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Tiefsinn

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Tiefsinn

Tiefsinn ist in zweierlei Hinsicht zu differenzieren: Als Bedeutungsdimension literarischer Texte bzw. zeichenhafter Formation generell und als geistige Haltung im Sinne eines "grübelnden" Denkens. In den Vordergrund tritt diese Haltung vor allem mit der europäischen Romantik: War die europäische Aufklärung von Witz und Scharfsinn geprägt, orientierte sich die religiös-enthusiastische Lyrik der Stürmer und Dränger vor allem an der Erfahrung der Höhe, so entdeckt die Romantik den Tiefsinn und die "Dimension der Tiefe"[1].

Tiefsinn als Textdimension

Erich Auerbach sprach vom Tiefsinn der alttestamentlichen Texte und unterschied diesen vom homerischen Stil einer Ästhetik der Oberfläche.[2]. Diese Unterscheidung geht zurück auf Heinrich Wölfflins These von der Tiefenhaftigkeit der Barockmalerei, die Auerbach in seiner Studie Mimesis seinem Vergleich von Bibel und Homer zugrunde legte.

Tiefsinn im Barock

Die Vorstellung vom tiefsinnigen Barockzeitalter geht auf Walter Benjamin zurück. Benjamin wiederum bezog sich auf Albrecht Dürers melancholisches Grübeln und legte dieses seiner Konzeption von Trauerspiel, Melancholie und Allegorie zugrunde. Der barocke Melancholiker spiegelt sich in der Allegorie, weil sein tiefsinniges Naturell keine endgültige Erkenntnis, sondern nur eine unendliche Ähnlichkeit zwischen allen Wesen findet, ein einziger Sinn aber unauffindbar ist: „Gespenster wie die tief bedeutenden Allegorien sind Erscheinungen aus dem Reiche der Trauer; durch den Trauernden, den Grübler über Zeichen und Zukunft, werden sie angezogen.“[3].

Tiefsinn der Aufklärung

Nach Lothar Pikulik war schon die Empfindsamkeit eine Epoche tiefsinnigen Grübelns, was etwa anhand von Lavaters "Geheimes Tagebuch. Von einem Beobachter Seiner Selbst" deutlich werde. „Tiefsinnigkeit (melancholia)" begriff Immanuel Kant als einen „Wahn von Elend …, den sich der trübsinnige (zum Grämen geneigte) Selbstquäler schafft“.[4]. Friedrich Heinrich Jacobi hingegen verstand seinen „kindischen Tiefsinn“ als ein „Nachgrübeln über die Ewigkeit a parte ante“[5]. Die Entstehung von Tiefsinn im 18. Jahrhundert untersuchte zudem Steffen Martus am Beispiel von Hagedorn, Gellert und Wieland.[6]

Tiefsinn der Romantik

Der Literaturwissenschaftler Northrop Frye zeigte den romantischen Tiefsinn am Beispiel von William Blake und Percy Bysshe Shelley, ähnliches bemerkte später Theodore Ziolkowski für die deutsche Romantik. Die leitmotivische Reise ins Innere eines Bergwerks etwa, wie sie das romantische Kunstmärchen von Novalis über Ludwig Tieck bis hin zu E.T.A. Hoffmann prägte, ist nach Ziolkowski ein Ausdruck von Tiefsinn. Novalis‘ Held Heinrich von Ofterdingen etwa vollzieht anhand einer Reise ins Berginnere auch eine Reise nach innen, eine „Bewegung zu sich selbst“. Die romantische Tiefendimension erkundet „Bergwerke der Seele“ und erschließt so drei wesentliche Dimensionen menschlicher Erfahrung: „Geschichte, Religion und Sexualität.“[7]. Schon Friedrich Schlegel sprach vom „unergründlichsten und verwickelsten Tiefsinn“[8] , wie er sich – hierin folgt Schlegel Tiecks Roman "Franz Sternbalds Wanderungen" – im Werk Albrecht Dürers zeigt. Carl Gustav Carus betonte später einen antiplatonischen Aspekt und verstand Tiefsinn als „diejenige Richtung des Geistes, welche sich gegen die Erforschung der Idee selbst kehrt“[9].

