Jewiki unterstützen. Jewiki, die größte Online-Enzy­klo­pädie zum Judentum.

Helfen Sie Jewiki mit einer kleinen oder auch größeren Spende. Einmalig oder regelmäßig, damit die Zukunft von Jewiki gesichert bleibt ...

Vielen Dank für Ihr Engagement! (→ Spendenkonten)

How to read Jewiki in your desired language · Comment lire Jewiki dans votre langue préférée · Cómo leer Jewiki en su idioma preferido · בשפה הרצויה Jewiki כיצד לקרוא · Как читать Jewiki на предпочитаемом вами языке · كيف تقرأ Jewiki باللغة التي تريدها · Como ler o Jewiki na sua língua preferida

Max Bircher-Benner

Aus Jewiki
Zur Navigation springen Zur Suche springen
Bronzebüste Bircher-Benners von Georg Krämer, Bad Homburg

Maximilian Oskar Bircher-Benner (* 22. August 1867 in Aarau; † 24. Januar 1939 in Zürich) war ein Schweizer Arzt und Ernährungsreformer. Er entwickelte das Birchermüesli und gilt als Pionier der Vollwertkost.

Leben

Max Bircher wurde als zweiter Sohn des Notars Heinrich Bircher und dessen Ehefrau Berta, geb. Krüsi (1845–1928), in Aarau geboren. Er hatte vier Geschwister:

  • Ernst Bircher (1866–1958). Rechtsanwalt.
  • Berta Brupbacher-Bircher (1870–1951). Von 1906 bis hauswirtschaftliche Leiterin im „Sanatorium Lebendige Kraft“. Schrieb 1927 das Das Wendepunkt-Kochbuch.
  • Fanny Rieter-Bircher. Zahnärztin.
  • Alice von Brasch-Bircher (1879–1916). Von 1897 bis 1906 hauswirtschaftliche Leiterin im „Sanatorium Lebendige Kraft“. 1906 veröffentlicht Alice ein Kochbuch: Diätetische Speisezettel und fleischlose Kochrezepte.

Schon als Kind interessierte sich Bircher-Benner für Medizin und studierte nach Ablegung seiner Matura an der Alten Kantonsschule Aarau dieses Fach in Zürich und Berlin. 1891 schloss er das Studium in Zürich ab. 1897 promovierte er ebenfalls in Zürich mit einer Arbeit „Über den Naevus pilosus“. Schon während seines Studiums beschäftigte er sich mit Naturheilkunde, Hydrotherapie und Diätetik. Stark beeindruckt wurde er durch den Physiologen Justus Gaule (1849–1939) [1] und durch den Psychiater Auguste Forel. 1893 heiratete er Elisabeth Benner (1872–1945), Tochter eines Apothekers aus dem Elsass, die eine ansehnliche Mitgift in die Ehe brachte. Das Paar bekam im Laufe von zehn Jahren sieben Kinder:

  • Max Edwin Bircher-Müller (* 1894). Arzt. Nach Praxiszeiten in Amerika, u.a. am Battle Creek Sanatorium bei John Harvey Kellogg und in der Mayo-Klinik in Rochester (Minnesota) war er von 1922 bis 1929 Mitarbeiter im „Sanatorium Lebendige Kraft.“ 1929 eröffnete er eine eigene Praxis in Zürich und gründete später ein eigenes Sanatorium in Oberwil am Zuger See.
  • Franklin Bircher-Rey (1896–1988). Arzt. Lehranalyse bei Paul Federn. Ab 1929 Mitarbeit im Sanatorium. 1935 bis 1939 Nationalrat der LDU. 1939 bis 1942 Chefarzt im Zürcher „Sanatorium Lebendige Kraft“. Franklin war enger Mitarbeiter von Paul Niehans, der 1931 die Frischzellentherapie begründete.
  • Willy Bircher-Schwarzenbach (1898–1970). Arzt. Psychotherapeutischer Ausbildung bei Wilhelm Stekel in Wien. Ab 1924 Mitarbeit im „Sanatorium Lebendige Kraft“.
  • Ralph Bircher-Rauch (1899–1990). Volkswirt. 1925–1931 als Textilkaufmann in Iberien, in der Karibik und in Zentralamerika. Ab 1932 Redaktor der Hauszeitschrift „Der Wendepunkt“.
  • Elisabeth Favaretto-Bircher (* 1901). Im „Sanatorium Lebendige Kraft“ Lehrerin für Tanzgymnastik und Leiterin einer kleinen Buchbinderwerkstatt.
  • Margret Bircher (* 1902), wanderte nach Argentinien aus.
  • Ruth Kunz-Bircher. (* 1904). Konzertviolinistin. Ab 1945 Direktion des Sanatoriums. Ihr Mann Alfred Kunz-Bircher, promovierter Chemiker, leitete ab 1931 das angegliederte Laboratorium.

