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Sozialistengesetz

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Reichsgesetzblatt mit dem Gesetz gegen die gemeingefährlichen Bestrebungen der Sozialdemokratie

Das in der deutschsprachigen Geschichtsschreibung zumeist als Sozialistengesetz bezeichnete „Gesetz gegen die gemeingefährlichen Bestrebungen der Sozialdemokratie“, wegen seiner verschiedenen Einzelbestimmungen in 30 Paragraphen, der jährlichen Neuvorlage und kleinen Modifizierungen in der internationalen Historiografie oft auch im Plural unter Sozialistengesetze firmierend (oder – im Deutschen seltener – antisozialistische Gesetze), wurde am 19. Oktober 1878 mit der Stimmenmehrheit der konservativen und der meisten nationalliberalen Abgeordneten im Reichstag des Deutschen Kaiserreichs verabschiedet. Zwei Tage später, am 21. Oktober, stimmte der Bundesrat dem Gesetz zu. Nachdem es durch Kaiser Wilhelm I. (Kronprinz Friedrich in Vertretung) unterzeichnet worden war, erhielt das Sozialistengesetz am 22. Oktober 1878 mit seiner Verkündung[1] Rechtskraft und galt durch Verlängerungen bis zum 30. September 1890.

Das Gesetz verbot sozialistische und sozialdemokratische Organisationen und deren Aktivitäten im Deutschen Reich. Es kam damit einem Parteiverbot gleich.

Ideologisch entsprechend orientierte Politiker konnten sich in der Zeit lediglich als Einzelkandidaten persönlich einer Parlamentskandidatur für die Landtage und den Reichstag stellen, wurden in ihren Wahlkämpfen von den Behörden jedoch massiv behindert. Als gewählte Parlamentarier bildeten sie dennoch eine sozialistische Fraktion im Reichstag und einigen Landtagen, als die sie außerhalb der Parlamente jedoch keine legal gesicherte Möglichkeit hatten, öffentlich aufzutreten.

Vorgeschichte und Anlässe

Schon vor der 1871 erfolgten Gründung des Deutschen Reiches als konstitutionelle Monarchie waren mit dem eher reformorientierten Allgemeinen Deutschen Arbeiterverein (ADAV), gegründet 1863 auf Initiative von Ferdinand Lassalle, und der sich in einem marxistischen Sinn als revolutionär-sozialistisch verstehenden Sozialdemokratischen Arbeiterpartei (SDAP), gegründet 1869 unter anderen von Wilhelm Liebknecht und August Bebel, zwei zunächst noch gegeneinander konkurrierende sozialdemokratische Parteien aufgebaut worden. Nach dem kurz nach der Reichsgründung 1871 erfolgten Rücktritt des preußenfreundlichen ADAV-Präsidenten Johann Baptist von Schweitzer in Folge der Aufdeckung geheimer Absprachen mit der konservativ-monarchistisch geprägten preußischen Regierung hatten sich beide Parteien einander zunehmend angenähert, bis sie sich beim gemeinsamen Parteitag 1875 in Gotha zur Sozialistischen Arbeiterpartei Deutschlands (SAPD), die 1890 in Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD) umbenannt werden sollte, vereinigt hatten.

Wilhelm Liebknecht (in der Mitte im Zeugenstand stehend) und August Bebel (am rechten Bildrand sitzend im Profil) sowie hinter Bebel Adolf Hepner als Angeklagte beim Leipziger Hochverratsprozess 11. - 26. März 1872.

Die Begriffe Sozialismus und Sozialdemokratie wurden im damaligen Sprachverständnis in der Regel als Synonyme verstanden und waren stark beeinflusst von den philosophischen, politischen und ökonomischen Theorien von Karl Marx und Friedrich Engels, die zu dieser Zeit im Londoner Exil lebten. Entsprechend der revolutionären Theorie beanspruchte die Sozialdemokratie bzw. ihre Partei im Deutschen Reich, die SAPD, die parteipolitische Interessenvertretung der Arbeiterbewegung zu sein. Sie strebte eine Verbesserung der sozialen Lage der Arbeiterklasse und letztlich eine Überwindung der gegebenen sozialen und politisch undemokratischen Herrschaftsstrukturen an.

