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Psychopathie

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Dieser Artikel behandelt Psychopathie als forensisch-psychiatrische Diagnose; zu anderen Bedeutungen siehe Psychopathie (Begriffsklärung).

Unter einer Psychopathie (Kunstwort aus griechisch ψυχή, psychḗ, „Seele“ und πάθος, páthos, „Leiden“; jeweils altgriechische Aussprache) wird in der forensischen Psychologie und Psychiatrie eine schwere Form der dissozialen/antisozialen Persönlichkeitsstörung verstanden, die in ihrer Ausprägung die genannte Persönlichkeitsstörung übertrifft. In den Klassifikationssystemen DSM-IV und ICD-10 ist die Diagnose nicht aufgenommen.

Definition

Psychopathie bezeichnet eine schwere Persönlichkeitsstörung, die bei den Betroffenen mit dem weitgehenden oder völligen Fehlen von Empathie, sozialer Verantwortung und Gewissen einhergeht. Psychopathen sind auf den ersten Blick mitunter charmant, sie verstehen es, oberflächliche Beziehungen herzustellen. Dabei sind sie mitunter sehr manipulativ, um ihre Ziele zu erreichen. Oft mangelt es Psychopathen an langfristigen Zielen, sie sind impulsiv und verantwortungslos.[1] Psychopathie geht mit antisozialen Verhaltensweisen einher, so dass oft die Diagnose einer dissozialen/antisozialen Persönlichkeitsstörung gestellt werden kann.[2]

Historisches

Die Erstbeschreibung des modernen Psychopathiebegriffes wird Hervey M. Cleckley zugeschrieben, der 1941 in seinem Buch The Mask of Sanity eine differenzierte Beschreibung des Störungsbildes vorlegte. Die Weiterentwicklung wurde vor allem von Robert D. Hare vorangetrieben, der auch das heute am meisten verwandte Diagnoseverfahren der Psychopathie-Checkliste (PCL-R)[3] entwickelte.

Abgrenzung zur antisozialen Persönlichkeitsstörung

Die Vorstellung der Psychopathie umfasst spezifische Persönlichkeitszüge und antisoziale Verhaltensweisen, wohingegen die der antisozialen Persönlichkeitsstörung nur letztere beinhaltet.[4] Ein Anteil von 50 bis 80 % unter Häftlingen weist eine antisoziale Persönlichkeitsstörung auf, wohingegen weniger als 15 % als psychopathisch klassifiziert werden können.[5]

Neurobiologie

Für die Psychopathie[6] konnte nachgewiesen werden, dass verschiedene Hirnregionen ein Struktur- oder Funktionsdefizit aufweisen. Die Gehirnmasse in der präfrontalen und orbitofrontalen Großhirnrinde ist reduziert. Dies ist u. a. assoziiert mit mangelhaftem sozialem Normverständnis und dem Fehlen von Schuldbewusstsein. Des Weiteren wurde eine Dysregulation der Amygdala-Funktion beschrieben. Man vermutet, dass dadurch wichtige soziale Lernfunktionen beeinträchtigt sind. Außerdem konnte auch eine Hippocampus-Dysfunktion belegt werden. Diese wird in Verbindung mit mangelhafter Angst-Konditionierung und Affekt-Regulierung gebracht. Weitere Hirnregionen sind – vermutlich als Folge der beschriebenen Defekte – ebenfalls betroffen. Über Fehlregulationen der Verbindungsstrukturen der betroffenen Regionen wird spekuliert.

Bei Psychopathen wurden erhöhte Dopamin- und Serotonin-Spiegel beobachtet. Dies führt möglicherweise zur Enthemmung aggressiver Impulse. Verminderte Cortisol-Spiegel wurden ebenfalls beobachtet. Über eine Störung des Testosteron-Haushaltes liegen dagegen keine eindeutigen Daten vor.

Es wird vermutet, dass die Dysfunktionen und Fehlregulationen bereits in früher Kindheit angelegt sind.