Ab 1916 gehörte auch die Nichte Dagmar Liechti-von Brasch zur Familie.

Bircher-Benner starb 1939 im Alter von 71 Jahren an einem Herzinfarkt.

Er war Mitglied der pennalen Verbindung Argovia Aarau.[2]

Praxis und Sanatorium

Zweierlei Winter. Abbildung aus: Fritz Brupbacher und Max Tobler. ..... Der tolle Hund. Ein Weihnachtsbuch. Verlag Arbeiterunion, Zürich 1909.
„Sanatorium Lebendige Kraft“. Hauptgebäude. Süd-West-Seite
„Sanatorium Lebendige Kraft“. Drei Chalets („Marguerite“ 1906 – „Wilhelmina“ 1926 – „Alice“ 1906) und „Privathaus“ 1925/26
„Sanatorium Lebendige Kraft“ = „Bircher-Benner-Privatklinik“. Heute „Zurich Development Center“. Haupt­gebäude. Eingang Nord-Ost-Seite

Am 1. Dezember 1891 direkt nach Abschluss des Studiums ließ Bircher-Benner sich im Industriequartier Zürich-Aussersihl (Hafnerstrasse 60) als praktischer Arzt nieder. Im Spätherbst 1897 eröffnete er eine kleine Privatklinik am Zürichberg (Asylstrasse 35) und betrieb darüber hinaus ein „Centralbad“ im Zürcher Stadtzentrum (Waldmannstrasse 9), wo er zusammen mit seinem Kollegen Heinrich Hotz praktizierte.[3]

„Sanatorium Lebendige Kraft“

1904 schließlich eröffnete Bircher-Benner ein Sanatorium in bester Lage über dem See (Keltenstrasse 8), das er „Lebendige Kraft“ nannte und das 1906 bis 1914 eine Erweiterung von 20 auf 80 Betten erfuhr.

1907 wurde innerhalb dieses Sanatoriums eine „Abteilung für Wenigerbemittelte“ mit zwei großen Zimmern zu je drei Betten eingerichtet. Der Kurpreis wurde hier auf 35 bis 56 Franken pro Woche reduziert (normal 84 bis 112 Franken). Von den „Wenigerbemittelten“ wurde Selbstbedienung und Mitarbeit in der Lingerie, bei der Zubereitung der Mahlzeiten sowie bei Haus- und Gartenarbeiten als Gegenleistung gefordert.[4][5] Der Wochenlohn eines Industriearbeiters in der Deutschschweiz betrug damals 29 Franken.[6]

Der Erste Weltkrieg ließ die Patientenzahl im Sanatorium stark sinken. In den 1920er Jahren kam es jedoch wieder zu einem Aufschwung.

Für den Zeitraum 1904 bis 1939 lassen sich die Patienten des Sanatoriums „Lebendige Kraft“ nach Geschlecht, nach Landes-Herkunft und nach sozialer Herkunft unterteilen:

  • Nach Geschlecht: Frauen 60 %, Männer 40 %.
  • Nach Landesherkunft: Schweiz 32 %, Deutschland 30 %, Schweden 16 %[7], Frankreich 5 %[8], Holland 4 %, Russland 4 %, Österreich 2 %, Großbritannien 1 %, USA 1 %.
    • Bei den Schweizern nochmals unterteilt nach Kantonsherkunft: Zürich 46 %, Bern 12 %, Basel-Landschaft / Basel-Stadt 10 %, Luzern 5 %, Sankt Gallen 4 %, Aargau 4 %, Genf 3 %, Waadt 3 %, Schaffhausen 2 %, Tessin 2 %, Solothurn 2 %, Graubünden 2 %.
  • Nach Berufen bzw. nach sozialer Stellung: Hausfrauen / Ehefrauen 28 %, Lehrer / Professoren 11 %, Schüler / Studenten 10 %, Selbständige 8 %, Privatiers 5 %, Ingenieure / Wissenschaftler 8 %, Künstler 6 %, Angestellte 5 %, Ärzte / Krankenschwestern 5 %, öffentlicher Dienst 4 %, Handwerker 3 %, Hausangestellte 2 %, Geistliche 1 %, Militärs 1 %. Sozialarbeiter 1 %.[9]