Reichskanzler Otto von Bismarck, im Grunde ein am monarchischen Prinzip ausgerichteter und demokratischen Ideen gegenüber reserviert bis ablehnend eingestellter Konservativer, betrachtete die SAPD von Anfang an als „Reichsfeind“ und agierte schon vor dem Sozialistengesetz mit repressiven Maßnahmen gegen die Sozialdemokratie und die noch junge Gewerkschaftsbewegung. Wegen ihrer Opposition gegen den Deutsch-Französischen Krieg von 1870/71 und ihrer Solidarität mit der revolutionären Pariser Kommune 1871 waren August Bebel und Wilhelm Liebknecht bereits 1872 beim Leipziger Hochverratsprozess zu zwei Jahren Festungshaft verurteilt worden.

Otto von Bismarck (1815–1898), Reichskanzler, Initiator des Sozialistengesetzes, Fotografie von 1886

Als 1878 – am 11. Mai von Max Hödel und am 2. Juni von Dr. Karl Eduard Nobiling – zwei erfolglose Attentate auf Kaiser Wilhelm I. verübt worden waren, nahm Bismarck diese Anschläge zum Anlass, mit dem Sozialistengesetz rigoroser und wirkungsvoller gegen die in der Arbeiterschaft zunehmend einflussreicher werdende Sozialdemokratie durchzugreifen. Wahrheitswidrig ließ er verbreiten, dass die Attentate auf die Sozialdemokratie zurückzuführen seien, obwohl Hödel kurz vor seinem Anschlag aus der SAPD ausgeschlossen worden war, und Nobilings Attentat von persönlichen Wahnvorstellungen geleitet war. Politische Motive bzw. für die Attentate ursächliche Verbindungen mit der Sozialdemokratie waren und sind bis heute nicht nachweisbar.

Bereits im Mai 1878 hatte Bismarck einen Sozialistengesetzentwurf vorgelegt, der jedoch mit großer Mehrheit abgelehnt worden war.[2] Eugen Richter begründete die Ablehnung der Deutschen Fortschrittspartei unter anderem damit, dass Verbote und Polizeimassnahmen die Bekämpfung der Sozialdemokratie unmöglich machen würden:[3][4]

„Der Herr Minister mag sagen: ja, die Mittel reichen nicht, es muß außerdem noch etwas geschehen zur Bekämpfung der Agitation; aber, meine Herren, in dem Augenblick, wo Sie die eine Partei mundtodt machen, da machen Sie es doch ganz unmöglich, diese Partei zu bekämpfen, wenigstens wirksam zu bekämpfen in ihrer Agitation. Es wird ja diese ganze Kraft gelähmt, und doch müssen wir der Meinung sein, daß schließlich allein auf diesem Weg der Ueberzeugung diese Bewegung eingeschränkt werden kann. Es hilft nun einmal nichts, diese Bewegung muß auf demselben Wege wieder hinaus aus dem deutschen Volke, wo sie hineingekommen ist; ein anderer Weg führt nicht zum Ziel.“

Eugen Richter: Rede im Deutschen Reichstag vom 23. Mai 1878

Erst im Herbst setzte sich im zwischenzeitlich neu gewählten Reichstag ein verschärfter Entwurf mit 221 zu 149 Stimmen durch,[5] nachdem es im Vorfeld zu Auseinandersetzungen zwischen den einzelnen Fraktionen im Reichstag gekommen war. Die meisten Nationalliberalen billigten das Ausnahmegesetz erst unter dem Eindruck des zweiten Attentats auf den Kaiser, bei dem dieser erheblich verletzt worden war. Die darauf einsetzende Attentatshysterie nutzte Bismarck dazu, den Reichstag aufzulösen und einen „Vernichtungsfeldzug“ gegen die Sozialdemokraten zu inszenieren, denen man geistige Mittäterschaft vorwarf. Die meisten Nationalliberalen warfen nun ihre rechtsstaatlichen Prinzipien über Bord, nachdem sie sich im Juli im Wahlkampf dem konservativen Rechtsruck angepasst hatten, um ihre Wiederwahl zu sichern.

