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Neorealismus (Internationale Beziehungen)

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Der Neorealismus ist eine einflussreiche politikwissenschaftliche Theorie der Internationalen Beziehungen. Gemäß dieser Theorie sind die internationalen Beziehungen[1] durch die absolute Dominanz von Sicherheitsinteressen der Staaten, deren Selbsterhaltungstrieb und ihrer Verweigerung von Kooperation geprägt. Da es keine übergeordnete Instanz gibt, wie etwa eine Weltregierung, die für alle Staaten gültige Regeln und Normen setzt, besteht eine ständige Unsicherheit über die Intentionen der Nachbarn, weshalb die Staaten stets auf den schlimmsten Konfliktfall (Krieg) vorbereitet sein müssen.[2]

Mit diesen Annahmen steht der Neorealismus in der Tradition des Klassischen Realismus. In diesem werden jedoch Kriege anthropologisch mit der Natur des Menschen begründet, im Mittelpunkt steht das menschliche und staatliche Streben nach Macht. Zentrales Motiv in der neorealistischen Deutung ist dagegen das Überleben.

Ein weiterer Unterschied zum Klassischen Realismus besteht darin, dass der Neorealismus sich als systemische Theorie internationaler Politik versteht, während die Vorgängertheorie die Außenpolitik von Staaten summierte und auswertete. Diese Methode schließt der Neorealismus aus (Reduktionismus-Verbot). Er schließt in seinen Analysen umgekehrt von der Struktur des internationalen Systems auf das Verhalten von Staaten und wird daher auch als Struktureller Realismus bezeichnet.

Hauptvertreter des Neorealismus[3] ist Kenneth Waltz, der 1979 mit seinem Buch Theory of International Politics die Grundlagen schuf.

Historischer Hintergrund

Der Klassische Realismus war stark von den Erfahrungen des Zwischenkriegsperiode und des Zweiten Weltkrieges geprägt worden. Der Neorealismus ist dagegen in seinem Entstehungskontext eng mit dem Ost-West-Konflikt verbunden. Als sich in den 1970er-Jahren eine Annäherung zwischen der Sowjetunion und den USA abzeichnete, verlor der traditionelle Realismus zunehmend an Erklärungskraft. Andere Theorien, wie der Interdependenztheoretischer Ansatz oder die Weltsystem-Theorie konnten die stärkere Kooperation in den internationalen Beziehungen besser analysieren. Mit der Sowjetischen Intervention in Afghanistan war die kurze Phase der Entspannung jedoch beendet. Außerdem wurde der befriedende Einfluss der USA auf die internationalen Beziehungen mit der Iranischen Revolution deutlich geschwächt. Mit der Ölpreiskrise geriet die ökonomische Vormachtstellung der westlichen Führungsmacht ins Wanken. Genau in diese Zeit des „relativen Niedergangs der USA in der Weltwirtschaft fiel die Veröffentlichung von Kenneth Waltz' Theory of international politics.“[4]

Die mit diesem Buch begründete Theorie wurde 1984 von Richard Ashley erstmals als Neorealismus bezeichnet.[5]

Neorealismus nach Waltz

Der Neorealismus hat nach Kenneth Waltz zwei zentrale Fragestellungen: Warum tendieren Staaten in ihrem Außenverhalten trotz unterschiedlicher Verfassungssysteme und unterschiedlicher Ideologien zu ähnlichem Außenverhalten? Und: Warum gibt es in bestimmten Phasen der Geschichte mehr Kriege und warum sind andere Phasen trotz hoher Spannungen friedlich?

Waltz beantwortet diese Fragen auf Basis einiger Grundannahmen:

  • Das internationale System besteht aus zwei Elementen, den Akteuren bzw. Einheiten des Systems (units), den Staaten, und aus der separaten Struktur des Systems (structure). Beide Elemente sind getrennt voneinander zu untersuchen. „Auch wenn die Struktur die Akteure voraussetzt, unterliegt sie nicht mehr ihrer Kontrolle. Die Struktur des internationalen übt einen eigenständigen, funktionalen Einfluss aus und bewirkt, dass sich unterschiedliche Akteure außenpolitisch ähnlich verhalten.“ [6]
  • Das internationale System ist anarchisch und nicht hierarchisch organisiert, das heißt, es gibt keine übergeordnete Regelungs- und Kontrollinstanz (etwa im Sinne einer Weltregierung).
  • Staaten sind einheitliche, uniforme, homogene und rationale Akteure, deren „Innenleben“ für die neorealistische Theorie nicht von Bedeutung ist.
  • An erster Stelle der Präferenzordnung aller Staaten steht das Überleben. Das drückt sich im Streben nach Erhalt der staatlichen und geografischen Integrität aus.
  • Staaten orientieren sich in ihren außenpolitischen Handlungen am Kriterium der Zweck-Mittel-Rationalität. Gegenüber den Intentionen anderer Staaten besteht immer Unsicherheit, Aggressivität und Expansionsdrang sind immer drohende Möglichkeiten.
  • Für die neorealistische Analyse ist der einzige Unterschied zwischen den Staaten ihr jeweiliges Machtpotenzial. Das deutet Waltz als Eigenschaft der Struktur des internationalen Systems. Es sind drei konkrete Machtverhältnisse denkbar:
    • Ein unipolares internationales System (es gibt einen besonders mächtigen Staat, den Hegemon).
    • Ein bipolares internationales System (es bestehen zwei besonders mächtige Staaten, wie während des Ost-West-Konfliktes).
    • Ein multipolares internationales System (es bestehen mehr als zwei besonders mächtige Staaten).