Unterdimensionen und Diagnostik

Die Diagnostik erfolgt mit der Psychopathie-Checkliste (PCL-R) von Robert D. Hare. Sie unterscheidet zwei Dimensionen der Psychopathie mit insgesamt 20 zu erfüllenden Kriterien:[7][8]

Dimension 1: interpersonell-affektiv

(Kernmerkmale der psychopathischen Persönlichkeit, selbstsüchtig und ausnützlerisch – stabil über die Lebenszeit)

  • trickreich sprachgewandter Blender mit oberflächlichem Charme
  • erheblich übersteigertes Selbstwertgefühl
  • pathologisches Lügen (Pseudologie)
  • betrügerisch-manipulatives Verhalten
  • Mangel an Gewissensbissen oder Schuldbewusstsein
  • oberflächliche Gefühle
  • Gefühlskälte, Mangel an Empathie
  • mangelnde Bereitschaft und Fähigkeit, Verantwortung für eigenes Handeln zu übernehmen

Dimension 2: antisozial-deviant

(Verhaltensstörung, chronisch instabiler und antisozialer Lebensstil – tendenziell Abnahme mit dem Alter)

  • Stimulationsbedürfnis (Erlebnishunger), ständiges Gefühl der Langeweile
  • unzureichende Verhaltenskontrolle
  • frühere Verhaltensauffälligkeiten
  • Fehlen von realistischen, langfristigen Zielen
  • Impulsivität
  • Verantwortungslosigkeit
  • Abwertung anderer Menschen
  • Jugendkriminalität
  • Verstoß gegen Bewährungsauflagen bei bedingter Haftentlassung

Weitere Punkte (nicht einer der Subdimensionen zuzuordnen)

  • Promiskuität
  • viele kurzzeitige eheähnliche Beziehungen
  • polytrope (vielgestaltige) Kriminalität

Diese 20 Kriterien werden je nach Ausprägung mit 0 (keine Ausprägung), 1 (teilweise Ausprägung) oder 2 (volle Ausprägung) Punkten bewertet. Ab 25 von insgesamt 40 zu erreichenden Punkten wird ein hoher Psychopathie-Wert konstatiert. Ab 30 Punkten (Cutoff-Wert) erfolgt die Diagnose Psychopathie.[8][7]

Hare schätzt den Anteil von Psychopathen (in Nordamerika) auf Einen von Hundert.[9]

Psychopathie und Kriminalität

In einer Studie wurde eine Auswahl nordamerikanischer Gefängnisinsassen mithilfe der Hare-Prüfliste auf Psychopathie getestet.[10] Dabei erzielten männliche Gefangene auf einer Punkteskala von 0-40 einen Mittelwert von 22,87, während Frauen einen Mittelwert von 12,10 erreichten. Alter und Intelligenzquotient ergaben indes keine signifikanten Unterschiede.

Weniger als 5 % der Bevölkerung haben hohe Werte, jedoch 15-20 % der (US-amerikanischen) Gefängnisinsassen, diese sind für 50 % aller schweren Delikte verantwortlich.[7]

Der PCL-R-Wert findet in forensisch-psychiatrischen Gutachten Verwendung[7] und hat hohe Prognosekraft hinsichtlich der Rückfallwahrscheinlichkeit bei Gewaltdelikten. Diese liegt bei Psychopathen (PCL-R-Wert ≥ 30) bei 80 %, bei moderater Psychopathie bei 62 % und bei Nicht-Psychopathen (PCL-R-Wert < 20) bei 31 %.[8]

Psychopathie in Wirtschaft und Unternehmen

Das Pendant zu kriminellen Psychopathen bildet die Gruppe der hoch funktionalen, „erfolgreichen Psychopathen“. Obwohl Psychopathie nur eine geringe Verbreitung in der allgemeinen Bevölkerung hat, sind Menschen mit dieser Persönlichkeitsstörung nicht nur in Gefängnissen, sondern auch in höheren Hierarchiestufen überrepräsentiert, etwa sechsfach in Führungspositionen:[11]

„[Sie] rauben keine Bank aus, sie werden Bankenvorstand.“

Robert D. Hare (Begründer der Psychopathieforschung)

Nach Reinhard Mohn gehen viele Probleme in der Wirtschaft auf Menschen mit psychischen Problemen zurück, insbesondere auf Narzissten und Psychopathen. Psychopathie, Narzissmus und Machiavellismus sind Teil der sogenannten Dunklen Triade.

„Sie sind nicht gewalttätig […] Der Schaden, den sie aber in unserer Gesellschaft anrichten, ist immens.“

Niels Birbaumer (Neurobiologe)[11]

Exemplarisch für einen Wirtschafts-Psychopathen ist etwa der betrügerische Spekulant Bernard Madoff.