Auswirkungen

Aufgrund des zunächst auf zweieinhalb Jahre befristeten und danach regelmäßig verlängerten Sozialistengesetzes wurden Unterverbände, Druckschriften und Versammlungen der Sozialdemokraten, namentlich der Sozialistischen Arbeiterpartei (SAP) und ihr nahestehender Organisationen, vor allem Gewerkschaften, verboten. Verstöße gegen das Gesetz wurden oft mit Geldstrafen oder auch mit Gefängnishaft geahndet. Viele Sozialisten setzten sich unter dem repressiven politischen Druck des Gesetzes ins ausländische Exil ab, vor allem nach Frankreich, die Schweiz oder England. Unter ihnen war mit der damals Mitte 20-jährigen Clara Zetkin auch eine später prominente Wegbereiterin der sozialistischen Frauenbewegung.

Allerdings konnten weiterhin Einzelpersonen bei Wahlen für die Sozialdemokratie kandidieren, so dass deren Fraktionen sich im Rahmen der parlamentarischen Arbeit des Reichstages bzw. der Landtage legal betätigen konnten. Unter den neun Reichstagsabgeordneten der SAP saßen bereits seit 1874 (teils schon als Vertreter ihrer Vorgängerorganisationen) beispielsweise Wilhelm Liebknecht, August Bebel, Wilhelm Hasenclever und Wilhelm Hasselmann im Parlament des Kaiserreichs. Außerhalb des Reichstags war ein öffentliches Auftreten für die Ziele der SAP allerdings mit erheblichem juristischem Risiko verbunden. Nach § 28 des Sozialistengesetzes wurden 797 Sozialdemokraten als „Agitatoren“ aus Orten ausgewiesen, in denen der „kleine Belagerungszustand“ verhängt wurde, darunter als Hochburgen der Sozialisten Berlin, Leipzig, Hamburg und Frankfurt am Main.

Das Sozialistengesetz bekämpfte die Sozialdemokraten als „Reichsfeinde“ und erschwerte nachhaltig die Integration von Arbeitern und Sozialdemokratie in Staat und Gesellschaft. Die faktische politische Ausbürgerung der sozialdemokratischen Opposition ging mit einer sozialen Ausbürgerung einher, derzufolge Sozialdemokraten materiell entrechtet und am Arbeitsplatz verfolgt wurden. Die Verfolgung weckte die Solidarität großer Teile der Arbeiterschaft und führte seit 1881 zunehmend zu Wahlerfolgen für die für formell als Einzelpersonen auftretenden Kandidaten der SAPD. Regional wurden verschiedene Arbeitersportvereine oder Naturfreundegruppen als Tarnorganisationen an Stelle der verbotenen Partei- oder Gewerkschaftsgruppen gebildet, in denen die politische Arbeit, wenngleich mit hohem Risiko behaftet, fortgesetzt wurde.

Titelblatt der Freiheit, zunächst eine im Exil erscheinende sozialrevolutionäre Zeitschrift der Sozialdemokratie, ab 1880 nach dem Parteiausschluss ihres Herausgebers Johann Most ein Organ des deutschsprachigen Anarchismus

Innerhalb der Sozialdemokratie riefen insbesondere sozialrevolutionäre Politiker des linken Flügels, ihnen voran der sich bereits im britischen Exil aufhaltende Johann Most und der Reichstagsabgeordnete Wilhelm Hasselmann zu – auch gewaltsamem – Widerstand gegen die Unterdrückungspraxis der Behörden auf, wobei sie sich beispielsweise positiv auf die Attentate russischer Sozialrevolutionäre gegen Zar Alexander II. bezogen. Derartige Aufrufe wurden jedoch von der Führung der SAP als anarchistisch motiviert und den Zielen der Sozialdemokratie entgegenstehend abgelehnt. Most und Hasselmann wurden 1880 auf dem ersten Exilparteitag der SAP auf Schloss Wyden im Schweizer Kanton Zürich, insbesondere auf Betreiben von Ignaz Auer und August Bebel aus der Partei ausgeschlossen. Darauf gab Hasselmann sein formell bis 1881 gültiges Reichstagsmandat auf und wanderte in die USA aus. Mit dem Ausschluss der beiden bekanntesten Protagonisten des Anarchismus in der deutschen Sozialdemokratie hofften deren führende Vertreter, sich des radikal sozialrevolutionären Flügels der Partei zu entledigen und damit der antisozialistischen Propaganda der regierungsfreundlichen Parteien und deren Presse die Grundlage zu entziehen.