Prominente als Patienten des „Sanatoriums Lebendige Kraft“:

Von 1911 bis 1919 war der Psychotherapeut Alphonse Maeder (1882–1971) Hausarzt der Klinik[12]

Die Söhne Bircher-Benners arbeiteten im Sanatorium mit und brachten ihre Spezialkenntnisse ein: Max Edwin (1922–1929), Willy (ab 1924), Franklin (ab 1929) und Ralph (ab 1932).

1939, nach Bircher-Benners Tod wurde das „Sanatorium Lebendige Kraft“ in „Bircher-Benner-Privatklinik“ umbenannt.

„Volkssanatorium für Ordnungstherapie“

Durch die großzügige Schenkung eines Patienten wurde die Errichtung eines „Volkssanatoriums für Ordnungstherapie“ ermöglicht. Die Planung begann 1937. Am 12. April 1938 wurde ein Grundstück am Zürichberg (Schreberweg 9) erworben und im Juni 1939, fünf Monate nach Bircher-Benners Tod wurde das Sanatorium eröffnet. Die Leitung übernahmen zunächst die Söhne Max Edwin, Franklin und Willy.

„Bircher-Benner-Privatklinik“ – „Zurich Development Center“

Nach dem Tode Bircher-Benners übernahmen die Söhne Franklin und Willy die Leitung des Sanatoriums, welches in „Bircher-Benner-Privatklinik“ umbenannt wurde.

Am 1. Mai 1973 ging sie schließlich in den Besitz des Kantons Zürich über. Infolge mangelnder Auslastung wurde die Bircher-Benner-Klinik 1994 endgültig geschlossen und das Gebäude 1998 an die Zürich Versicherungs-Gesellschaft verkauft.[13]

Therapeutisches Konzept

Rohkost

Durch die Behandlung einer magenkranken Frau kam Bircher-Benner auf die Idee, eine Rohkost-Diät zu entwickeln, die er auch im Selbstversuch testete, als er an Gelbsucht erkrankte. Der bekannteste Bestandteil seiner Diät, die als Vollwertkost zu bezeichnen ist, war das Bircher-Müesli. 1903 veröffentlichte er die Schrift Grundzüge der Ernährungstherapie auf Grund der Energetik. Seine These: Nicht ihr Gehalt an Nährstoffen sei für die Qualität der Nahrungsmittel entscheidend, sondern die in ihnen auf eine nicht näher bezeichnete Weise gespeicherte Sonnenenergie. Bei Medizinern und Naturwissenschaftlern stieß Bircher-Benners Ernährungslehre („Sonnenlichtnahrung“) bereits in der Zeit ihrer Entstehung auf Skepsis und Ablehnung, da sie biochemischen Erkenntnissen widersprach. Auch seine Theorie, dass rohe Nahrungsmittel wertvoller seien als gekochte und pflanzliche Nahrung wertvoller als Fleisch, widersprach den damals vorherrschenden Ansichten zur Ernährung, die unter anderem von Justus Liebig entwickelt wurden.[14] Konserven lehnte Bircher-Benner ebenso ab wie behandelte Lebensmittel (Weißmehl, weißer Zucker). Das Müesli (hochdeutsch Müsli) bezeichnete er als „Apfeldiätspeise“, kurz „d’Spys“. Er betonte, dass dieses Rohkostgericht mit der Nahrung der Schweizer Alphirten verwandt sei, deren Lebensweise er für besonders gesund hielt. Diese „Alpenkost“ war für ihn Vorbild.

Geschichte

Hafer ist ein wesentlicher Bestandteil des Bircher-Müsli. Im 16. Jh. war das Hafermus in Schwaben, im Allgäu und im Thurgau eine Speise der Armen. 1518, in seinem „Spiegel der Arznei“, berichtete der Colmarer Arzt Lorenz Fries darüber, wie er in seiner Jugend in der Lateinschule eines geizigen Pfaffen zur Kost ging und alle Tage Haferbrei essen musste. Fries urteilte:

„Haber als Galienus sagt am ersten bůch von den speisen in dem Cap. Avena[15] / so ist es ein speiß der vnvernünfftigen thierer vnd nit der menschen. […] Aber in vil landen essen in die menschen bey d vile / dz erst vnd dz letst ist allweg habermůß / als die Algöwer / Schwaben vnd Thürgöwer / da machet man […] mancherley geköcht von habermůß / ettlichs als dick / das ein wolbeschlagener gaul darüber lieff / vnd nit hineyn fiel. […] Etliche essen milch darzů / fürwar wa sie nicht so grob weren / nem mich nit wunder / das sie gleich zersprungen von dieser speiß / Ettlich sagen den krancken sei gůt ein habermüßlin. Nein sag ich es ist nit gůt in keiner kranckheit […] mein rat ist du last die pferd den habern essen.“[16]

1539, in seinem Kräuterbuch, widersprach Hieronymus Bock:

„Habern. … Von der krafft und würckung. Die jhenige so im Algaw / Torgaw / Schwaben vnd anderen rauhen enden oder Ländern wohnen / die wissen die besten Brey von Habermäl zů Kochen / dünn vnd dick / rören vnd zwerch stopffer Brey / Derhalben Plinius [ Naturalis historia Buch XVIII, § 149-150 ] nit vnbillich sagt / wie das die Teutschen stähts Habern essen / vnd ist zwar nicht ein vngesunde Kost / wann sie recht bereit würde. Es seind auch die Menschen / so stähts Habermůser vnd dergleichen brauchen / stercker vnd gesünder / dann die jehnige / so stähts Apitios [Leckereien] in ihren Kuchen haben. Wer augen hat vnd sehen will / der můß bekennen / das mehr Kranckheit vnd siechtagen auß den vollen Kuchen vnd Apotecken / weder sonst von Natur wachsen / nach dann wöllen wir vns (wiewol offt gewarnet) nicht hüten. …“[17]

Kritik

Der Kenntnisstand Bircher-Benners entspricht demjenigen zum Beginn des 20. Jahrhunderts, seine maßgeblichen Werke erschienen vor 1938. Die Theorie der eingefangenen Sonnenstrahlen wurde bis heute nicht belegt und widerspricht den heutigen Erkenntnissen.[18] Die Behauptung, die Ernährungsweise der alpinen Bergregionen („Alpenkost“) sei die gesündeste, wurde nicht belegt.

Rohkost führt im Vergleich zu gegarter Kost zu einer unvollständigeren Verdauung, was die Aufnahme von Vitaminen und Spurenelementen verschlechtert sowie Mangelerkrankungen und Blähungen begünstigt.[19][20] Einige pflanzliche Fraßgifte wie die in Hülsenfrüchten vorkommenden Phasine und die cyanogenen Glykoside werden erst durch Hitzeeinwirkung weitgehend zerstört. Beim Keimvorgang wird nur ein Teil des Phasingehalts abgebaut.[21] Die Zellmembranen werden durch Erhitzen vollständiger aufgebrochen, wodurch mehr Nährstoffe zur Verfügung stehen.[18] Langfristige Rohkosternährung führt zu einer Abnahme der Knochendichte,[22] Vitamin-B12-Mangel, erhöhten Homocystein-Blutkonzentrationen und erniedrigten LDL-, HDL- und Triglycerid-Blutkonzentrationen.[23]

Ordnungstherapie

Als Arzt beschäftigte er sich nicht nur mit der Ernährung, sondern entwickelte auch eine Ordnungstherapie für seine Patienten. Seinen Patienten verordnete er Bewegung im Freien, Gymnastik, Luftbäder und Hydrotherapie. Bircher-Benner bezeichnete sein Sanatorium als „Lebensschule“ und als „wirksames Instrument gegen die Degeneration“ der Bevölkerung durch „unnatürliche“ Lebensweise. Der Tagesablauf im Sanatorium auf dem Zürichberg war streng geregelt und ließ manche Patienten an eine Kaserne denken. Schon vor dem Frühstück war ein Spaziergang vorgesehen, außerdem gab es ein Programm zur „körperlichen Ertüchtigung“ mit Bewegungs- und Hydrotherapie, Turnen und Gartenarbeit sowie Liegekuren. Um 21 Uhr begann die Nachtruhe. Ein prominenter Kurgast war Thomas Mann, der das Sanatorium 1909 in einem Brief als „hygienisches Zuchthaus“ bezeichnete und sich hier für seinen Roman Der Zauberberg inspirieren ließ.

