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NS-Tötungsanstalt Pirna-Sonnenstein

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Datei:Pirna Sonnenstein.jpg
Schloss Sonnenstein Haus C16 als Gedenkstätte
Datei:Pirna Denkmal Graue Busse (01-1).jpg
Von Juni 2010 bis August 2011 erinnerte das in der Grohmannstraße aufgestellte Denkmal der grauen Busse an die Sonnensteiner Euthanasie-Opfer

Die NS-Tötungsanstalt Pirna-Sonnenstein befand sich in der ehemaligen Festung Schloss Sonnenstein bei Pirna, in der 1811 eine Krankenanstalt eingerichtet wurde.

In diesen Räumen wurden in den Jahren 1940 und 1941 unter dem euphemistischen Namen „Euthanasie“ durch Nationalsozialisten 13.720 Menschen umgebracht. Daran erinnert die Gedenkstätte Pirna Sonnenstein. Dabei handelte es sich vorwiegend um psychisch Kranke und geistig Behinderte, aber auch Häftlinge aus Konzentrationslagern. Dies geschah nach Kriegsbeginn im Rahmen einer reichsweit zentral koordinierten und weitgehend geheim gehaltenen Aktion T4 zur „Vernichtung lebensunwerten Lebens“ oder Tötung von den Nationalsozialisten so genannten „Ballastexistenzen“.

Die NS-Tötungsanstalt auf dem Sonnenstein diente damit auch der personellen, organisatorischen und technischen Vorbereitung des Holocaust. Diese Vernichtungsanstalt (eine von insgesamt sechs) ist, nicht zuletzt wegen der Zahl ihrer Opfer, einer der schlimmsten Orte nationalsozialistischer Verbrechen in Sachsen.

Vorgeschichte

Die frühere Burganlage und Festung wurde 1811 zur Anstalt für als heilbar angesehene Geisteskranke mit einem wegen ihres reformpsychiatrischen Konzepts guten Rufes umgebaut. Hausarzt und Direktor dieser Heilanstalt war damals Ernst Gottlob Pienitz. Zwischen 1855 und 1914 wurde die Anstalt durch zahlreiche Neubauten erweitert. Von 1922 bis 1939 wurde die staatliche Pflegerschule auf den Sonnenstein verlegt.

1928 wurde Hermann Paul Nitsche zum Direktor der auf über 700 Patienten angewachsenen Heilanstalt Sonnenstein berufen. Mit seinem Amtsantritt begann die systematische Ausgrenzung der chronisch psychisch Kranken. Als Befürworter der „Rassenhygiene“ und „Euthanasie“ setzte er Zwangssterilisationen, fragwürdige „Zwangsheilbehandlungen“ und „Verpflegungssparrationierungen“ gegen „erbkranke“ Patienten durch. Im Herbst 1939 wurde nach außen hin die Anstalt durch einen Erlass des sächsischen Innenministers geschlossen und als Reservelazarett und Umsiedlerlager eingerichtet.

Perfekt organisierter Krankenmord

Im Rahmen der später so genannten „Aktion T4“ wurden unter Leitung von Dienststellen der NSDAP und einer speziell geschaffenen Zentrale der Vernichtungsaktion in der Tiergartenstraße 4 in Berlin in den Jahren 1940 und 1941 sechs Tötungsanstalten im Deutschen Reich eingerichtet, in denen mehr als 70.000 psychisch kranke und geistig behinderte Menschen aus psychiatrischen Einrichtungen, Alters- und Pflegeheimen und Krankenhäusern vergast wurden. Eine dieser Vernichtungsanstalten befand sich in Pirna-Sonnenstein unter der Leitung des Arztes Horst Schumann. Nachfolger waren Kurt Borm (Deckname „Dr. Storm“), Klaus Endruweit (Deckname „Dr. Bader“) und Curt Schmalenbach (Deckname „Dr. Palm“).

Im Frühjahr 1940 ließ die Berliner „Euthanasie“-Zentrale in einem abgeschirmtem Teil des Anstaltsgeländes eine Tötungsanstalt einrichten: Im Keller eines Krankengebäudes – Haus C 16 – wurde eine Gaskammer installiert und ein Krematorium eingebaut. Der vier Häuser umfassende Komplex wurde an der Elb- und Parkseite mit einer heute noch weitgehend vorhandenen Mauer, an den übrigen Abschnitten mit einem hohen Bretterzaun umgeben, um die Vorgänge im Innern zu verdecken.