Erstausgabe der Zeitung Der Sozialdemokrat vom 5. Oktober 1879, die nach der Freiheit ab 1880 zum Hauptorgan der Exilsozialdemokratie wurde

In der Folgezeit konnten sozialistische Reichstagskandidaten wieder Stimmenzuwächse verbuchen. Zusätzlich zu den schon vertretenen Mandatsträgern wurden beispielsweise Karl Frohme 1881 oder Paul Singer 1884 für die Partei in den Reichstag gewählt. Nachdem die von Johann Most aus dem Londoner Exil verbreitete Zeitschrift Freiheit mit dem Parteiausschluss Mosts ihren Status als Organ der deutschen Sozialdemokratie verloren und sich inhaltlich in eine auch offen anarchistisch agitierende Publikation verändert hatte, wurde sie zunehmend abgelöst durch die Zeitung Der Sozialdemokrat, die sich zum Hauptorgan der deutschen und der internationalen Sozialdemokratie während des Sozialistengesetzes entwickelte. Der Sozialdemokrat erschien seit 1879, von Paul Singer redigiert, in Zürich und wurde illegal im Reich verbreitet. Ab 1887 wurde die Zeitung in London gedruckt.

Aus seiner Niederlage im Kulturkampf, der sich gegen die Macht der katholischen Kirche gerichtet hatte, lernend, versuchte Bismarck, sozusagen begleitend zur „Peitsche“ des Sozialistengesetzes, den Sozialdemokraten durch das „Zuckerbrot“ der für die Zeit als fortschrittlich geltenden Sozialgesetzgebung die Grundlage zu entziehen und so ihren weiteren Erfolg zu verhindern.

Ein wesentliches Ziel des Sozialistengesetzes, die Reduzierung der Stimmen für die Sozialdemokraten bei den Reichstagswahlen, wurde jedoch nicht erreicht – im Gegenteil: Hatten die Sozialdemokraten 1881 nur 311.961 Stimmen erhalten, waren es 1884 bereits 549.990, 1887 763.128 Stimmen, 1890 sogar 1.427.000 Stimmen. Mit letzterem Ergebnis wurde die SAP, noch vor ihrer Umbenennung in SPD, zum ersten Mal die wählerstärkste Partei des Reiches.

Die sozialistische/sozialdemokratische Reichstagsfraktion von 1889, ein Jahr vor der Aufhebung des Sozialistengesetzes (sitzend: von links: Georg Schumacher, Friedrich Harm, August Bebel, Heinrich Meister, Karl Frohme. Stehend: Johann Heinrich Wilhelm Dietz, August Kühn, Wilhelm Liebknecht, Karl Grillenberger, Paul Singer)
Plakat aus dem Jahr 1890 zum Fall des Sozialistengesetzes

Auch international war die deutsche Sozialdemokratie trotz der Unterdrückung im eigenen Land zur weltweit einflussreichsten sozialistischen Partei ihrer Zeit geworden. Nach der Spaltung der Internationalen Arbeiterassoziation im Jahr 1872 und deren bis 1876 erfolgten Auflösung aufgrund des Konflikts zwischen dem anarchistischen Flügel um Michail Bakunin und dem marxistischen Flügel um Karl Marx war es nach Marx’ Tod 1883 vor allem Liebknechts Bestreben, zu einer neuen Einheit der internationalen Arbeiterbewegung zu kommen. Darin war er sich mit Friedrich Engels, der Marx’ ideelles Erbe übernommen hatte, einig.