Wendepunkt und Wendepunkt-Verlag

1923 gründete Bircher-Benner die Monatsschrift „Der Wendepunkt im Leben und im Leiden“. Redaktion: 1925–1926 Martha Bircher-Müller (Ehefrau von Sohn Max Edwin); 1927–1932 Elisabeth Bircher-Benner; 1932–1978 Ralph Bircher. Ab 1953 war Dagmar Liechti-von Brasch Mitherausgeberin der Zeitschrift.

Den weitaus größten Teil der monatlichen Beiträge im Wendepunkt bestritt Bircher-Benner selbst, unterstützt von seinen Söhnen. Wesentliche Beiträge leisteten weiterhin u. a.:

  • Wilhelm Stekel. 1926–1929 eine Artikelserie über Erziehungsprobleme[24], 1930 eine Aufsatzfolge mit dem Titel „Die moderne Ehe“[25] und 1932 sowie 1933 die Arbeiten „Entwicklung und Grundlagen der Psychoanalyse“ und „Sexualität und Erziehung“.
  • Erich Stern. Beiträge: 1929 „Krankheit als Erlebnis“, 1933 „Zum Problem der Kinderneurose“, 1934 eine Abhandlung über Erziehungsfragen, 1937 „Grenzen der Psychotherapie“ und 1938 „Endokrine Störungen bei Kindern und Jugendlichen“.
  • Heinrich Meng. 1931, 1934 und 1937 Beiträge zur Psychohygiene.
  • Werner Zabel 1939[26]
  • Karl Kötschau 1944[27], 1954[28]

„Neue Deutsche Heilkunde“

Bircher-Benners Lehre erfuhr Ende der 1920er Jahre im Rahmen einer breiter gelagerten medizinischen und öffentlichen Debatte über den Gesundheitswert von Rohkost und Vitaminen größere Anerkennung. Seine Kritik an den angeblichen degenerativen Wirkungen der Zivilisationskost entsprach der Haltung zahlreicher rechtskonservativer und nationalsozialistischer Mediziner, etwa Erwin Liek, Werner Zabel und Karl Kötschau.

1932 wies Mussolini die italienischen Ärzte an, eine „naturgemäße Reform der täglichen Gewohnheiten“ durchzuführen. Bircher-Benner bescheinigte ihm deshalb „hervorragende Führertugenden“ und einen „sozial-therapeutischen Scharfblick“.[29] Ende 1933/Anfang 1934 lobte er die „Führer der deutschen Ärzteschaft“. Diese hatten die deutschen Ärzte aufgerufen, „durch eigenes Vorbild“, durch eine „an der Natur ausgerichtete Lebensweise“ und durch eine „Symbiose von Schulmedizin und Naturheilkunde“ das Vertrauen der Patienten zurückzugewinnen.[30][31]

Im sozialdemokratischen Tagblatt Volksrecht empörte sich der Psychiater Charlot Strasser über Bircher-Benners Lob für die Diktatoren in Nord und Süd. In seine Kritik bezog Strasser auch den Schweizer Arzt Adolf Keller-Hörschelmann mit ein, der als Redaktor der Zeitschrift Volksgesundheit eine Rede von Rudolf Heß wörtlich abgedruckt und lobend kommentiert hatte.[32][33] Bircher-Benner antwortete:

„Würde die sozialistische Partei morgen für die Bedeutung der biologischen Grundlagen ebenso entschieden eintreten wie Mussolini oder die Hitler’schen Ärzte, so würde sie bei mir die gleiche Zustimmung finden. Mein Standpunkt richtet sich weder für noch gegen eine bestimmte Partei.“[34][35]

Seit 1933 bemühte sich der deutsche Reichsärzteführer Gerhard Wagner, Bircher-Benner nach Dresden zu holen, um dort eine Professur und die Leitung einer Abteilung des Rudolf-Heß-Krankenhauses zu übernehmen. Bircher-Benner akzeptierte die ihm gemachten Angebote, doch scheiterte die Berufung an Problemen der Finanzierung und Widerständen führender Mediziner, die sich klar gegen die alternativ-naturheilkundliche Neue Deutsche Heilkunde wandten.

