chatton, ein Zeitgenosse von Wilhelm von Ockham, vertrat eine Gegenposition zu Ockhams Sparsamkeitsprinzip: „Wenn drei Dinge nicht genug sind, um eine klare Aussage über etwas zu treffen, muss ein viertes hinzugefügt werden, und so weiter.“ Obwohl verschiedene andere Philosophen in dieser Zeit ähnliche „Gegenprinzipien“ formuliert haben, änderte dies nichts an der Bedeutung des ontologischen Sparsamkeitsprinzips.

Gottfried Wilhelm Leibniz (1646–1716) formulierte ein Prinzip der Vielfalt:[12] Nach Leibniz leben wir gerade deshalb in der besten aller möglichen Welten, weil diese die größtmögliche Vielfalt an Leben hervorbringt, und nicht, weil diese möglichst frei von Übel, Sünde und Leid wäre; es handelt sich also um ein Prinzip des Optimums an Vollständigkeit (siehe auch Theodizee). Für Definitionen und Erklärungen vertrat Leibniz aber dennoch die Ansicht, dass die einfachste Erklärung die beste sei.

Immanuel Kant (1724–1804) formulierte ein Prinzip, nach dem die Vielfalt der natürlichen Arten voreilig durch eine reduktionistische Erklärung vermindert werden solle (Immanuel Kant: AA III, 428–441[13]), erkannte aber zugleich den Versuch einer solchen Reduktion durch den focus imaginarius der Vernunftideen als Interesse der Vernunft an (s. Transzendentale Dialektik). Karl Menger (1902–1985) bezeichnete Mathematiker als zu geizig im Umgang mit Variablen und formulierte sein Gesetz gegen die Armseligkeit in zwei Varianten: „Entitäten dürfen nicht bis zur Unangemessenheit reduziert werden [und] es ist sinnlos mit weniger zu tun, was mehr erfordert“.

Tatsächlich ist es so, dass Ockhams Rasiermesser erst dann angesetzt werden kann, wenn mehrere Theorien vorhanden sind, die die gewünschte Erklärung in gleicher Tiefe liefern können. Eine kompliziertere Theorie, die den Gegenstand besser erklärt, kann daher einer einfacheren vorgezogen werden. So ist die Relativitätstheorie komplizierter als die klassische Mechanik, da sie verschiedene Kräfte in komplexen mathematischen Beziehungen betrachtet, sie kann aber zusätzlich einen größeren Phänomenbereich erklären.

Eine der Anwendungen des Vielfaltprinzips war das ptolemäische Weltbild: Je genauer die astronomischen Beobachtungsdaten wurden, desto deutlicher wichen Sterne und Planeten von den vorhergesagten Positionen ab. Um die Abweichungen, scheinbaren Rückläufe und anderes mit der klassischen Metaphysik des Aristoteles, die die Kirche zur verbindlichen Lehrmeinung gemacht hatte, erklären zu können, mussten ständig weitere Epizyklen in das Modell aufgenommen werden. Danach lag die Erde im Zentrum konzentrischer Himmelsphären, auf denen sich die Himmelskörper bewegten. Das Weltbild des Nikolaus Kopernikus stellt einen Versuch dar, diese Epizyklen zu eliminieren und die Planetenbewegungen gleichmäßiger zu modellieren. Dafür legte er die Himmelsphären um die Sonne, ordnet die Planeten neu und reiht die Erde in die Ordnung der Planeten ein. Kopernikus musste damit nicht mehr nach Gründen für die Epizykel suchen. Zunächst stimmte dieses Modell jedoch schlechter mit den Beobachtungsdaten überein als die durch Tycho Brahe entwickelte Verbesserung des geozentrischen Weltbilds. Vergleichbare Übereinstimmung brachte die Ersetzung der Kreisbahnen durch Ellipsen in Keplers Gesetzen. Aber erst mit der Einführung der Gravitation als Konstrukt durch Isaac Newton konnte das heliozentrische Weltbild beanspruchen, die einfachere Theorie zu sein, denn Keplers Gesetze konnten nun aus den allgemeinen physikalischen Gesetzen hergeleitet werden, die Galileo Galilei aufgestellt und experimentell bestätigt hatte. Das geozentrische Weltbild beschrieb zwar die Positionen der Sterne und Planeten ebenso exakt, konnte aber die von ihm postulierten Bewegungen der Himmelskörper nur schwer physikalisch oder metaphysisch begründen.

Siehe auch

Literatur

  • Wolfgang Hübener: Ockham’s Razor not Mysterious. In: Archiv für Begriffsgeschichte. 27/1983. S. 73–92 (grundlegende begriffsgeschichtliche Studie; belegt die 'Erfindung' des Ausdrucks in der frühneuzeitlichen Philosophiegeschichtsschreibung)
  • H. J. Cloeren: Art. Ockham’s razor. In: J. Ritter, K. Gründer, G. Gabriel (Hg.): Historisches Wörterbuch der Philosophie. Bd. 6, 1984, Sp. 1094–1096 (berücksichtigt aber nicht die substantiellen frühneuzeitlichen Belegstellen bei Hübener 1983).
  • Armand A. Maurer: Ockham’s razor and Chatton's anti-razor. 1984.
  • Armand A. Maurer: Ockham’s razor and dialectical reasoning. In: Medieval studies. 58/1996. S. 49–56.
  • Phil Mole: Ockham's Razor cuts both ways: The Uses and Abuses of Simplicity in Scientific Theories. In: Skeptic. 1/10. S. 40–47.

Weblinks

Einzelnachweise

  1. Logica vetus et nova (1654), p.320.
  2. zitiert nach Richard Heinzmann: Philosophie des Mittelalters, 2. Auflage Kohlhammer, Stuttgart 1998, 249
  3. Robert Grosseteste argumentiert in dieser Weise, wenn er in einer Abhandlung zu dem allerdings falschen Schluss kommt, dass für alle Lichtstrahlen, welche in ein optisch dichteres Medium eindringen, der Brechungswinkel gleich dem halben Einfallswinkel entspreche (vgl. auch das Prinzip der kleinsten Wirkung).
  4. John Losee: A historical introduction to philosophy of science. Oxford University Press, 1977.
  5. C. Glymour: Theory and Evidence. Princeton University Press, 1980.
  6. G. Harman: The Inference to the Best Explanation. Philosophical Review 74, 88–95, 1965
  7. W. Salmon: The Logic of Scientific Inference. University of Pittsburgh Press, 1967.
  8. K. Kelly: Efficient Convergence Implies Ockham’s Razor. In: Claudio Delrieux (Editor): Proceedings of the 2002 International Workshop on Computational Models of Scientific Reasoning and Applications. Bogart, GA: CSREA.
  9. K. Kelly: A New Solution to the Puzzle of Simplicity. Philosophy of Science, 74, 561–573, 2007
  10. H.Akaike: Information Theory and an Extension of the Maximum Likelihood Principle. In: B. N. Petrov, F. Csaki (Herausg: The Second International Symposium on Information Theory). Akadémiai Kiadó, Budapest 1973, 267–281.
  11. M.Forster, E.Sober: How to Tell When Simpler, More Unified, or Less Ad Hoc Theories Will Provide More Accurate Predictions. In: British Journal for the Philosophy of Science 45: 1–35, 1994
  12. So benannt von Arthur O. Lovejoy.
  13. Kant, Ausgabe der Preußischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 1900ff, AA III, 428–441.
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