Bei der Gründung der Sozialistischen Internationale 1889 in Paris war die sozialistische Bewegung aus dem Deutschen Reich mit 85 der 400 Delegierten aus 20 Staaten am Gründungskongress dieser Zweiten Internationale vom 14. bis 20. Juli 1889 beteiligt − unter ihnen neben August Bebel und Eduard Bernstein auch Carl Legien als ein Vertreter der deutschen Gewerkschaftsbewegung, und mit Clara Zetkin eine Vertreterin der sozialistischen Frauenbewegung, zu jener Zeit Exilantin in Paris. Liebknecht leitete die deutsche Delegation und war zusammen mit dem französischen Sozialisten Édouard Vaillant Vorsitzender des Kongresses.

Angesichts des gewachsenen Einflusses der SAP war das Sozialistengesetz im Deutschen Reich langfristig nicht mehr aufrechtzuerhalten. Im Jahresturnus ab 1879 immer wieder verlängert, wurde die weitere Gültigkeit des Gesetzes am 25. Januar 1890 im Reichstag abgelehnt. Das Scheitern einer auf dauerhafte Gültigkeit angelegten und auch sonst verschärften Sozialistengesetzvorlage durch Bismarck sowie das Erstarken der Sozialdemokratie bei den Reichstagswahlen im Januar 1890 spielten eine ausschlaggebende Rolle beim Sturz Bismarcks bzw. seiner Entlassung durch den 1888 inthronisierten Kaiser Wilhelm II. Bereits 1888 war Bismarck mit einer Gesetzesvorlage gescheitert, der zufolge Sozialdemokraten förmlich als Deutsche hätten ausgebürgert werden können. Ursache des Scheiterns war nicht zuletzt, dass die Abgeordneten der SAP die skrupellosen Praktiken der politischen Polizei im Reichstag enthüllten.

Längerfristige Nachwirkungen für die SPD bis zu ihrer Spaltung

Nach der Aufhebung des Sozialistengesetzes blieb die Sozialdemokratie, die sich seit dem Erfurter Programmparteitag 1891 SPD nennt, ein ernstzunehmender Machtfaktor. 1912 schließlich sollte sie gar stärkste Partei im Reichstag werden.

Der Geist des Sozialistengesetzes wirkte jedoch auch nach 1890 in Gesellschaft und Politik des Deutschen Reiches fort. Die Sozialdemokraten wurden noch lange nach der Aufhebung des Gesetzes als „vaterlandslose Gesellen“ diffamiert (u. a. 1907 bei der sogenannten „Hottentottenwahl“).[6] Erst bei der Auslösung des Ersten Weltkrieges im August 1914, als es darum ging, die Volksmassen für den Krieg zu mobilisieren, überdachte Kaiser Wilhelm II. als „Oberster Kriegsherr “ Deutschlands die auch von ihm bis zuletzt vertretene Strategie der politischen Isolierung der Sozialdemokratie und verkündete – nach seinem Verständnis im Interesse des Reiches – mit Blick auf die Sozialdemokraten, er kenne „keine Parteien mehr, sondern nur noch Deutsche“. Darauf stimmte die SPD-Reichstagsfraktion, seit dem Tode August Bebels (1913) unter dem Vorsitz des gemäßigt reformorientierten Friedrich Ebert – neben Hugo Haase – geschlossen für die ersten Kriegskredite und leitete die Burgfriedenspolitik ein. Im Dezember 1914 war Karl Liebknecht der erste SPD-Reichstagsabgeordnete, der sich der kriegsbilligenden Politik seiner Partei widersetzte und gegen weitere Kriegskredite stimmte, nachdem er im August der entsprechenden Abstimmung aus Gründen der Parteiräson noch ferngeblieben war. Bis 1917 spalteten sich die Kriegsgegner der nunmehr staatstragenden SPD von der Mutterpartei ab und gründeten die Unabhängige Sozialdemokratische Partei Deutschlands (USPD). Als sich nach der Novemberrevolution von 1918 und dem Ende des Ersten Weltkriegs, damit auch dem Sturz der Monarchie, am 1. Januar 1919 die KPD aus dem linken Flügel der USPD, dem am Ende parteiunabhängigen Spartakusbund, konstituierte, zu deren Mitbegründern vormalige Sozialdemokraten wie Karl Liebknecht, Rosa Luxemburg und andere gehörten, war die Spaltung der deutschen Sozialdemokratie in eine pluralistisch-reformorientierte und eine revolutionär-sozialistische Partei unumkehrbar vollzogen. Die USPD wurde zunehmend zwischen der SPD und der KPD zerrieben und war ab 1922 bis zum Ende der 1919 gegründeten Weimarer Republik nur mehr eine Splitterpartei im linken Spektrum der Parteienlandschaft.

