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Wagniserziehung

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Unter Wagniserziehung versteht man das pädagogische Heranführen an wertvolle, aber gefahrenhaltige Situationen, Handlungen, Unternehmungen. Wagniserziehung soll beim Erlernen des notwendigen Risikomanagements begleiten und helfen, verantwortungsbewusst mit Bedrohungen umzugehen.

Begriff und Zielausrichtung

Im Gegensatz zur reinen Risikohandlung, die häufig Selbstzweckcharakter annimmt (Kick, Thrill, Nervenkitzel), findet sich die Wagnishandlung in der einschlägigen humanwissenschaftlichen Literatur nahezu durchgängig mit einer ethischen Zielausrichtung verbunden (Wagnis Ehe, Wagnis Glaube, Wagnissport). Die wertvolle Zielsetzung lohnt es, sich für den erwarteten Gewinn durch das Wagnis gewissen Gefahren auszusetzen.[1]

Wagnisbereitschaften und Wagniskompetenzen in verschiedenen Lebensbereichen werden nach Warwitz (Sinnsuche im Wagnis)[2] als notwendige menschliche Leistungspotenziale verstanden, die der Entwicklung der Persönlichkeit Impulse geben, der Wertschöpfung und qualifizierten gesellschaftlichen Teilhabe dienen und somit eine wichtige Funktion auch im aktiven Selbstbildungsprozess des Einzelnen haben.[3]

Lehr- und Lerninhalte

Wagniserziehung im Kindergarten (Thüringen 1955)

Wagniserziehung lehrt Wertausrichtung, wirklichkeitsgerechtes Gefahrenbewusstsein, nüchterne Selbsteinschätzung und eigene Verantwortungsübernahme in kritischen Situationen. Sie strebt eine Kompetenzausbildung im Umgang mit Risiken an.[4] Wer sich im Wagen hohen Risiken aussetzt, muss vom Wert des möglichen Wagnisgewinns überzeugt sein, denn Risiken können Opfer fordern.[2][5]

Wagniserziehung beginnt bereits mit der Ermunterung des Kleinkinds, sich bestimmten Herausforderungen der Umwelt zu stellen (z. B. auf etwas hinauf zu klettern, ins Wasser zu gehen etc). Sie bestärkt den Jugendlichen, sich Prüfungen seines Wissens, Könnens und Charakters zu stellen (sinnvolle Mutproben). Angemessenes Wagnisverhalten (z. B. Zivilcourage bei Belästigung oder Gefährdung Schwächerer) ist jedem Alter und Geschlecht zugänglich und ethisch zuträglich.[6]

Ein wesentliches Lehr- und Lernfeld ist auch der angemessene Umgang mit Ängsten, mit begründeten und unbegründeten, mit Angststörungen (Phobien) wie der (Akrophobie) und Panikattacken.[7] Schließlich spielen gruppendynamische Prozesse beim Wagen, die reflektierte Eingliederung in ein gemeinschaftliches Wagnisvorhaben, aber auch der Mut zum Widerstand gegen wertlose Risikounternehmungen und die Befähigung zu deren Beurteilung eine wichtige Rolle im Lehrkanon.[8]

Folgen der Vernachlässigung

Ein übersteigertes (auch falsch verstandenes) Sicherheitsbedürfnis verhindert allerdings häufig in der familiären Erziehung die notwendige Konfrontation mit Gefahren (vgl. Schulwegtransport im elterlichen Auto).[9] Zudem beeinträchtigen restriktive gesetzliche Auflagen, entsprechende Regressbefürchtungen der Lehrpersonen und eine verbreitete gesellschaftliche Missbilligung gefahrenhaltiger Handlungen (abwertende Begriffe Risikosport, Risiker) auch im Schulbereich oft die Entwicklung einer gesunden Wagnisfähigkeit. Dies führt zu teilweise dramatischen Defiziten in der Persönlichkeitsentfaltung (Wasserscheu, Höhenangst, Duckmäusertum) sowie zu Einschränkungen der Lebensmöglichkeiten (Karriereknick durch Scheu vor Prüfungen, Wettbewerb und Konkurrenz). Eine fehlende oder mangelhafte Wagniserziehung kann wegen der Orientierungslosigkeit bei dynamischen Kindern und Jugendlichen auch zu Risikohandeln ohne Sinnausrichtung führen (zerstörerische Akte, Vandalismus, Rowdytum).[2][10]

