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Neurose

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Unter Neurosen (wörtlich etwa Nervenkrankheit, aus griechisch νεῦρον Nerv und -ose für Krankheit) wurden seit William Cullen (1776) nervlich bedingte rein funktionelle Erkrankungen verstanden, d. h. ohne Nachweis einer organischen Läsion. So sprach man z. B. von Herzneurosen. Seit der Zeit Sigmund Freuds wurde hierunter eine leichtgradige psychische Störung verstanden, die durch einen Konflikt verursacht wird. Neurosen wurden damals den Psychosen, schwereren seelischen Störungen, gegenübergestellt. Inzwischen wurde der Begriff zugunsten einer differenzierteren Aufteilung in verschiedene Störungsgruppen weitestgehend aufgegeben, weil man so den verschiedenen unter "Neurosen" zusammengefassten Störungsbildern besser gerecht werden konnte und sich die damit verbundenen theoretischen Annahmen, vor allem in Hinsicht auf psychische und körperliche Verursachung, in dieser Form nicht halten ließen.

Neurosebegriff heute

Der Begriff wird im aktuellen US-amerikanischen diagnostischen Inventar DSM-IV weitgehend vermieden. Stattdessen wird im DSM-IV von psychischen Störungen in rein deskriptivem Sinne (Querschnitt = Ist-Zustand) gesprochen. In der ICD-10 der WHO sind alle F4-Diagnosen mit dem Begriff „Neurotische Störungen“ überschrieben – aber auch hier taucht der Begriff danach kaum mehr auf. Dies bedeutet jedoch keinesfalls, dass der Begriff z. B. in psychogenetischer Hinsicht (Längsschnitt = Gesichtspunkt der Entwicklung) als entbehrlich anzusehen ist, siehe Abschnitt Neuere Klassifikationssysteme (Hoffmann/Hochapfel 2003). Vorgenannte Autoren definieren Neurosen als überwiegend umweltbedingte Erkrankungen, die eine Störung im psychischen und/oder körperlichen und/oder im Bereich der Persönlichkeit bedingen.

Nach verhaltenstheoretischem Konzept ist Neurose durch erlernte Fehlanpassung hervorgerufen. Die auslösenden traumatisierenden Faktoren sind als Stressoren anzusehen.

Theorien und Systeme

Die Neurose ist eine allgemeine psychische Verhaltensstörung längerer Dauer. Sie ist dadurch gekennzeichnet, dass sie erst im Laufe der Entwicklung entstanden ist. Zur Bestätigung solcher Diagnosen müssen organische Störungen als Ursache des Fehlverhaltens ausgeschlossen werden. Seine ihm charakteristischen Verhaltensstörungen vermag der Neurotiker nicht zu kontrollieren, er ist sich seines Leidens jedoch bewusst und an sich fähig, dessen Ursachen zu ergründen. Gemäß Freuds Theorie führt dieses geistige Streben zu ersten therapeutischen Ergebnissen, vor allem in Anwendung der Traumanalyse. Der Psychotiker ist dazu tendenziell außerstande, da bei ihm auch der Realitätsbezug nicht mehr vorhanden ist. Die Übergänge zur Neurose sind jedoch fließend. So stellen zum Beispiel auch die Träume der Gesunden („normalen“ Neurotiker) nach Freud im weitesten Sinne „psychotische“ Vorgänge dar, infolge des im Schlaf momentan geschwächten Ich-Vermögens, die im Traum erlebte Realität von der den Träumer umgebenden Wirklichkeit zu unterscheiden.

Zwangsstörungen (z. B. „Waschzwang“), Hysterien, Hypochondrien, Phobien (z. B. Soziophobie), Angststörungen, schizoide und paranoide Störungen werden zu den Neurosen gezählt. Als differentialdiagnostisches Kriterium zur Abgrenzung von der Psychose gilt unter anderem auch, dass die Neurotiker ihre Probleme als in ihnen selbst liegend zu erkennen vermögen, während die von einer Psychose Betroffenen im akuten Fall an dem Unvermögen leiden, ihre innere Situation (‚Stimmen hören‘ u. Ä.) von der sie umgebenden Realität zu differenzieren.

Es gibt verschiedene Grade dieser Zwänge, so dass nicht alle Patienten einer Behandlung bedürfen. Als subjektiv erleichternd wirkt sich die weite Verbreitung eines bestimmten Typs von Neurose in der jeweils betroffenen Kultur aus, der dadurch zur sozialen Norm wird. Dadurch wird das Gefühl sozialer Ausgrenzung beziehungsweise Minderwertigkeit (s. o.) abgeschwächt. Die Gleichsetzung solcher „Normalität“ mit der Bedeutung des Begriffes „Gesundheit“ wurde von Freud mit höchster Skepsis betrachtet.