Literatur

Allgemeine Literatur

  • Joseph Belli: Die rote Feldpost unterm Sozialistengesetz. Mit einer Einleitung. Erinnerungen aus meinen Kinder-, Lehr- und Wandertagen. Stuttgart 1912
  • August Bebel: Aus meinem Leben. Bd. 3, Stuttgart 1914.
  • Eduard Bernstein: Die Geschichte der Berliner Arbeiterbewegung. 3 Bände, Berlin 1907.
  • Bruno Altmann und Paul Kampffmeyer: Vor dem Sozialistengesetz. Der Bücherkreis, Berlin 1928.
  • Paul Kampffmeyer: Unter dem Sozialistengesetz. Berlin 1928.
  • Ernst Engelberg: Politik und Rote Feldpost 1878-1890. Berlin 1959
  • Wolfgang Pack: Das parlamentarische Ringen um das Sozialistengesetz Bismarcks 1878–1890. Düsseldorf 1961.
  • 100 Jahre Gesetz gegen die Sozialdemokratie. Vorwärts, Bonn, September 1978
  • Das Sozialistengesetz. 1878 1890. Illustrierte Geschichte des Kampfes der Arbeiterklasse gegen das Ausnahmegesetz. Berlin 1980
  • Christof Rieber: Das Sozialistengesetz und die Sozialdemokratie in Württemberg 1878–1890. Müller & Graef, Stuttgart 1984.
  • Rainald Maaß: Die Generalklausel des Sozialistengesetzes und die Aktualität des präventiven Verfassungsschutzes. Heidelberg 1990.
  • Heidi Beutin / Wolfgang Beutin / Holger Malterer u. a. (Hrsg.): 125 Jahre Sozialistengesetz. Beiträge der öffentlichen wissenschaftlichen Konferenz vom 28.–30. November 2003 in Kiel. Peter Lang, Frankfurt am Main 2004.

Juristische Aufsätze

  • Rainald Maaß: „Entstehung, Hintergrund und Wirkung des Sozialistengesetzes“, in: Juristische Schulung (JuS) 9/1990, S. 702–706.
  • Hans-Ernst Böttcher: „Das Recht als Waffe im politischen Kampf – das Sozialistengesetz von 1878 unter juristischem Aspekt“, in: Schleswig-Holsteinische Anzeigen (SchlHA) 2004, S. 143–146.

Weblinks

 Wikisource: Themenseite Sozialdemokratie – Quellen und Volltexte

Quellennachweise

  1. im Deutschen Reichs-Anzeiger und Königlich Preußischen Staats-Anzeiger sowie im Reichs-Gesetzblatt (Nr. 34)
  2. Entwurf eines Gesetzes zur Abwehr sozialdemokratischer Ausschreitungen (Anlage Anlage Nr. 274 im Reichstagsprotokoll) sowie die Beratungen dazu bis zum Scheitern des Gesetzentwurfs am 24. Mai 1878 in digitalisierter Form beim Münchener Digitalisierungszentrum der Bayerischen Staatsbibliothek
  3. Eugen Richter gegen das Sozialistengesetz (1. Version)
  4. Stenographische Berichte über der Verhandlungen des Deutschen Reichstags, 3. Legislaturperiode, 1878, 2, 54. Sitzung, S.1522.
  5. Vgl. Reichstagsprotokoll der namentlichen Gesamtabstimmung über den Gesetzesentwurf am 19. Oktober 1878: Seite 387 bis Seite 389 (die Protokolle der 3. Lesung des Gesetzes finden sich ab Seite 333) in digitalisierter Form beim Münchener Digitalisierungszentrum der Bayerischen Staatsbibliothek
  6. Zur Reichstagswahl 1907 und dem Verhältnis Sozialdemokratie-Kolonialismus vgl. Ralf Hoffrogge, Sozialismus und Arbeiterbewegung in Deutschland - von den Anfängen bis 1914, S. 162ff.
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