Aus nationalsozialistischer Perspektive wurde Bircher-Benner auch vorgeworfen, die von ihm verordnete Krankenkost untergrabe die in Deutschland praktizierte „Rassenhygiene“, indem sie kranke Individuen in die Lage versetze „erbkranken Nachwuchs“ zu erzeugen.[36] In seinem zweibändigen Werk „Der Menschenseele Not“ hatte Bircher-Benner, angeregt durch seinen Lehrer Auguste Forel, die Mnemenlehre des Jenaer Zoologen Richard Semon verteidigt, welche die Lamarcksche These von der Vererbbarkeit erworbener Eigenschaften postulierte.[37] Andererseits war die Schweiz, ausgehend von Auguste Forel, auf kantonaler Ebene bis in die 1930er Jahre Vorreiter in Europa bei der Anwendung der Zwangssterilisation aus psychiatrischer Indikation.

Bis in die 1980er Jahre wurde Bircher-Benners Verquickung mit den Exponenten der nationalsozialistischen Neuen Deutschen Heilkunde durch seinen Sohn Ralph gedeutet. Die Berufung nach Dresden sei gescheitert, so Ralph Bircher, weil sein Vater „diese ehrende aber schwierige Aufgabe hauptsächlich mit Rücksicht auf seine Gesundheit nicht annehmen konnte“[38] und „weil er seine persönliche Freiheit nicht gefährden wollte“[39]. 1993 resümierte Albert Wirz seine Quellenuntersuchung: „Bircher-Benner Vater und Sohn [Ralph] dachten in vielen Punkten ähnlich wie Faschisten und Nazis; sie waren jedoch zu keiner Zeit Nazis oder Faschisten.“[40] 2010 kam Uwe Spiekermann nach erweiterter Quellenauswertung zum Schluss:

„Für die führenden nationalsozialistischen Vertreter der Alternativmedizin und der Lebensreform war Bircher-Benner einer der ihren – und dies schloss für sie nationalsozialistisches Denken, Fühlen und Handeln mit ein. Für sie war er kein Außenseiter, sondern eine Leitfigur und ein Führer. Er war Wegbereiter eines neuen Arzttums und einer neuen Verbindlichkeit. … Zugleich aber gilt es zu berücksichtigen, dass Bircher-Benner für die meisten Ärzte und Wissenschaftler im Deutschen Reich ein Außenseiter blieb und eben kein Wegbereiter wurde.“[41]

Veröffentlichungen (Auswahl)

  • Grundzüge der Ernährungstherapie auf Grund der Energiespannung der Nahrung, Berlin 1903
  • Die Grundlagen unserer Ernährung, Berlin 1921
  • Der Menschenseele Not. Erkrankung und Gesundung. Wendepunkt-Verlag, Zürich, Band I 1927, Band II 1933
  • Diätetische Heilbehandlung: Erfahrungen und Perspektiven, Stuttgart 1935
  • Vom Wesen und der Organisation der Nahrungsenergie, Stuttgart 1936
  • Vom Werden des neuen Arztes: Erkenntnisse und Bekenntnisse, Dresden 1938
  • Max Bircher-Benner: Ordnungsgesetze des Lebens. Drei Vorträge für die „Food Education Society“. Bircher-Benner, Bad Homburg (vormals Zürich) 1992, ISBN 3-87053-048-0 (Nachdruck von Wendepunkt, Zürich / Leipzig / Wien 1938).

Literatur

  • Ralph Bircher: Leben und Lebenswerk Bircher-Benners. 2. Auflage. Bircher-Benner, Bad Homburg (vormals Zürich) 1989, ISBN 3-87053-019-7 (hagiographisch).
  • Michael Eyl: M. O. Bircher-Benner. Ordnung und Hafermüesli. In: Soziale Medizin. 15. Jg., Basel August 1988, S. 3–9.
  • Peter FriedliBircher-Benner, Maximilian Oskar. In: Neue Deutsche Biographie (NDB). Band 2, Duncker & Humblot, Berlin 1955, S. 253 (Onlinefassung).
  • Sonja Furger: Mit Rohkost gegen die Degeneration (PDF; 292 kB). In: Schweizerische Ärztezeitung. Band 85, Nr. 5, 2004.
  • Dorothea Kollenbach: Maximilian Oskar Bircher-Benner (1867-1939) Krankheitslehre und Diätetik. Köln 1974 (Diss. Uni Köln).
  • Hanspeter Kuster: Zahnärztliche Gesichtspunkte in der Krankheitslehre und Diätetik von Maximilian Bircher-Benner (1867–1939). Juris, Zürich 1985, ISBN 3-260-05121-X (Diss. Uni Zürich).
  • Albert Wirz: Die Moral auf dem Teller. Dargestellt an Leben und Werk von Max Bircher Benner und John Harvey Kellogg. Chronos, Zürich 1993, ISBN 3-905311-10-0.
  • Eberhard Wolff (Hrsg.): Lebendige Kraft: Max Bircher-Benner und sein Sanatorium im historischen Kontext. Im Auftrag des Schweizerischen Nationalmuseums in deutscher und französischer Sprache. hier + jetzt, Baden/Schweiz 2010, ISBN 978-3-03919-163-5.

