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Sprachgefühl

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Als Sprachgefühl bezeichnet man das intuitive, unreflektierte und unbewusste Erkennen dessen, was als sprachlich richtig und angemessen bzw. als sprachlich falsch oder nicht angemessen empfunden wird (insbesondere in Wortwahl und Satzbau). Geprägt wird es im Zuge des Erwerbs der Muttersprache, wobei Herkunft, soziales Umfeld und Bildung und die entsprechenden sprachlichen Erfahrungen des Kindes eine maßgebliche Rolle spielen. Durch intensive und bewusste Beschäftigung mit der Sprache kann das Sprachgefühl aber auch in späteren Jahren modifiziert und intensiviert werden.

Die Entwicklung von Sprachgefühl in der Muttersprache

Der Erwerb der Muttersprache geschieht von Anfang an in einer ständigen Auseinandersetzung des Kindes mit seiner Umwelt. Es lernt einerseits, sich als Individuum in diese Umwelt einzupassen, andererseits sprachlich so auf diese einzuwirken, dass seine wechselnden und wachsenden Bedürfnisse befriedigt werden. Im Zuge dieses Sozialisationsprozesses verarbeitet es begrifflich die für ihn relevanten Ereignisse dieser Umwelt – zu denen auch sprachliche Äußerungen gehören.

Nach den Ansichten des Konstruktivismus konstruiert ein Kind so unbewusst sein individuelles System der Regelhaftigkeiten seiner Muttersprache. Das Ergebnis dieser Konstruktionen wird in der Sprachwissenschaft als „kommunikative Kompetenz“ bezeichnet, das intuitive Bewusstsein davon als „Sprachgefühl“[1].

Sprachgefühl und sprachliche Norm

Tendenziell ist das Sprachgefühl konservativ; es empfindet die Übereinstimmung mit den gelernten und vertrauten sprachlichen Normen als besonders verständlich und treffend, das Abweichende als irritierend und unklar oder unverständlich. Eine bewusste Auseinandersetzung mit Sprache und den Erwartungen ihrer Sprecher stellt die Sprachkritik dar, die in der Regel dazu neigt, auf dem Herkömmlichen zu beharren, und die Literatur, zu deren Mitteln auch der absichtsvolle Verstoß gegen sprachliche Normen gehört.

Sprachgefühl in der Linguistik

Entsprechend der obigen Definition findet die Diskussion des Begriffs „Sprachgefühl“ vor allem in den linguistischen Disziplinen Soziolinguistik und Psycholinguistik statt. Dabei macht die einschlägige Fachliteratur deutlich, dass Sprachgefühl kaum objektivierbar ist.[2] Allerdings befasst sich die Semantik seit den 1980er Jahren, unter Rückgriff auf Ergebnisse der Fuzzy-Logik, mit dem Phänomen der sog. Fuzziness sprachlicher Phänomene (Begriffe, Äußerungen) und versucht so, dem Phänomen des „Sprachgefühls“ näher zu kommen.[3]

Aufbauend auf Überlegungen des polnischen Philosophen Jan Łukasiewicz entwickelte der Mathematiker Lotfi Zadeh seine Theorie der „graduellen Klassenzugehörigkeit“ („graded membership“). Danach wird bei der Frage, ob ein „Objekt“ zu einer bestimmten Klasse gehört, nicht nur zwischen „0“ (= kein Element der Klasse) und „1“ (= Element der Klasse) unterschieden; die Werte können vielmehr irgendwo zwischen „0“ und „1“ liegen. Das heißt, wir können ein Objekt als „ein Mittelding zwischen einem Becher und einer Tasse“ oder als „so etwas wie ein Pfannkuchen“ erkennen und bezeichnen oder wir können uns fragen, ob ein Pinguin ein Vogel oder ein Säugetier ist. Klasseneinteilungen, d. h. die Grenzen einer Klasse gegenüber anderen Klassen, sowie die Zugehörigkeit einzelner Elemente zu einer Klasse werden damit „unscharf“ („fuzzy“).