Neuere Klassifikationssysteme

Klassifikation nach ICD-10
F40 – F48 Neurotische, Belastungs- und somatoforme Störungen
ICD-10 online (WHO-Version 2013)

Durch die Klassifikationssysteme ICD-10 und DSM-IV wurde der ausschließlich auf den Theorien der Psychoanalyse beruhende Begriff Neurose durch deskriptiv neutrale Bezeichnungen (s.o) ersetzt. In der offiziellen Nomenklatur dieser Systeme kommt nur noch das Adjektiv neurotisch vor. Begründung für dieses, wenn auch nicht völlig konsequent durchgeführte, Vorhaben, den Begriff Neurose zu meiden, ist

  1. die unzulängliche Abgrenzbarkeit zur Psychose (einem Begriff, der aus demselben Grund ebenfalls nicht verwendet wird), da dies nach den Maßgaben der WHO und zur Differenzialdiagnostik wichtig ist
  2. die bislang nicht mögliche scharfe Abgrenzung zwischen neurotischem und gesundem Verhalten und
  3. die Theoriegebundenheit des Begriffs:

Er stammt aus der Psychoanalyse Sigmund Freuds und impliziert somit bestimmte theoretische Vorstellungen über das Zustandekommen von psychischen Störungen, die von anderen Theorierichtungen nicht akzeptiert werden. Jedoch ist in weiten Kreisen der deutschsprachigen Ärzte und Psychotherapeuten die traditionelle Unterscheidung zwischen Neurose und gesundem Verhalten üblich. So auch die Verwendung des Begriffs Psychose als Störung des ich-immanenten Vermögens, den Realitätsgehalt innerer und äußerer Wahrnehmung zu differenzieren, z. B. Stimmenhören oder Wahnvorstellungen. Dies ist darauf zurückzuführen, dass der Begriff einen hohen praktischen und wissenschaftlichen Wert hat. Das Konzept vielfältiger Neurosen ist gleichzeitig als ein Konzept für die Vielfältigkeit von Persönlichkeitsstrukturen zu werten.

Theoriegeschichte

Um die Frage zu beantworten, ob Neurose ein veraltetes Konzept darstellt, muss auf seine Begriffsgeschichte seit 1776 durch den schottischen Arzt William Cullen (s. o.) zurückgekommen werden. Der Begriff ist damals wie heute umstritten und stellt das psychiatrische Versorgungssystem nach Auffassung namhafter zeitgenössischer Psychiater dort in Frage, wo er nicht genügend rezipiert wurde (Dörner 1975). Der Begriff Neurose ist mit der Entstehung der Psychiatrie eng verbunden und hängt nicht nur mit Sigmund Freud zusammen.

Freud hat dem Begriff der Neurose zwar zu weitgehender Verbreitung verholfen, doch ist er für diese Entwicklung keineswegs alleine verantwortlich. Freud begann seine berufliche Karriere als Nervenarzt und war von den materialistischen Vorstellungen seiner Zeit keineswegs frei. Er arbeitete in einem physiologischen Labor, als man ihm Gelegenheit gab, in Paris die klinische Arbeitsweise von Charcot kennenzulernen, der dort Suggestionsbehandlungen durchführte. Dies bewirkte einen Wandel in der Zielrichtung seiner bisherigen naturwissenschaftlichen Arbeiten. Freud hat seine Theorien ausgehend von der Sexualität z. T. bis auf die Kultur- und Gesellschaftskritik hin ausgedehnt. Maßgeblich dafür waren seine systematischen individualpsychologischen Kenntnisse (Neurosenlehre), die er auf die Gesellschaft übertrug (Ideologiekritik), siehe z. B. sein Spätwerk Das Unbehagen in der Kultur.

Der schottische Arzt William Cullen hat 1776 unter dem Begriff Neurose alle psychischen Erkrankungen und nicht entzündlichen Störungen des Nervensystems verstanden. Dies hat insofern noch eine aktuelle Bedeutung, da bis heute im medizinischen Ausbildungssystem das Fachgebiet Psychiatrie mit dem der Neurologie in besonderer Weise verbunden ist. Der Nervenarzt ist auch für die Psyche zuständig. Freud wandte den Begriff Neurose insbesondere auf die leichtgradigen psychischen Störungen an, die man heute gern auch als funktionelle Störungen, d. h. ohne organisches Korrelat betrachtet. Die Frage, ob bei schwereren psychischen Krankheiten (Psychosen) nicht doch körperliche Bedingungen stets eine Rolle spielen, ist bis heute nicht zweifelsfrei geklärt. Zweifelsfrei gilt das nur für die ausdrücklich so genannten Organischen Psychosen. Freud öffnete seine Neurosentheorie auch für diese zweifelhaften Fälle der lange Zeit als Endogene Psychosen bezeichneten psychischen Erkrankungen. Er sprach hier von Narzisstischen Neurosen, während man diese Formen sonst als Chronische Paranoia oder als Dementia paranoides bezeichnete.

