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Schuldunfähigkeit

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Schuldunfähigkeit (andere standardsprachliche Alternative Unzurechnungsfähigkeit, früher Zurechnungsunfähigkeit) ist im Strafrecht ein Grund, die Rechtsschuld an einer Handlung auszuschließen.

Strafrecht Deutschlands

Das Strafrecht Deutschlands beruht in Übereinstimmung mit dem Menschenbild des Grundgesetzes auf dem Schuld- und Verantwortungsprinzip. Wer ohne Schuld handelt, kann deshalb nicht bestraft werden („nulla poena sine culpa“). Im deutschen Strafgesetzbuch wird die Schuldunfähigkeit in den § 19, § 20 und § 21 geregelt. Der § 51 StGB a. F., der von den genannten drei Paragraphen abgelöst wurde, wurde im öffentlichen und privaten Diskurs in Deutschland verbreitet zur Bezeichnung der angenommenen Zurechnungsunfähigkeit einer Person verwendet. Schuldunfähigkeit wird nur bei 0,3 % aller Straftäter angenommen, verminderte Schuldfähigkeit bei 2 bis 3 % der Straftäter.[1]

Schuldunfähigkeit ist nicht mit Deliktsunfähigkeit aus dem Zivilrecht gleichzusetzen, obwohl häufig beide Tatbestände zugleich vorliegen.

Strafgesetzbuch

Kinder

Eine unwiderlegbare gesetzliche Vermutung trifft alle Täter, die zur Tatzeit noch nicht vierzehn Jahre alt (Kind im Rechtssinne) sind. Bei einer Reform nach dem Ersten Weltkrieg wurde die damalige Strafmündigkeit von 12 auf 14 Jahre heraufgesetzt.

Normiert ist dies in § 19 StGB.

Jugendliche

Wer zur Tatzeit zwischen vierzehn und achtzehn Jahren alt ist, ist im Rechtssinne nach § 1 Abs. 2 Jugendgerichtsgesetz (JGG) Jugendlicher und gemäß § 3 JGG strafrechtlich verantwortlich, wenn er zur Zeit der Tat nach seiner sittlichen und geistigen Entwicklung reif genug ist, das Unrecht der Tat einzusehen und nach dieser Einsicht zu handeln. Dies muss durch das Gericht positiv festgestellt werden.

Heranwachsende

Bei Heranwachsenden (18 bis unter 21 Jahre) muss im Einzelfall geprüft werden, ob Jugendstrafrecht oder Erwachsenenstrafrecht angewandt wird.

Erwachsenenstrafrecht

Grundsätzlich wird bei erwachsenen Tätern die Schuldfähigkeit gesetzlich vermutet. Anhaltspunkte für die Schuldunfähigkeit lassen sich oft nur mit medizinischen bzw. psychiatrischen Gutachten bestimmen. Dennoch handelt es sich um eine Rechtsfrage, die das Gericht in alleiniger Verantwortung entscheidet.

Wenn die Einsichts- oder Steuerungsfähigkeit nicht fehlt, aber erheblich vermindert ist, kann eine Strafmilderung nach § 21 StGB stattfinden.

Nach § 20 StGB handelt ohne Schuld, „wer bei Begehung der Tat wegen einer krankhaften seelischen Störung, wegen einer tiefgreifenden Bewußtseinsstörung oder wegen Schwachsinns oder einer schweren anderen seelischen Abartigkeit unfähig ist, das Unrecht der Tat einzusehen oder nach dieser Einsicht zu handeln.“ Schuldunfähig kann also sein, wer im Moment der Tat nicht das Schuldhafte seines Handelns erkennt oder nicht in der Lage ist, sich zu steuern. Die aufgezählten psychischen Ursachen (sogenannte „Eingangskriterien“ oder „-merkmale“) einer geminderten oder nicht vorhandenen Steuerungs- oder Einsichtsfähigkeit stellen Kategorien dar, die in der Psychologie und Medizin ungebräuchlich sind und im Grunde nur im Rechtswesen für die Beurteilung einer Affekthandlung verwendet werden.

Folgende Eingangsmerkmale werden unterschieden:

  1. Unter einer krankhaften seelischen Störung werden hirnorganisch bedingte Zustände – auch verursacht durch psychotrope Substanzen wie Alkohol (Vollrausch) – oder Psychosen verstanden.
  2. Als tiefgreifende Bewusstseinsstörung gelten Erscheinungen, die Bewusstseinsveränderungen oder -einengungen darstellen, die keine Störung von psychopathologischer Relevanz konstituieren. Hierzu zählen Erschöpfung, Ermüdung, Schlaftrunkenheit, speziell Parasomnie und vor allem emotionale Zustände der Verwirrtheit, die dazu führen können, dass eine Tat im Affekt begangen wird (zum Beispiel unter Verlust der Steuerungsfähigkeit). Ein Versuch, derartige Zustände dennoch psychiatrisch diagnostizierbar zu machen, besteht in der Klassifizierung als akute Belastungsreaktion. Die Blutalkoholkonzentration zum Tatzeitpunkt ist ein wichtiger Anhaltspunkt für das Vorliegen einer tiefgreifenden Bewusstseinsstörung. Ab 2,0 Promille wird im Allgemeinen eine verminderte Schuldfähigkeit angenommen, bei Tötungsdelikten ab 2,2 Promille. Ab 3,0 Promille wird im Allgemeinen eine Schuldunfähigkeit angenommen, bei Tötungsdelikten wegen der höheren Hemmschwelle im Allgemeinen erst ab 3,3 Promille.
  3. Als Schwachsinn werden Stufen angeborener Intelligenzschwäche ohne nachweisbare Ursache bezeichnet (Intelligenzminderung). Intelligenzschwächen, die im Zuge einer Demenz entstehen, werden indessen dem ersten Eingangskriterium zugeordnet. Für die Feststellung einer geistigen Behinderung wird unter anderem auf den Intelligenzquotienten (IQ) abgestellt. Dabei wird zwischen leichter geistiger Behinderung (IQ 50 bis 70), einer mäßigen geistigen Behinderung (IQ von 35 bis 49), einer schweren geistigen Behinderung (IQ 20 bis 34) und einer schwersten geistigen Behinderung (IQ unter 20) unterschieden.
  4. Unter das Eingangskriterium schwere andere seelische Abartigkeit (häufig SASA abgekürzt) fallen eine ganze Reihe psychopathologischer Diagnosen. Darunter werden Persönlichkeitsstörungen, Paraphilien, Störungen der Impulskontrolle, Alkoholismus und andere substanzgebundene Abhängigkeiten sowie nicht-substanzgebundene Abhängigkeiten verstanden.

Rechtsfolgen

Der schuldunfähige Täter kann zwar nicht bestraft werden, aber psychisch kranke oder suchtkranke Rechtsbrecher, die im Sinne von § 20 oder § 21 StGB als schuldunfähig oder vermindert schuldfähig gelten und bei denen zugleich unter Gesamtwürdigung des Täters und seiner Tat eine weitere Gefährlichkeit zu erwarten ist, können nach § 63 und § 64 StGB im Maßregelvollzug untergebracht werden. Diese Rechtsfolgen sind auch für Jugendliche ab 14 Jahren anwendbar, wenn § 3 JGG bejaht wird. In diesen Fällen erfolgt die Unterbringung im Jugendmaßregelvollzug, der allerdings noch nicht in allen Bundesländern eingerichtet ist.

Die Unterbringung im Maßregelvollzug ist jedoch für Bagatellstraftaten ausgeschlossen. Vielmehr muss sie als ultima ratio notwendig sein, um die Allgemeinheit zu schützen.

Zivilrechtlichen Schadensersatz (§ 823 BGB) muss auch ein Schuldunfähiger leisten, wenn er nicht zugleich deliktsunfähig ist.

Registereintragung

Die Schuldunfähigkeit kann in jeder Lage des Verfahrens (Ermittlungsverfahren, Zwischenverfahren, Hauptverfahren) festgestellt werden und beendet das Verfahren. Im Ermittlungsverfahren kann die Staatsanwaltschaft das Verfahren durch Verfügung einstellen.

In allen Fällen wird die Verfahrensbeendigung im Bundeszentralregister registriert, wenn die Entscheidung sich auf das Gutachten eines Sachverständigen stützt und das Gutachten bei der Entscheidung nicht älter als 5 Jahre ist (§ 11 Absatz 1 BZRG).

Die Eintragung wird nach 10 bzw. 20 Jahren gelöscht (§ 24 Absatz 3 BZRG).

Obwohl es nicht gesetzlich normiert ist, wird die Eintragung aufgrund eines Aktengutachtens nicht angezeigt sein. Daher kann ein Beschuldigter die Eintragung durch Verweigerung der Untersuchung möglicherweise verhindern. Da für die Anwendung des § 20 StGB der Grundsatz in dubio pro reo gilt, ist die Verfahrensbeendigung auch ohne Gutachten möglich, da es sich um eine Rechtsfrage handelt, die das Gericht in eigener Verantwortung treffen muss. In einfach gelagerten Fällen ist es also nicht zwingend erforderlich, ein Sachverständigengutachten einzuholen, namentlich in Fällen, in denen das Gericht genügend Sachkunde hat und der Sachverhalt sehr offenkundig ist.

Actio libera in causa

Ein juristisches Sonderproblem stellen Fälle dar, in denen der Täter sich vor Begehung der Tat vorsätzlich in einen Zustand der Schuldunfähigkeit versetzt hat (etwa durch die Herbeiführung eines Vollrausches), oder schon beim Berauschen den später in schuldunfähigem Zustand herbeigeführten Erfolg hätte voraussehen können und müssen. Diese Problematik wird als actio libera in causa bezeichnet. Ob und mit welcher Begründung der Täter dann trotz eigentlich fehlender Schuld zur Tatzeit bestraft werden kann, ist in der Rechtswissenschaft umstritten.