Weblinks

 Commons: Maximilian Bircher-Benner – Sammlung von Bildern, Videos und Audiodateien

Einzelnachweise

  1. Digitalisat Historisches Vorlesungsverzeichnis der Universität Zürich, Justus Gaule
  2. Acta Studentica, Zeitschrift des Vereins für österreichische Studentengeschichte, 33. Jahrgang, Ausgabe Juni 2002, S. 10
  3. Prospect des Centralbades, Institut für physikalische Therapie, Wasser- und Lichtheilanstalt, Elektrisches Lohtanninbad, Teslastrombehandlung. Zürich. Zürich 1901, S. 45 f. (Zentralbibliothek Zürich: Z DE 451)
  4. Prospekt von Dr. Bircher-Benners „Sanatorium Lebendige Kraft“. Heilanstalt für die Anwendung der Diätetik und der physikalischen Heilkräfte. Zürich o. J. [vor 1907], S. 35 f.
  5. Albert Wirz. Die Moral auf dem Teller. Zürich 1993, S. 126.
  6. Hansjörg Siegenthaler und Heiner Ritzmann-Blickensdorfer. Statistique historique de la Suisse. Zürich 1996, S. 448. Zitiert nach Wolff 2010, S. 94, Anm. 11.
  7. Motzi Eklöf. Bircher-Benner und die schwedische Reformkostbewegung. In: Wolff 2010, S. 151–165.
  8. Olivier Faure. La méthode Bircher-Benner en France dans les années 1930. In: Wolff 2010, S. 96–108.
  9. Mariama Kaba. Les premières décennies du Sanatorium Bircher de Zurich à la lumière des dossiers de patients. In: Wolff 2010, S. 78–95.
  10. Peter Heyworth. Otto Klemperer. Biography. New York, Band I, 1983, S. 417; Band II 1996, S. 1, S. 37.
  11. Bernhard Hangartner. Musikerinnen und Musiker als Patientinnen und Patienten der Bircher-Benner-Klinik. In: Wolff 2010, S. 109–120.
  12. A. Maeder. Acht Jahre Hausarzt in der „Lebendigen Kraft“. In: Max Edwin Bircher (Hrsg.). Max Bircher-Benner. Eine Festgabe zu seinem 70. Geburtstag. Zürich 1937
  13. Regierungsratsbeschluss vom 24. März 1999
  14. Albert Wirz: Doktor Birchers neue Weltordnung
  15. C. G. Kühn. Claudii Galeni opera omnia. Leipzig 1823, Band VI, S. 522. (De alimentorum facultatibus, lib. I, Cap. XIV: De bromo.)
  16. Spiegel der Arznei. Straßburg 1518, Blatt 38v–39r. Spiegel der Arztny (1518) Digitalisat
  17. Hieronymus Bock. Kräuterbuch 1539, Buch II, Kapitel 26, Blatt 22v Digitalisat MDZ München
  18. 18,0 18,1 Jeremy M. Berg, John L. Tymoczko, Lubert Stryer: Stryer Biochemie. 7. Auflage, Springer-Verlag, Berlin/Heidelberg 2013, ISBN 978-3-8274-2988-9.
  19. H. van den Berg, M. van der Gaag, H. Hendriks: Influence of lifestyle on vitamin bioavailability. In: Int J Vitam Nutr Res. (2002), Band 72, Nr. 1, S. 53–59. PMID 11887754.
  20. C. Koebnick, C. Strassner, I. Hoffmann, C. Leitzmann: Consequences of a long-term raw food diet on body weight and menstruation: results of a questionnaire survey. In: Ann Nutr Metab. (1999), Band 43, Nr. 2, S. 69–79. PMID 10436305.
  21. Claus Leitzmann: Die 101 wichtigsten Fragen - Gesunde Ernährung, C. H. Beck 2010; S. 35–36. ISBN 9783406599798.
  22. L. Fontana, J. L. Shew, J. O. Holloszy, D. T. Villareal: Low bone mass in subjects on a long-term raw vegetarian diet. In: Arch Intern Med. (2005), Band 165, Nr. 6, S. 684–689. PMID 15795346.