Psychoanalytische Konzepte

Die neurotische Symptombildung ist in der Psychoanalyse der Ausdruck eines unbewussten Konflikts. Bei den klassischen Psychoneurosen entspricht er einem ungelösten frühkindlichen Konflikt. Im Gegensatz dazu werden → Aktualneurosen durch einen Konflikt im unmittelbaren Erleben ausgelöst.[1] Durch die Analyse wird dieser Konflikt bewusst gemacht und dadurch Heilung ermöglicht. Neurosen werden nach der psychoanalytischen Theorie u. a. ausgelöst durch Störungen in bestimmten kindlichen Entwicklungsphasen. Eine Persönlichkeitsstörung (Charakterneurose), welche zumeist ich-synton ist, wird durch eine frühe Störung in der Entwicklung ausgelöst.

Speziell in der klassischen Psychoanalyse und der Psychiatrie der Freud'schen Schule und deren Nachfolgern wird angenommen, dass eine Neurose durch einen inneren, unbewussten Konflikt verursacht wird. Freud entwickelte zur Veranschaulichung der Krankheitsdynamik ein Strukturmodell der Psyche. Freud sprach von einem psychischen Apparat, der aus drei Instanzen, dem Ich, dem Es und dem Über-Ich bestehe. Bei dem unbewussten Konflikt komme es zu fehlender Anpassung des Ichs als Mittler zwischen Innenwelt und äußerer Realität. Diese mangelnde Adaptation des Ichs an alltägliche äußere Belastungen wird auf mangelhaft kontrollierbare, weil unbewusste Einflüsse des Es oder des Über-Ichs zurückgeführt. Das Es vertritt dabei den triebhaften Pol der Psyche, das Über-Ich die Rolle eines Zensors oder Richters. Die mangelnde Anpassung ist im späteren Leben häufig stellvertretende Folge eines unbewältigten frühkindlichen Traumas. Durch dieses akute Trauma oder durch leichtere sich wiederholende chronische Traumatisierungen kommt es nach der psychoanalytischen Theorie zu einer vermehrten Abwehrbereitschaft gegen diese schmerzlichen Erinnerungen. Freud gebrauchte den Begriff Neurose ab 1895 in noch heute gültigem Sinne.

Carl Gustav Jung formuliert hierzu, dass ohne schon vorher vorhandene bewusste Begriffe eine Apperzeption unmöglich sei, woraus sich viele neurotische Störungen ergäben. Im Unbewussten existieren gewisse Inhalte, welche mangels apperzipierender Begriffe (von „greifen“, comprehendere) nicht ins Bewusstsein aufgenommen werden könnten. Deren oft beträchtliche Energie verlagere sich auf normalerweise wenig betonte, aber bewusste Inhalte und erhöhe deren Intensität ins Pathologische. Es entstünden dadurch nur scheinbar grundlose Phobien und Obsessionen (überspannte Ideen, Idiosynkrasien, hypochondrische Vorstellungen, intellektuelle Perversitäten), welche sich sozial, religiös oder politisch äußern könnten.

Die Primärtheorie von Arthur Janov erklärt die Neurose in anderer Weise als die klassische Freud’sche Schule. In der Primärtheorie versucht ein Kind psychische Konflikte zwischen natürlichen Bedürfnissen (Es) und diesen natürlichen Bedürfnissen entgegenstehenden Lebensbedingungen (im weitesten Sinne als Über-Ich zu verstehen) dadurch zu lösen, dass es die Bedürfnisse aus dem bewussten Erleben verdrängt. Im Alter von etwa sechs Jahren, was je nach Lebensbedingungen variieren kann, gewinne das Kind die grundsätzliche Erkenntnis, dass es mit seinen natürlichen Bedürfnissen niemals anerkannt werde. Dies führe zu einem sogenannten „Umkippen“. Die Tendenz zur Verdrängung von Bedürfnissen nehme ab diesem Zeitpunkt überhand und wird im primärtherapeutischen Sinne als neurotisch bezeichnet.

Literatur

  • Annegret Eckhardt-Henn, Gereon Heuft, Gerd Hochapfel und Sven Olaf Hoffmann (Hrsg.): Neurotische Störungen und Psychosomatische Medizin: Mit einer Einführung in Psychodiagnostik und Psychotherapie. 7. Auflage. Schattauer, Stuttgart 2004, ISBN 3-7945-2325-3.
  • C. G. Jung, Lilly Jung-Merker (Hrsg.): Aion: Beiträge zur Symbolik des Selbst. Hrsg. von Lilly Jung-Merker und Elisabeth Rüf. Walter, Solothurn 1995, ISBN 3-530-40085-8.

Weblinks

Einzelnachweise

  1. Freud, Sigmund: Die Sexualität in der Ätiologie der Neurosen. (1889) In: Gesammelte Werke, Band I, S. Fischer Verlag , Frankfurt / M 31953, ISBN 3-10-022703-4; Seite 509
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