Ende Juni 1940 nahm die Vernichtungsanstalt ihren Betrieb auf. Hier arbeiteten in den Jahren 1940/41 insgesamt etwa 100 Angestellte: Ärzte, Pfleger, Fahrer, Schwestern, Bürokräfte, Polizisten. Mehrmals wöchentlich wurden Patienten aus Heil- und Pflegeanstalten mit Bussen abgeholt und auf den Sonnenstein gebracht. Nach Passieren des von einem Polizeikommando bewachten Eingangstores der Anstalt wurden die Opfer vom Pflegepersonal im Erdgeschoss des Hauses C 16 nach Männern und Frauen getrennt in je einen Aufnahmeraum gebracht. In einem weiteren Raum wurden sie einzeln in der Regel zwei Ärzten der Anstalt vorgeführt, die dabei eine fingierte Todesursache für die spätere Sterbeurkunde festlegten. Nach der „Untersuchung“ mussten sich die Menschen unter der Aufsicht von Schwestern und Pflegern in einem weiteren Raum entkleiden. Anschließend wurden jeweils 20 bis 30 Menschen unter dem Vorwand, es ginge ins Bad, in den Keller gebracht. Dort wurden sie in die als Duschraum mit mehreren Brauseköpfen an der Decke hergerichtete Gaskammer geführt. Dann schloss das beteiligte Personal die Stahltür zur Gaskammer. Ein Anstaltsarzt kam hinzu, drehte den Gashahn an einer Kohlenmonoxid-Flasche auf und beobachtete den Tötungsvorgang, der je nach Körperbau und Durchhaltevermögen etwa 20 bis 30 Minuten dauerte.

Nach ca. weiteren 20 Minuten und dem Absaugen des Gases wurden die Leichen von „Heizern“ aus der Gaskammer herausgezogen und in zwei Koksöfen verbrannt, die vom Unternehmen Kori (Berlin) geliefert worden waren. Zuvor wurden noch vom Arzt ausgewählte Patienten seziert und vorhandene Goldzähne herausgebrochen. Die Asche der Opfer wurde auf der Anstaltsdeponie abgelagert oder nachts einfach hinter dem Haus den Elbhang hinuntergeschüttet.

Das „Standesamt Sonnenstein“ versandte an die Hinterbliebenen eine Sterbeurkunde mit gefälschter Todesursache und einen standardisierten „Trostbrief“. Ermordet wurden auf dem Sonnenstein Frauen und Männer aller Altersstufen und selbst Kinder, unter anderem aus dem „Katharinenhof“ im sächsischen Großhennersdorf und aus der Landesanstalt Chemnitz-Altendorf. Die auf dem Sonnenstein ermordeten Kranken kamen aus ganz Sachsen, Thüringen, Schlesien, Ostpreußen und Teilen Bayerns. Bis zum 24. August 1941, als Adolf Hitler, wahrscheinlich aus innenpolitischen Gründen, den sogenannten „Euthanasie-Stop“ erließ, wurden im Rahmen der „Aktion T4“ in Pirna-Sonnenstein insgesamt 13 720 psychisch kranke und geistig behinderte Menschen mit Giftgas ermordet.

Vorlauf der „Endlösung“

Im Sommer 1941 wurden dann zusätzlich mehr als tausend Häftlinge aus Konzentrationslagern im Rahmen der „Aktion 14f13“ in Pirna-Sonnenstein ermordet. Zu diesem Zeitpunkt verfügten die Lager noch nicht über eigene Gaskammern. Das Ausmaß der Häftlingstransporte nach dem Sonnenstein ist noch nicht vollständig bekannt. Belegt sind Transporte aus den Konzentrationslagern Sachsenhausen, Buchenwald und Auschwitz. An der Massenvergasung von fast 600 Häftlingen des KZ Auschwitz Ende Juli 1941 zeigt sich der Übergang zu einer neuen Dimension der Verbrechen.

In der ersten Hälfte des Jahres 1942 wurden vor allem in Ostpolen im Rahmen der Aktion Reinhardt Lager zur Vernichtung der polnischen und europäischen Juden eingerichtet, die auf die Erfahrungen der „Aktion T4“ zurückgreifen konnten. Etwa ein Drittel der Mitarbeiter der Tötungsanstalt Sonnenstein wurde in den Jahren 1942 und 1943 in den Vernichtungslagern Belzec, Sobibor und Treblinka eingesetzt.