Tiefsinn der Moderne

Arthur Schopenhauer rühmte den „Tiefsinn“ Immanuel Kants, während er Fichte, Schelling und Hegel vorwarf, sie gäben sich ein „tiefsinniges Ansehen“[10]. dadurch, dass sie eine „Maske der Unverständlichkeit“ aufsetzten. Friedrich Nietzsche folgt diesem Argument: Menschliches, Allzumenschliches II betont, das „Publikum“ verwechsle „leicht den, welcher im Trüben fischt, mit dem, welcher aus der Tiefe schöpft“, und im § 126 der Fröhlichen Wissenschaft heißt es entsprechend: „Wer sich tief weiß, bemüht sich um Klarheit, wer der Menge tief erscheinen möchte, bemüht sich um Dunkelheit.“[11]. Auch Theodor W. Adorno schließt in "Philosophische Terminologie" daran an: „Zu dem Begriff der Tiefe erinnere ich Sie daran, dass man die Tiefe weder in der leeren Spekulation in ein Absolutes noch in der ebenso leeren Versenkung ins eigene Ich finden kann."[12]. Autoren wie Georg Trakl, Rainer Maria Rilke oder Walter Benjamin aber bezeugen, dass trotz der Kritik Nietzsches das Erbe romantischen Tiefsinns und Grübelns weiterhin verpflichtet. Im Rahmen seiner Baudelaire-Studien führte Benjamin den Tiefsinn unter dem Stichwort des „erinnernden Denkens“, welches theoretisch im Passagen-Werk, poetologisch in den Prosaschriften Berliner Chronik sowie Berliner Kindheit um 1900 von 1936 umgesetzt wird. Eine ähnliche, wenngleich weit radikalere Tiefenexpedition ist in Rilkes Die Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge angelegt. In diesem Text wird die Metapher der Tiefe, des Brunnens und des Absturzes etwa in der Erinnerung Maltes an sein Elternhaus bemüht: „Es ist, als wäre das Bild dieses Hauses aus unendlicher Höhe in mich hineingestürzt und auf meinem Grund zerschlagen.“[13]. Hans-Georg Kemper analysierte zudem "Trakls magische Verwandlung von sprachlichem Unsinn in Traklschen Tiefsinn".[14]

Fußnoten

  1. Inka Mülder-Bach: Tiefe. Zur Dimension der Romantik, in: Räume der Romantik, hg.v. Inka Mülder-Bach und Gerhard Neumann, München 2007, S. 83-102
  2. Erich Auerbach: Mimesis. Dargestellte Wirklichkeit in der abendländischen Literatur, Bern 1946, S. 14.
  3. Walter Benjamin: Ursprung des deutschen Trauerspiels, in: Ders.: Gesammelte Schriften, Band I1, S. 370.
  4. Immanuel Kant: Der Streit der Fakultäten. Anthropologie in pragmatischer Hinsicht, in: Ders.: Akademie-Ausgabe Band 7, S. 213.
  5. Friedrich Heinrich Jacobi: Werke, IV, 2, hg.v. Friedrich Roth und Friedrich Köppen, Darmstadt 1968, S. 67f.
  6. Steffen Martus: Die Entstehung von Tiefsinn im 18. Jahrhundert. Zur Temporalisierung der Poesie in der Verbesserungsästhetik bei Hagedorn, Gellert und Wieland. In: Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 74, 2000, S. 27-43.
  7. Theodor Ziolkowski: Das Bergwerk: Bild der Seele, in: Ders.: Das Amt der Poeten. Die deutsche Romantik und ihre Institutionen, München 1994, S.46f.
  8. Friedrich Schlegel: Nachricht von den Gemählden in Paris. An einen Freund in Dresden, in: Europa 1803, 1.Bd.1.St., S.154f.
  9. Carl Gustav Carus: Vorlesungen über Psychologie, geh. im Winter 1829/30 zu Dresden, Erlenbach ; Zürich ; Leipzig 1931, S. 409.
  10. Arthur Schopenhauer: Die Welt als Wille und Vorstellung I, Anhang: Kritik der Kantischen Philosophie (1819/44), in: Sämtliche Werke, hg. v. A. Hübscher, 31972; 2, S. 496
  11. Friedrich Nietzsche: KSA III, S. 500.
  12. Theodor W. Adorno: Philosophische Terminologie, Band 1, Frankfurt am Main 1973, S.200f.
  13. Rainer Maria Rilke: Die Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge, in: Ders.: Werke VI, hg.v. Rilke-Archiv in Verbindung mit Ruth Sieber-Rilke, Frankfurt am Main, S. 729.
  14. Hans-Georg Kemper: »Und dennoch sagt der viel, der ›Trakl‹ sagt«. Zur magischen Verwandlung von sprachlichem ›Un-Sinn‹ in Traklschen ›Tief-Sinn‹, in: Georg Trakl und die literarische Moderne, hg. v. Károly Csúri, Berlin, New York 2009, Seiten 1–30.

Literatur

  • Northrop Frye: The Drunken Boat: The Revolutionary Element in Romanticism“, in: Ders., Romanticism Reconsidered. Selected Papers from the English Institute, New York 1963.
  • Burkhard Meyer-Sickendiek: Tiefe. Über die Faszination des Grübelns, Fink Verlag, Paderborn/München 2010. ISBN 978-3-7705-4952-8.
  • Lothar Pikulik: Die Frühromantik in Deutschland als Ende und Anfang. Über Tiecks William Lovell und Friedrich Schlegels Fragmente, in: Silvio Vietta (Hg.): Die literarische Frühromantik, Göttingen 1983.
  • Theodor Ziolkowski: Das Bergwerk: Bild der Seele, in: Ders.: Das Amt der Poeten. Die deutsche Romantik und ihre Institutionen, München 1994, S. 29-82.
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