Im sozialen Rahmen registriert der Wagnisforscher Siegbert A. Warwitz eine Abnahme der Bereitschaft zu Eigenverantwortung und Zivilcourage und stattdessen starke Tendenzen zu einer Vollkasko-Mentalität und zu Fremdverschiebungen von Verantwortung in den westlichen Gesellschaften. Das nach wie vor vorhandene Abenteuerbedürfnis soll möglichst TÜV-abgesichert sein.[11] In ähnlicher Weise kritisierte der Philosoph Richard D. Precht auf dem International Mountain Summit Kongress in Brixen 2013 den lethargisch und antriebsarm werdenden Durchschnittsbürger, der Gefahr läuft, weitestgehend fremdbestimmt zu leben.[12]

Gesellschaftliche Repräsentanz

Wagniserfahrung ist ein zentraler Bestandteil der Erlebnispädagogik.[13][14], wie sie auf Abenteuerspielplätzen, in den Outward Bound-Schulen[15], im Hochseilgarten, in vielen Jugendorganisationen, im Sportunterricht[16], in der Erwachsenenbildung und in der Teamentwicklung betrieben wird. Außerhalb dieser Angebote ist gezielte Wagniserfahrung aber eher selten zu finden und wird deshalb oft anderswo gesucht (im Straßenverkehr, beim Extremsport, im Glücksspiel, an der Börse).

Die Erziehung zum Wagnis bleibt in der Realität trotz des viel beschworenen, nachweisbaren Bildungswerts einzelnen Erziehungsfeldern wie der Verkehrserziehung[17], engagierten Sportlehrern[18], Institutionen und Organisationen wie dem Deutschen Alpenverein (DAV)[19][20] oder den Privatschulen der Outward-Bound-Bewegung überlassen, die dem Wagnisbedürfnis der Jugend und deren wertorientierter pädagogischer Förderung allerdings große Bedeutung zumessen. Nach Schleske[4], Warwitz[21][22], Lang[23] sollte Wagniserziehung ein elementarer Bestandteil jeder vollwertigen Erziehung sein.

Literatur

  • Michael Birnthaler: Erlebnispädagogik und Waldorfschulen. Eine Grundlegung. Verlag Freies Geistesleben, Stuttgart 2008. ISBN 3-7725-1693-9
  • Tina Blumenstock: Outdoor Education in Australien und Deutschland in schulebezogenem Vergleich. Wiss. Staatsexamensarbeit GHS. Karlsruhe 2000
  • A. Boeger /T. Schut (Hrsg.): Erlebnispädagogik in der Schule: Theorie, Methoden, Wirkungen. Berlin 2005
  • Deutscher Alpenverein (DAV)(Hrsg.): Risiko – Gefahren oder Chancen? Tagungsbericht der Ev. Akademie Bad Boll. München 2004
  • Andi Dick: Vom Recht auf Risiko. In: Berg 2012. Alpenvereinsjahrbuch. Tyrolia. München-Innsbruck-Wien-Bozen 2012. S. 186–195
  • N. Gissel / J. Schwier (Hrsg.): Abenteuer, Erlebnis und Wagnis. Perspektiven für den Sport in Schule und Verein. Hamburg 2003
  • Th. Lang: Kinder brauchen Abenteuer? München. 3. Auflage 2006
  • Hermann Röhrs (Hrsg.): Bildung als Wagnis und Bewährung. Heidelberg 1966
  • B. Runtsch (Red.): Abenteuer – ein Weg zur Jugend? Frankfurt 1993
  • Wolfram Schleske: Abenteuer - Wagnis - Risiko im Sport: Struktur und Bedeutung in pädagogischer Sicht. Schorndorf 1977, ISBN 3778065815
  • Nadine Stumpf: Abenteuer im Schulsport. Was Kinder sich wünschen und wie man diese Wünsche realisieren kann. Wiss. Staatsexamensarbeit GHS. Karlsruhe 2001
  • Judith Völler: Abenteuer, Wagnis und Risiko im Sport der Grundschule. Erlebnispädagogische Aspekte. Wiss. Staatsexamensarbeit GHS. Karlsruhe 1997
  • Siegbert A. Warwitz: Sinnsuche im Wagnis. Leben in wachsenden Ringen. Erklärungsmodelle für grenzüberschreitendes Verhalten. 2., erw. Auflage, Verlag Schneider, Baltmannsweiler 2016, ISBN 978-3-8340-1620-1.
  • Siegbert A. Warwitz: Brauchen Kinder Risiken und Wagnisse? In: Grundschule 11(2002) ISSN 0533-3431
  • Siegbert A. Warwitz: Vom Sinn des Wagens. Warum Menschen sich gefährlichen Herausforderungen stellen. In: DAV (Hrsg) Berg 2006. München-Innsbruck-Bozen 2005. S. 96–111. ISBN 3-937530-10X
  • Siegbert A. Warwitz: Verkehrserziehung vom Kinde aus. Wahrnehmen-Spielen-Denken-Handeln. Baltmannsweiler 1993. 6. Auflage 2009. ISBN 978-3-8340-0563-2
  • Siegbert A. Warwitz: Wachsen im Wagnis. Vom Beitrag zur eigenen Entwicklung. In: Sache-Wort-Zahl 93 (2008) 25-37
  • Siegbert A. Warwitz: Lohnt sich Wagnis - Oder lassen wir uns lieber be-abenteuern? In: Outdoor-Welten 1(2014) Seiten 68 ff. ISSN 2193-2921.