Verwischte Spuren

Datei:Bundesarchiv Bild 183-1992-0728-500, Dresden, Ärzteprozeß.jpg
Der Schwurgerichtssaal 1947 während des Dresdner Ärzteprozesses um die Verbrechen in der NS-Tötungsanstalt Pirna-Sonnenstein

Im Laufe des Sommers 1942 wurde die „Euthanasie“-Anstalt Sonnenstein aufgelöst. Die Gaskammer und das Krematorium wurden abgebaut. Nach sorgsamer Verwischung der Spuren der Verbrechen wurden die Gebäude seit Ende 1942 als Wehrmachtlazarett genutzt. Im so genannten Dresdner Ärzteprozess im Sommer 1947 wurden einige der Beteiligten an der Mordaktion auf dem Sonnenstein zur Verantwortung gezogen. Das Dresdner Schwurgericht verurteilte Hermann Paul Nitsche, der vom Frühjahr 1940 an einer der medizinischen Leiter der Krankenmordaktion im Deutschen Reich gewesen war, sowie zwei Sonnensteiner Pfleger zum Tode.

In Pirna wurde nach dem Ärzteprozess kaum noch über die hier verübten Verbrechen gesprochen. Diese wurden über vier Jahrzehnte verdrängt und weitgehend verschwiegen. Auf dem Gelände des Sonnensteins wurde ein von der Öffentlichkeit abgeschirmter Großbetrieb errichtet, der auch die Gebäudeteile der Tötungsanstalt nutzte.

Opferzahlen

Nach einer erhalten gebliebenen internen T4-Statistik wurden in der Tötungsanstalt Sonnenstein in 15 Monaten zwischen Juni 1940 und dem 1. September 1941 insgesamt 13.720 Menschen in einer Gaskammer ermordet:[1]

1940 Juni Juli Aug. Sept. Okt. Nov. Dez. 1941 Jan. Febr. März April Mai Juni Juli Aug. Summe
10 1.116 1.221 1.150 801 947 698 365 608 760 273 1.330 1.297 2.537 607 13.720

Diese Statistik umfasst lediglich die erste Mordphase der Aktion T4, die auf eine Anordnung Hitlers hin mit dem Datum 24. August 1941 abgeschlossen wurde.

Nach dem zeitweiligen Abbruch der „Aktion T4“ wurden unter der Tarnbezeichnung „Sonderbehandlung 14 f 13“ weitere 1.031 KZ-Häftlinge aus Buchenwald, Sachsenhausen und Auschwitz in Sonnenstein ermordet.

Eines der bekanntesten Opfer ist die Dresdner Malerin Elfriede Lohse-Wächtler. Ebenso gehört der Kirchenjurist Martin Gauger, der aus dem Konzentrationslager Buchenwald kommend unter der Aktion 14f13 in Sonnenstein ermordet wurde, zu den Opfern.

Entstehungsgeschichte der Gedenkstätte

Datei:Gedenkkreuz Pirna-Sonnenstein 1.JPG
Gedenkkreuz für die 13720 ermordeten Menschen

Nach dem Ende der Krankenmorde 1941 wurden auf dem Gelände des Sonnensteins die „Adolf-Hitler-Schule Gau Sachsen“, die Reichsverwaltungsschule und ein Wehrmachtslazarett eingerichtet, welche bis 1945 Bestand hatten. Nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges waren hier bis 1949 Flüchtlingslager, Quarantänelager für entlassene Wehrmachtsangehörige, Teile des Landratsamts und eine Polizeischule (bis 1954) untergebracht.

Von 1954 bis 1991 wurde ein großer Teil des Geländes überwiegend betrieblich vom Strömungsmaschinenwerk zum Bau von Flugzeugturbinen genutzt. 1977 wurde das „Kreisrehabilitationszentrum Pirna“ im Schlossbereich eingerichtet. 1991 ging daraus die Werkstatt für behinderte Menschen in Trägerschaft der Arbeiterwohlfahrt hervor.

Erst seit Herbst 1989 drang das historische Geschehen allmählich in das öffentliche Bewusstsein der Stadt. Am 1. September 1989 wurde im Evangelischen Gemeindezentrum Pirna-Sonnenstein anlässlich des 50. Jahrestages des Beginns der nationalsozialistischen Krankenmordaktionen auf Initiative einiger an der Aufklärung interessierter Bürger eine kleine Ausstellung des Historikers Götz Aly zur „Aktion T4“ eröffnet, die viel Beachtung in der Öffentlichkeit fand. In der Folge entstand eine Bürgerinitiative zur Schaffung einer würdigen Gedenkstätte für die Opfer der „Euthanasie“-Verbrechen auf dem Sonnenstein. Im Juni 1991 konstituierte sich das Kuratorium Gedenkstätte Sonnenstein e.V.