„Ein normaler Mensch würde […] kotzen, wenn er gerade eine Milliarde versemmelt hätte. Der Psychopath geht unverdrossen nach Hause und denkt nicht mehr daran.“

Kevin Dutton (Psychopathieforscher)[12]

Die Berufe mit den höchsten Anteilen an Psychopathen sind nach Dutton:[11][12] CEO, Anwalt, Medien (Fernsehen/Radio), Vertrieb, Chirurg. Die wenigsten Psychopathen finden sich dagegen in Sozial- und Pflegeberufen, da diese mit wenig Macht verbunden sind und einen adäquaten Umgang mit Gefühlen erfordern.

Die relative Dominanz von Psychopathen in der Ökonomie sind keine Einzelfälle, sondern strukturell bedingt: Wird das diagnostische Instrumentarium auf das herrschende Menschenbild der Wirtschaftswissenschaften, das Modell des sogenannten homo oeconomicus angewandt, so erfüllt dieses die Kriterien für die Diagnose „Psychopathie“. Die Basis der Wirtschaftheorie bildet damit faktisch ein homo psychopathicus.[13]

Psychopathen haben eine Neigung zu Hochrisikoberufen und bevorzugen große Organisationen und klare Hierarchien. Nach Hare werden von Personalverantwortlichen psychopathische Verhaltensweisen wie Dominanz und Manipulation als Führungsqualitäten missgedeutet.[14] Aufgrund ihrer pathologisch fehlenden Einsichtsfähigkeit besteht der Umgang mit ihnen in der Elimination aus der Organisationsstruktur.[11] Eine grundsätzliche Prophylaxe besteht darin, „Psychopathenfeste Anreizsysteme“ zu schaffen.[13]

Therapie

Es wird diskutiert, ob eine Behandlung von Psychopathen sinnvoll ist. In der Regel findet sie im Strafvollzug statt, in Deutschland in entsprechenden sozialtherapeutischen Einrichtungen. Die meisten Therapieprogramme sind heutzutage verhaltenstherapeutisch und kognitiv-behavioral ausgerichtet. Es wird darüber berichtet, dass Psychopathen unterschiedlich gut auf Therapie ansprechen. Teilweise wird auch eine erhöhte Rezidivrate nach Therapie berichtet. Generell gilt, dass Psychopathen schwerer zu therapieren sind als nichtpsychopathische Straftäter.[15] Aus neurobiologischer Sicht werden die transkranielle Magnetstimulation und pharmakologische Methoden vorgeschlagen, wenngleich beide Methoden noch nicht näher erforscht worden sind.[16]

Erweiterung des Psychopathie-Begriffes

In neueren, auch populärwissenschaftlichen Büchern[17][18] wird der Begriff der Psychopathie weiter ausgedehnt. Es werden beispielhaft auch Typen von Persönlichkeiten beschrieben, die nicht straffällig werden, aber manipulative und vermindert empathische Verhaltensweisen zeigen. Auf die Arbeitsgruppe des britischen, heute am NIMH in den USA forschenden Psychologen James Blair geht eine aktuelle Überarbeitung des Konzepts der Psychopathie zurück.[19] Blair versteht die Diagnose Psychopathie als besondere, auf eine emotionale Behinderung zurückgehende Form der Verhaltensstörung (conduct disorder) bzw. der antisozialen Persönlichkeitsstörung (antisocial personality disorder), wie sie im DSM-IV und ICD-10 aufgeführt werden. Das wichtigste Unterscheidungsmerkmal der Psychopathie ist nach Blair der betont instrumentelle, zweck- und zielorientierte Charakter der zu beobachtenden Aggressivität.[20] Demgegenüber steht in der Mehrzahl der Fälle antisozialen Verhaltens eine überwiegend reaktive. Aggressivität.