Weblinks

Einzelnachweise

  1. H. Röhrs (Hrsg.): Bildung als Wagnis und Bewährung. Heidelberg 1966
  2. 2,0 2,1 2,2 S. A. Warwitz: Sinnsuche im Wagnis. Leben in wachsenden Ringen. Erklärungsmodelle für grenzüberschreitendes Verhalten. 2., erw. Aufl., Baltmannsweiler 2016. S. 26–31, S. 260–295
  3. S. A. Warwitz: Wachsen im Wagnis. Vom Beitrag zur eigenen Entwicklung. In: Sache-Wort-Zahl 93 (2008) 25-37
  4. 4,0 4,1 W. Schleske: Abenteuer - Wagnis - Risiko im Sport: Struktur und Bedeutung in pädagogischer Sicht,Schorndorf 1977
  5. Wagnis muss sich lohnen (PDF; 637 kB). bergundsteigen.at
  6. N. Gissel / J. Schwier (Hrsg.): Abenteuer, Erlebnis und Wagnis. Perspektiven für den Sport in Schule und Verein. Hamburg 2003
  7. Siegbert A. Warwitz: Warnungen vor dem Wagnis. In: Ders.: Sinnsuche im Wagnis. Leben in wachsenden Ringen. Erklärungsmodelle für grenzüberschreitendes Verhalten. 2., erw. Aufl., Baltmannsweiler 2016. S. 32–39.
  8. Siegbert A. Warwitz: Wagnis muss Wesentliches wollen. In: Ders.: Sinnsuche im Wagnis. Leben in wachsenden Ringen. Erklärungsmodelle für grenzüberschreitendes Verhalten. 2., erw. Aufl., Baltmannsweiler 2016. S. 296–311
  9. S. Warwitz: Verkehrserziehung vom Kinde aus. Baltmannsweiler 2009. S. 10–19 und S. 51–56
  10. B. Runtsch (Red.): Abenteuer – ein Weg zur Jugend? Frankfurt 1993
  11. Siegbert A. Warwitz: Lohnt sich Wagnis - Oder lassen wir uns lieber be-abenteuern? In: Outdoor-Welten 1(2014) Seiten 68 ff
  12. Bericht In: Outdoor-Welten 1(2014) Seite 130
  13. M. Birnthaler: Erlebnispädagogik und Waldorfschulen. Eine Grundlegung. Verlag Freies Geistesleben, Stuttgart 2008.
  14. A. Boeger /T. Schut (Hrsg.): Erlebnispädagogik in der Schule: Theorie, Methoden, Wirkungen. Berlin 2005
  15. T. Blumenstock: Outdoor Education in Australien und Deutschland in schulebezogenem Vergleich. Wiss. Staatsexamensarbeit GHS. Karlsruhe 2000
  16. J. Völler: Abenteuer, Wagnis und Risiko im Sport der Grundschule. Erlebnispädagogische Aspekte. Wiss. Staatsexamensarbeit GHS. Karlsruhe 1997
  17. S. Warwitz: Verkehrserziehung vom Kinde aus. Wahrnehmen-Spielen-Denken-Handeln. Baltmannsweiler 2009. S. 10–19 und S. 51–56
  18. N. Stumpf: Abenteuer im Schulsport. Was Kinder sich wünschen und wie man diese Wünsche realisieren kann. Wiss. Staatsexamensarbeit GHS. Karlsruhe 2001
  19. Deutscher Alpenverein (DAV)(Hrsg.): Risiko – Gefahren oder Chancen? Tagungsbericht der Ev. Akademie Bad Boll. München 2004
  20. Andi Dick: Vom Recht auf Risiko. In: Berg 2012. Alpenvereinsjahrbuch. Tyrolia. München-Innsbruck-Wien-Bozen 2012. S. 186–195
  21. S. Warwitz: Brauchen Kinder Risiken und Wagnisse? In: Grundschule 11(2002)
  22. S. Warwitz: Vom Sinn des Wagens. Warum Menschen sich gefährlichen Herausforderungen stellen. In: DAV (Hrsg) Berg 2006. München-Innsbruck-Bozen 2005. S. 96–111
  23. Th. Lang:Kinder brauchen Abenteuer. München 2006
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