  23. C. Koebnick, A. L. Garcia, P. C. Dagnelie, C. Strassner, J. Lindemans, N. Katz, C. Leitzmann, I. Hoffmann: Long-term consumption of a raw food diet is associated with favorable serum LDL cholesterol and triglycerides but also with elevated plasma homocysteine and low serum HDL cholesterol in humans. In: J Nutr. (2005), Band 135, Nr. 10, S. 2372–2378. PMID 16177198.
  24. 1935 als Wendepunktbücher (Nr. 5, 10 und 12) unter dem Titel Briefe an eine Mutter erschienen.
  25. 1935 als Wendepunktbuch Nr. 15 abgedruckt.
  26. Bircher-Benner als Lehrer der Ärzte. WP 16 (1939) S. 301–304.
  27. Gesund durch Übung und Anpassung an die Natur. WP 21 (1944) S. 445–451.
  28. Gesundheitsvorsorge statt Krankheitsfürsorge. WP 31 No. 11 November 1954, S. 403-406
  29. Dr. M. B.B. Mussolini am nationalen Ärztekongress im Kapitol in Rom. In: Der Wendepunkt im Leben und Leiden. 9. Jahrgang 1932, S. 201 f.
  30. Dr. med. M. Bircher-Benner. Die Wahrheit auf dem Vormarsch. In: Der Wendepunkt im Leben und Leiden. 10. Jahrgang 1933, S. 626–632.
  31. Dr. M. Bircher-Benner. Von der Aufgabe des „Wendepunkt“. In: Der Wendepunkt im Leben und Leiden. 11. Jahrgang 1934, S. 1–7.
  32. Dr. med. Charlot Strasser. Wirtschaftliche Not schafft Wunderglauben. In: Volksrecht. 37. Jahrgang, No. 180, 3. August 1934.
  33. Dr. med. Charlot Strasser. Das trübe Kapitel von Ärzten als Strohmänner für Kurpfuscher und von kurpfuschenden Ärzten. In: Volksrecht. 37. Jahrgang, No. 191, 16. August 1934.
  34. Dr. med. Bircher-Benner. Staatskunst und Heilkunst. Eine Entgegnung. In: Der Wendepunkt im Leben und Leiden. 11. Jahrgang 1934, S. 515–519.
  35. Johanna Bleker. Der Mythos vom unpolitischen Arzt. Historische Überlegungen zum Unterschied zwischen politischer Abstinenz und Toleranz. In: Jahrbuch für kritische Medizin. Bd. 22 (1994), S. 164–186.Pdf
  36. Louis Ruyter Radcliffe Grote in: L. R. Grote und Alfred Brauchle. Gespräche über Schulmedizin und Naturheilkunde. Mit einem Geleitwort des Reichsärzteführers Dr. med. Gerhard Wagner. 2. Aufl. Reclam, Leipzig 1935, S. 22-32.
  37. Albert Wirz. Die Moral auf dem Teller. Zürich 1993, S. 114.
  38. Ralph Bircher. Bircher-Benner. Kurzer Überblick über Lebenslauf und Lebenswerk. Zum 70. Geburtstag. In: Der Wendepunkt. Bd. 14 (1937), S. 506.
  39. Persönliche Mitteilung von Ralph Bircher an Dorothea Kollenbach. Zitiert in Kollenbach 1974, S. 41.
  40. Albert Wirz. Die Moral auf dem Teller. Dargestellt an Leben und Werk von Max Bircher Benner und John Harvey Kellogg. Chronos, Zürich 1993, S. 102.
  41. Uwe Spiekermann. Außenseiter und Wegbereiter. Die Rezeption Bircher-Benners im Deutschen Reich in den 1930er-Jahren. In: Eberhard Wolff (Hrsg.). Lebendige Kraft. Max Bircher-Benner und sein Sanatorium im historischen Kontext. Verlag hier + jetzt, Baden 2010, S. 145
Dieser Artikel basiert ursprünglich auf dem Artikel Max Bircher-Benner aus der freien Enzyklopädie Wikipedia und steht unter der Doppellizenz GNU-Lizenz für freie Dokumentation und Creative Commons CC-BY-SA 3.0 Unported. In der Wikipedia ist eine Liste der ursprünglichen Wikipedia-Autoren verfügbar.