Siehe auch

Weblinks

Fußnoten

  1. Hare und Neumann: Psychopathy as a clinical and empirical construct. In: Annual review of clinical psychology. (2008) vol. 4, S. 217–246.
  2. C. Kraus: Bezüge der „Psychopathie Checklist-Revised“ (PCL-R) zu den DSM-III-R- und ICD-10-Klassifikationen bei Sexualstraftätern. In: Monatsschrift für Kriminologie und Strafrechtsreform. (1999); 82 (1), S. 36–46.
  3. W. Berner: Die Hare-Psychopathie-Checkliste-Revised (PCL-R). Unveröffentlichtes Manuskript. 1994. (Originalausgabe: R. D. Hare: The Hare Psychopathy Checklist-Revised [PCL-R]. Multi-Health Systems, Toronto, Ontario 1991.)
  4. Hare und Neumann: Psychopathy as a clinical and empirical construct. In: Annual review of clinical psychology. (2008) vol. 4, S. 217–246.
  5. Ogloff: Psychopathy/antisocial personality disorder conundrum. In: The Australian and New Zealand journal of psychiatry. (2006) vol. 40 (6-7), S. 519–528.
  6. Glenn und Raine. The neurobiology of psychopathy. In: Psychiatr Clin North Am. (2008) vol. 31 (3), S. 463–475, VII.
  7. 7,0 7,1 7,2 7,3 Henning Ernst Müller (Uni Regensburg): Die PCL-R von Hare aus kriminologischer und strafprozessrechtlicher Sicht. (PDF; 1,4 MB) Berufsverband Deutscher Psychologinnen und Psychologen (BDP) e.V. – Sektion Rechtspsychologie, 17. November 2012, abgerufen am 27. April 2015 (Vortrag zum 3. Tag der Rechtspsychologie).
  8. 8,0 8,1 8,2 Stefan Eidt: Vergleich des 2- und 3-Faktoren-Modells der Psychopathy Checklist-Revised (PCL-R) bei der Rückfallprognose von Straftätern. (PDF; 464 kB) Dissertation. 2007, abgerufen am 27. April 2015.
  9. Spotting psychopaths at work. news.bbc.co.uk, 1. Dezember 2004, abgerufen am 27. April 2015.
  10. Adolescent Psychopathy in Relation to Delinquent Behaviors, Conduct Disorder, and Personality Disorders. (PDF; 357 kB).
  11. 11,0 11,1 11,2 11,3 Heiner Thorborg: Psychopathen in der Chefetage – Zeitbomben mit Schlips. In: Der Spiegel. 9. April 2015, abgerufen am 27. April 2015.
  12. 12,0 12,1 Kevin Dutton: Psychopathen – Was man von Heiligen, Anwälten und Serienmördern lernen kann. 1. Auflage. dtv, München 2013 (Originaltitel: The Wisdom of Psychopaths – what saints, spies, and serial killers can teach us about success), ISBN 978-3-423-24975-1.
  13. 13,0 13,1 Carmen Kühn; Volker Lingnau, Albrecht Becker (Hrsg.): Psychopathen in Nadelstreifen. 1. Auflage. 17, Eul-Verlag, Lohmar–Köln 2012 (Originaltitel: Psychopathen in ökonomischen Anreizsystemen – ein nosologisches Konzept, Dissertation), ISBN 978-3-8441-0138-6 (Gliederung, Inhaltsangabe).
  14. Paul Babiak, Robert D. Hare: Menschenschinder oder Manager – Psychopathen bei der Arbeit. 1. Auflage. Hanser, München 2007 (Originaltitel: Snakes in Suits – When Psychopaths Go to Work), ISBN 978-3-446-40992-7.
  15. Doren und Yates: Effectiveness of sex offender treatment for psychopathic sexual offenders. In: International journal of offender therapy and comparative criminology. (2008) vol. 52 (2), S. 234–245.
  16. Glenn und Raine: The neurobiology of psychopathy. In: Psychiatr Clin North Am. (2008) vol. 31 (3), S. 463–475, VII.
  17. Robert D. Hare: Gewissenlos. Die Psychopathen unter uns.
  18. Paul Babiak, Robert D. Hare: Menschenschinder oder Manager: Psychopathen bei der Arbeit.
  19. J. Blair u. a.: The Psychopath - Emotion and the Brain. Blackwell Publishing, Malden, MA 2005, ISBN 0-631-23335-0.
  20. A. L. Glenn, A. Raine: Psychopathy and instrumental aggression: Evolutionary, neurobiological, and legal perspectives. In: International Journal of Law and Psychiatry. 2009; 32, S. 253–258.
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