Wegen der fehlenden übergeordneten Instanz greifen alle Staaten zu Selbsthilfestrategien, die grundsätzlich darin bestehen, Machtungleichgewichte wieder zu korrigieren (balancing). Das geschieht entweder durch eigene Aufrüstung oder durch Bündnisdbildung. Solche Bündnisbildung ist aus Sicht des Neorealismus die einzige Variante freiwilliger Zusammenarbeit auf internationaler Ebene. Überstaatlichen Institutionen wird darüber hinaus keine besondere Rolle zugemessen. Nur eine einzige Form internationaler Kooperation, die über Bündnisbildung hinaus geht, ist nach neorealistischer Auffassung denkbar: Die hegmonial indizierte Kooperation. Dabei zwingt der Hegemon zur Steigerung der gemeinsamen Wohlfahrt andere Staaten zur Zusammenarbeit und übernimmt den Großteil der gemeinsamen Kosten sowie den militärischen Schutz.

Nach neorealistischer Annahme neigen bipolare System mit zwei besonders mächtigen Staaten am wenigsten zu Kriegen auf internationaler Ebene, weil die kriegshemmende Machtbalance am ehesten herzustellen ist. Empirisches Beispiel ist der Kalte Krieg. In multipolaren Systemen ist es dagegen deutlich problematischer, weil sich jeder Staat von einer Vielzahl anderer Staaten bedroht fühlen muss. In einem unipolaren System stellt der Hegemon für alle anderen Staaten ein Bedrohung dar, woraufhin im Sinne der Machtbalance Gegenbündnisse geschmiedet werden. Das wiederum liegt nicht im Interesse des Hegemons, womit die Wahrscheinlichkeit kriegerischer Konflikte steigt.

John J. Mearsheimer, dessen Annahmen an die des Klassischen Realismus erinnern, der sie aber aus systemischen Faktoren ableitet und darum zu den Neorealisten gezählt wird[7], widerspricht der Waltz-These vom Streben nach Machtbalance. Nach seiner Meinung streben Staaten aus Unsicherheit über das Verhalten der anderen so lange nach Macht, bis sie hegemonialen Status erreicht haben oder bis sie bei diesem Versuch scheitern. Ist Hegemonie erreicht, endet das Streben nach Macht, weil der Selbsthilfeimpuls nicht mehr relevant ist. Bei dieser Betrachtungsweise zählen für Mearsheimer „wie bei den Realisten aller Couleur (...) allein die großen Mächte im System.“ Kleine Staaten können sich nur einer Macht anschließen, die dem sich abzeichnenden regionalen Hegemon Paroli bietet, oder sie warten ab, bis es ihnen ein Staat aus der Nachbarschaft abnimmt, eine gegnerischen Koalition zu bilden.[8]

Methodische Schwäche des Neorealismus

Als zentrale Schwäche des Neorealismus wird die völlige Vernachlässigung der inneren Verfasstheit von Staaten für die Herausbildung von Handlungsmotiven und Präferenzen in der internationalen Politik genannt[9], was zu empirischen Schwachstellen in der Theorie führt.[10] Diese verbreitete Kritik und auch die Erklärungsschwäche der Theorie führte dazu, dass von späteren Vertretern des Neorealismus verstärkt subsystemische Faktoren in die Analysen einbezogen wurden. Das brachte die Frage auf, „ob angesichts dieser Vernachlässigung systemischer Faktoren im aktuellen Neorealsimus überhaupt noch jemand ein (Neo)Realist sei, da fast alle sich als Neorealisten bezeichnenden Autoren in ihre Arbeiten Elemente aufnehmen würden, die den Grundannahmen der Waltz'schen Theorie widersprächen.“[11]

Trotz seiner methodischen Schwächen ist der Neorealismus von großer praktischer Bedeutung, „da eine (neo)realistische Weltsicht in vielen Außen- und Verteidigungsministerien ihre politische Prägekraft entfaltet“.[12]

Literatur

Primärliteratur

  • Kenneth Waltz: Theory of international politics. McGraw-Hill, Boston 1979.
  • Kenneth Waltz: Realism and international politics. Routledge, New York 2008.
  • John J. Mearsheimer: The tragedy of Great Power politics. Norton, New York 2001.