Bekannt geworden sind in diesem Zusammenhang die Versuche der Psychologin Eleanor Rosch.[4] Rosch versteht „Namen“ als Merkmalbündel, deren charakteristische Merkmale von den „Prototypen“ der jeweiligen Kategorie repräsentiert werden, also von Beispielen mit einem sehr hohen Grad an Klassenzugehörigkeit. Zum Beispiel sind Rotkehlchen „typische“ Vertreter der Klasse der „Vögel“, Pinguine dagegen nicht.

In der Alltagssprache spielen auch Ausdrücke wie „sehr“, „ziemlich hoch“, „durchschnittlich“, „etwas“ oder „kaum“; „meistens“, „oft“, „gelegentlich“, „selten“; „wahrscheinlich“; „die meisten“, „viele“, „manche“ oder „wenige“ eine große Rolle. Solche Ausdrücke, so genannte „Heckenausdrücke“, spiegeln Werte wider, mit denen Menschen in ihrem täglichen Leben meist unbewusst umgehen. Ein „Experte“ auf einem bestimmten Gebiet kann mit solchen Werten (z. B. „etwas Salz hinzugeben“) meistens besser, d. h. schneller und effizienter, arbeiten als mit genauen Messwerten.

Ebenso arbeiten grammatische Handbücher, insbesondere Schulgrammatiken, mit „prototypischen“ Verwendungssituationen und -bedingungen für die Anwendung bestimmter grammatischer Regeln. Diese „Standardsituationen“ lassen sich jedoch oft nur schwer auf Situationen des täglichen Lebens übertragen. Hieraus ergeben sich für Sprachlernende große Schwierigkeiten bei der Übertragung schulischen Regelwissens auf natürliche Sprechsituationen.

Im Gegensatz dazu werden Klasseneinteilungen und -zugehörigkeiten von muttersprachlichen Sprechern im Allgemeinen spontan und mit großer Übereinstimmung getroffen. Dies ist ein Ergebnis eines vieltausendjährigen Evolutionsprozesses, der dahin zielte, die kognitive Verarbeitung von Erscheinungen der Umwelt zu vereinfachen und zu beschleunigen, und der sich im Bereich der Sprachverwendung als „Sprachgefühl“ manifestiert.

Anmerkungen und Quellen

  1. Timm 1995, S. 125. - Vgl. auch Köller, Wilhelm (1988), Philosophie der Grammatik, Vom Sinn grammatischen Wissens, (J.B. Metzlerische Verlagsbuchhandlung) Stuttgart, S. 37
  2. Vgl. zum Beispiel Gipper 1976; Gauger & Oesterreicher 1982.
  3. Vgl. auch Timm 1995.
  4. Vgl. z. B. Rosch & Lloyd, 1978.

Literatur

  • Helmut Gipper: „Sprachgefühl“, „Introspektion“ und „Intuition“. Zur Rehabilitierung umstrittener Begriffe in der Sprachwissenschaft“. In: Wirkendes Wort. 26, Heft 4, 1976, S. 240-245.
  • Hans-Martin Gauger & Wulf Oesterreicher: Sprachgefühl und Sprachsinn. In: Wulf Oesterreicher, Helmut Henne, Manfred Geier & Wolfgang Müller: Sprachgefühl? Vier Antworten auf eine Preisfrage (= Preisschriften der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung). Schneider, Heidelberg 1982, ISBN 3-7953-0272-2
  • Miriam Langlotz, Nils Lehnert, Susanne Schul, Matthias Weßel (Hrsg.): SprachGefühl. Interdisziplinäre Perspektiven auf einen nur scheinbar altbekannten Begriff. Peter Lang, Frankfurt am Main u.a. 2014, ISBN 978-3-631-64827-8.
  • Johannes-Peter Timm: Die „Fuzziness“ der Sprache als Begründung für einen ganzheitlich-funktionalen, erfahrungsorientierten Grammatikunterricht. In: Johannes-Peter Timm (Hrsg.): Ganzheitlicher Fremdsprachenunterricht. Deutscher Studien Verlag, Weinheim 1995, S. 120-148.
  • Dieter E. Zimmer: Sprache in Zeiten ihrer Unverbesserlichkeit. Hoffmann und Campe, Hamburg 2005, ISBN 3-455-09495-3

Siehe auch

Weblinks

Wiktionary: Sprachgefühl – Bedeutungserklärungen, Wortherkunft, Synonyme, Übersetzungen
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