Nach archivalischen Forschungen und bauarchäologischen Untersuchungen in den Jahren 1992 bis 1994 wurden die zur Tötung genutzten Kellerräume von Haus C 16 seit 1995 rekonstruiert und als Gedenkstätte hergerichtet (heute Gebäude Schlosspark 11). Die Ausstellung befindet sich im Dachgeschoss desselben Gebäudes. Im Auftrag der Stiftung Sächsische Gedenkstätten zur Erinnerung an die Opfer politischer Gewaltherrschaft entstand eine ständige Ausstellung zur Dokumentation der Verbrechen, die am 9. Juni 2000 der Öffentlichkeit übergeben wurde.

Gestaltung der Gedenkstätte

Datei:Gedenkspur Pirna-Sonnenstein 1.JPG
Gedenkspur für die 13720 ermordeten Menschen

Ein aus 16 Tafeln bestehendes Wegweisersystem führt vom Pirnaer Bahnhof über das Stadtzentrum hinauf zur Gedenkstätte Sonnenstein. Sie sind Teil des Denkzeichens „Vergangenheit ist Gegenwart“. Dies wurde als Ganzes von der Berliner Künstlerin Heike Ponwitz gestaltet. Alle Tafeln tragen ein Motiv der Festung Sonnenstein, das von dem kursächsischen Hofmaler Giovanni Canaletto (1722–1780) stammt. Jede Tafel trägt jeweils einen Begriff aus dem Zusammenhang der nationalsozialistischen „Euthanasie“-Verbrechen, zum Beispiel: Sammeltransport, Trostbrief, Sonderbehandlung, Baderaum. Die Schönheit des Stadtbildes wird so beim genaueren Hinschauen durch die Begriffe der Vergangenheit aufgebrochen.

Das Projekt von Heike Ponwitz ist aus einem Wettbewerb zur Errichtung eines Mahnmals für die 15.000 Menschen hervorgegangen.

Ferner verbindet eine Gedenkspur bunter Kreuze den Ort Pirna mit dem Ort der NS-Verbrechen. Jedes Kreuz erinnert an ein Opfer.

Literatur

  • Boris Böhm: Geschichte des Sonnensteins und seiner Festung. Hrsg. v. Kuratorium Gedenkstätte Sonnenstein e.V., Pirna 1994.
  • Ernst Klee (Hrsg.): Dokumente zur „Euthanasie“. Fischer, Frankfurt am Main 1985, ISBN 3596243270, S. 232f.
  • Kuratorium Gedenkstätte Sonnenstein e.V. u. Sächsische Landeszentrale für politische Bildung (Hrsg.): Nationalsozialistische Euthanasieverbrechen in Sachsen. Beiträge zu ihrer Aufarbeitung. Dresden/Pirna 1993 und 2. stark veränderte Auflage 1996; 2004, ISBN 3-937602-32-1. (Sammlung einzelner Aufsätze)
  • Kuratorium Gedenkstätte Sonnenstein e.V. (Hrsg.): Von den Krankenmorden auf dem Sonnenstein zur „Endlösung der Judenfrage“ im Osten. Pirna 2001.
  • Frank Hirschinger: „Zur Ausmerzung freigegeben“. Halle und die Landesheilanstalt Altscherbitz 1933-1945. Böhlau, Köln 2001, ISBN 3-412-06901-9.
  • Daniela Martin: „... die Blumen haben fein geschmeckt“. Das Leben meiner Urgroßmutter Anna L. (1893–1940). Schriftenreihe Lebenszeugnisse – Leidenswege, Heft 21. Dresden 2010, ISBN 978-3-934382-23-7.
  • Thomas Schilter: Unmenschliches Ermessen. Die nationalsozialistische „Euthanasie“-Tötungsanstalt Pirna-Sonnenstein 1940/41. Gustav Kiepenheuer Verlag, Leipzig 1998, ISBN 3378010339.

Weitere Literaturhinweise → Hauptartikel: Die Euthanasiemorde in der NS-Zeit oder Aktion T4

Einzelnachweise

  1. Ernst Klee (Hrsg.): Dokumente zur "Euthanasie". Fischer, Frankfurt am Main 1985, ISBN 3596243270.

Weblinks

50.96149813.950943
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