Deutschsprachige Sekundärliteratur

  • Carlo Masala: Kenneth N. Waltz. Einführung in seine Theorie und Auseinandersetzung mit seinen Kritikern. 2. Auflage, Nomos, Baden Baden 2014, ISBN 978-3-8487-0352-4.
  • Niklas Schörnig, Neorealismus. In: Siegfried Schieder und Manuela Spindler: Theorien der internationalen Beziehungen. 3. Auflage, Budrich, Opladen 2010, ISBN 978-3-8252-2315-1, S. 65–96.
  • Thomas Vogt: Der Neorealismus in der internationalen Politik. Eine wissenschaftstheoretische Analyse. Deutscher Universitäts Verlag, Wiesbaden, ISBN 978-3-8244-4353-6.

Einzelnachweise

  1. Internationale Beziehungen als politikwissenschaftliche Disziplin sind von ihrem Untersuchungsgegenstand, den (kleingeschriebenen) internationalen Beziehungen zu unterscheiden. Dazu: Siegfried Schieder und Manuela Spindler: Theorien der internationalen Beziehungen. 3. Auflage, Budrich, Opladen 2010, ISBN 978-3-8252-2315-1, Einleitung, S. 9, Anmerkung 1.
  2. Die folgenden Aussagen beziehen sich, wenn nicht anders belegt, auf: Niklas Schörnig, Neorealismus. In: Siegfried Schieder und Manuela Spindler: Theorien der internationalen Beziehungen. 3. Auflage, Budrich, Opladen 2010, ISBN 978-3-8252-2315-1, S. 65–96.
  3. Kenneth Waltz: Theory of international politics. McGraw-Hill, Boston 1979.
  4. Niklas Schörnig, Neorealismus. In: Siegfried Schieder und Manuela Spindler: Theorien der internationalen Beziehungen. 3. Auflage, Budrich, Opladen 2010, S. 65–96, hier S. 66.
  5. Ulrich Menzel, Idealismus, Realismus, Institutionalismus und Strukturalismus – die vier Paradigmen in der Lehre von den Internationalen Beziehungen. In: ders. und Katharina Varga, Theorie und Geschichte der Lehre von den internationalen Beziehungen. Einführung und systematische Bibliographie, Deutsches Übersee-Institut, Hamburg 1999, ISBN 978-3-926953-44-5, Online-Version, S. 82. In einer Anmerkung weist Menzel darauf hin, dass Robert Cox den Begriff bereits 1981 verwendete, damit aber den Realismus nach Hans Morgenthau von dessen ideengeschichtlichen Vorläufern, wie Thukydides, Thomas Hobbes und Niccolò Machiavelli, abgrenzen wollte.
  6. Tobias ten Brink: Staatenkonflikte. Zur Analyse von Geopolitik und Imperialismus - ein Überblick. Lucius & Lucius, Stuttgart 2008, ISBN 978-3-8252-2992-4, S. 133.
  7. Niklas Schörnig: Neorealismus. In: Siegfried Schieder und Manuela Spindler: Theorien der internationalen Beziehungen. 3. Auflage, Budrich, Opladen 2010, S. 65–96., S. 83.
  8. Jürgen Hartmann: Internationale Beziehungen. 2. Auflage, VS Verlag für Sozialwissenschaften, Wiesbaden 2009, ISBN 978-3-531-16689-6, S. 34.
  9. Markus M. Müller (Hrsg.): Casebook internationale Politik. VS Verlag für Sozialwissenschaften, Wiesbaden 2011, ISBN 978-3-531-16215-7, S. 25.
  10. Jürgen Hartmann: Internationale Beziehungen. 2. Auflage, VS Verlag für Sozialwissenschaften, Wiesbaden 2009, ISBN 978-3-531-16689-6, S. 38.
  11. Jeffrey W. Legro und Andrew Moravcsik 1999, zitiert nach: Niklas Schörnig, Neorealismus. In: Siegfried Schieder und Manuela Spindler: Theorien der internationalen Beziehungen. 3. Auflage, Budrich, Opladen 2010, S. 65–96, hier S. 92.
  12. Niklas Schörnig, Neorealismus. In: Siegfried Schieder und Manuela Spindler: Theorien der internationalen Beziehungen. 3. Auflage, Budrich, Opladen 2010, S. 65–96, hier S. 68.
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