Sonstiges

Im Rahmen eines Strafverfahrens kamen Anfang der 1960er Jahre dem zuständigen Amtsrichter Zweifel an der Zurechnungsfähigkeit des Angeklagten. Um diese Frage zu klären, hielt der Richter eine Entnahme von Liquor cerebrospinalis, d. h. Gehirn- und Rückenmarkflüssigkeit, für erforderlich, was einen schmerzhaften und nicht risikofreien medizinischen Eingriff bedeutet hätte. Als der Angeklagte seine Zustimmung zu diesem Eingriff verweigerte, ordnete das Amtsgericht ihn auf Grundlage einer strafprozessualen Vorschrift (§ 81a StPO) an. Hiergegen erhob der Angeklagte Verfassungsbeschwerde beim Bundesverfassungsgericht (BVerfG). Das BVerfG fällte 1963 die sogenannte Liquorentnahme-Entscheidung. Sie ist historisch und verfassungsrechtlich bedeutsam, da sie das wechselseitige Verhältnis von staatlichen Eingriffsbefugnissen und individuellen Freiheitsrechten (hier: Recht auf körperliche Unversehrtheit) abgrenzte und klarstellte, dass nach dem Verhältnismäßigkeitsgrundsatz die Anwendung eines an sich verfassungsgemäßen Gesetzes im Einzelfall verfassungswidrig sein kann.

Strafrecht Schweiz

Schuldunfähigkeit und verminderte Schuldfähigkeit sind in Art. 19Vorlage:Art./Wartung/ch-Suche des Schweizerischen Strafgesetzbuches vom 21. Dezember 1937 geregelt.

Dass geisteskranke Verbrecher einer Heilanstalt statt einer Strafanstalt zugeführt werden, war dem damaligen Direktor der Psychiatrischen Universitätsklinik Zürich (Burghölzli) Auguste Forel ein wichtiges Anliegen. So führte er, der u.a. als Arzt und Professor tätig war, den Begriff der verminderten Zurechnungsfähigkeit ein und widmete diesem Thema 1901 einen vielbeachteten Vortrag in der Schweizerischen Gesellschaft für ethische Kultur in Zürich, Über die Zurechnungsfähigkeit des normalen Menschen, der bis 1907 in 6 Auflagen gedruckt veröffentlicht wurde.

Verwandte Rechtsbegriffe

Weitere rechtliche Fähigkeiten

Literatur

  • Michael Brünger, Wolfgang Weissbeck (Hrsg.): Psychisch kranke Straftäter im Jugendalter. MWV, Berlin 2008, ISBN 978-3-939069-46-1.
  • Frank Czerner: „Minderjährige hinter Schloß und Riegel?“ Freiheitsbeschränkende bzw. -entziehende Maßnahmen gegenüber Kindern, und Jugendlichen, PDF-Dokument.
  • Klaus Förster, Ulrich Venzlaff: Psychiatrische Begutachtung. Ein praktisches Handbuch für Ärzte und Juristen. 4. Auflage. Elsevier, Urban & Fischer, München 2004, ISBN 3-437-22900-1.
  • Adrian Schmidt-Recla: Theorien zur Schuldfähigkeit. Psychowissenschaftliche Konzepte zur Beurteilung strafrechtlicher Verantwortlichkeit im 19. und 20. Jahrhundert. Eine Anleitung zur juristischen Verwertbarkeit. Leipziger Universitäts-Verlag, Leipzig 2000, ISBN 3-933240-76-X (Leipziger juristische Studien – Strafrechtliche Abteilung 4; zugleich: Leipzig, Univ., Diss., 1999).
  • Claus Roxin: Strafrecht. Allgemeiner Teil. (Band 1). 3. Auflage. Beck Verlag, München 1997, ISBN 3-406-42507-0, S. 752–792.
  • Markus C. Schulte von Drach: Der fremde Wille. Kiepenheuer & Witsch, Köln 2009, ISBN 978-3-462-04114-9 (als Taschenbuch: Der Parasit. Droemer/Knaur, München 2010, ISBN 978-3-426-50443-7).
  • Wolfgang Weissbeck: Jugendmaßregelvollzug in Deutschland. Basisdokumentation. MWV, Berlin 2009, ISBN 978-3-939069-94-2.
  • Yuri Yamanaka: Maßnahmen bei psychisch kranken Straftätern. Herbert Utz Verlag, München 2008, ISBN 978-3-8316-0829-4.

Weblinks

Einzelnachweise

  1. Konstantin Karyofilis (forensischer Psychiater), Ärztezeitung, 27./28. Februar 2015, S. 8.
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