Jewiki unterstützen. Jewiki, die größte Online-Enzy­klo­pädie zum Judentum.

Helfen Sie Jewiki mit einer kleinen oder auch größeren Spende. Einmalig oder regelmäßig, damit die Zukunft von Jewiki gesichert bleibt ...

Vielen Dank für Ihr Engagement! (→ Spendenkonten)

How to read Jewiki in your desired language · Comment lire Jewiki dans votre langue préférée · Cómo leer Jewiki en su idioma preferido · בשפה הרצויה Jewiki כיצד לקרוא · Как читать Jewiki на предпочитаемом вами языке · كيف تقرأ Jewiki باللغة التي تريدها · Como ler o Jewiki na sua língua preferida

Kreisky-Peter-Wiesenthal-Affäre

Aus Jewiki
(Weitergeleitet von Kreisky-Wiesenthal-Affäre)
Zur Navigation springen Zur Suche springen

Als Kreisky-Peter-Wiesenthal-Affäre wurde ein 1975 ausgebrochener Konflikt zwischen dem sozialdemokratischen österreichischen Bundeskanzler Bruno Kreisky und dem Wiener „Nazi-Jäger“ und ÖVP-Anhänger Simon Wiesenthal bezeichnet, in dem es um die Tätigkeit des FPÖ-Vorsitzenden Friedrich Peter im Nationalsozialismus ging. In der Auseinandersetzung spielten antisemitische Ressentiments und der Umgang Österreichs mit seiner nationalsozialistischen Vergangenheit eine Rolle. Kreisky spielte in dieser Affäre eine kritikwürdige Rolle.[1][2]

Vorgeschichte

1970 hatte Wiesenthal gegen vier Minister der von der FPÖ tolerierten SPÖ-Minderheitsregierung Kreiskys mit NS-Vergangenheit protestiert: Otto Rösch (Innenminister), Erwin Frühbauer (Verkehrsminister), Josef Moser (Bautenminister) und Hans Öllinger (Landwirtschaftsminister). Öllinger, der bei der SS gewesen und Kreisky vor seiner Nominierung durch die SPÖ Kärnten nicht bekannt gewesen war, wurde nach einem Monat durch Oskar Weihs, der „nur“ NSDAP-Mitglied gewesen war, ausgetauscht (siehe Bundesregierung Kreisky I). Den anderen war nichts Spezielles vorzuwerfen, hatte sich doch die SPÖ schon seit langem um die Integration ehemaliger Nationalsozialisten bemüht (Rösch gehörte bis 1983 allen vier Regierungen Kreisky an).

Bereits auf dem SPÖ-Parteitag des Jahres 1970 kam es daher zu heftigen Attacken auf Wiesenthal: Zentralsekretär Leopold Gratz führte in Hinblick auf Wiesenthals Dokumentationszentrum aus

„dass hier eine private, ich möchte sagen, Spitzel- und Staatspolizei aufgebaut wurde, die sich nicht scheute, sich gesetzwidriger Methoden zu bedienen. (…) Es wird – und damit möchte ich diesen Punkt abschließen – in allem Ernst Zeit, dass sich die demokratisch legitimierten Organe der Republik Österreich fragen, ob dieser Staat die private Femeorganisation des Herrn Ing. Wiesenthal noch braucht.[3]

Affäre

Seit 1971 hatte die SPÖ mit absoluter Mehrheit regiert. Kreisky fürchtete, dass diese 1975 nicht zu halten sein würde, und bereitete sich alternativ auf eine SPÖ-FPÖ-Koalition vor, in der Friedrich Peter Vizekanzler werden würde. Kurze Zeit vor der Nationalratswahl in Österreich 1975 fand Wiesenthal durch Zufall heraus, dass Peter einer berüchtigten Mordbrigade der SS angehört hatte, die hinter der Ostfront des Zweiten Weltkriegs Massenmorde an Zivilisten begangen hatte.

Wiesenthal informierte Bundespräsident Rudolf Kirchschläger von seinen Aktenfunden, um Peter als Vizekanzler zu verhindern. Kirchschläger leitete die erhaltenen Informationen an Kreisky und Peter weiter. Eine Veröffentlichung fand vor der Wahl nicht statt.

Vier Tage nach der Wahl, bei der die SPÖ neuerlich die absolute Mehrheit erreichte, so dass die Koalition mit der FPÖ hinfällig geworden war, publizierte Wiesenthal seine Vorwürfe gegenüber Peter in einem Pressegespräch. Peter entgegnete, er sei selbst nicht an Mordaktionen beteiligt gewesen.

Kreisky, selbst jüdischer Abstammung und von den Nationalsozialisten 1938 ins Exil gedrängt, verteidigte Peter in einem TV-Auftritt am 10. Oktober 1975: Er glaube Friedrich Peter, dass dieser keiner NS-Kriegsverbrechen schuldig sei. Zudem stellte er, aus Wut auf Wiesenthal offenbar außer sich geraten, den Verdacht in den Raum, Wiesenthal sei selbst ein Nazi-Kollaborateur und Gestapo-Informant gewesen.[4][5] Vom kommunistischen polnischen Geheimdienst gefälschte Unterlagen, die Kreisky zugespielt wurden, könnten ihn zu der außergewöhnlichen Beschuldigung Wiesenthals getrieben haben.

Wiesenthal klagte; Kreisky musste seine Aussage zurückziehen. Der Publizist Peter Michael Lingens, der darüber im Wiener Nachrichtenmagazin „profil“ schrieb, hielt kritisch fest, den meisten Intellektuellen in Österreich müsse die Haltlosigkeit von Kreiskys Anschuldigungen bewusst gewesen sein, nur ganz wenige hätten sich aber zu öffentlicher Unterstützung Wiesenthals gegen den Kanzler durchringen können. Hingegen löste die Affäre eine Welle von Antisemitismus aus, da viele Österreicher die Meinung vertraten, man müsse die Vergangenheit doch endlich ruhen lassen.

In den 1980er Jahren äußerte Kreisky seinen Verdacht erneut; Wiesenthal klagte nochmals. Kreisky wurde daraufhin wegen übler Nachrede zu einer Geldstrafe von 270.000 Schilling verurteilt. Wiesenthal kommentierte das später so: „Kreisky hat verloren, und anstatt die Geldstrafe zu bezahlen, ist er gestorben“.

In einem Interview mit dem israelischen Rundfunkkorrespondenten Zeev Barth, in dem Kreiskys Vorwürfe gegen Wiesenthal zur Sprache kamen, meinte Kreisky, die Juden seien kein Volk, doch sollten sie es sein, wären sie ein „mieses Volk“. Die Äußerung des Kanzlers rief weltweit Empörung hervor. (Der Spiegel Nr. 47/1975)

Lingens wurde wegen seiner geharnischten Kritik am Kanzler (ungeheuerlich, unmoralisch, opportunistisch) in erster und zweiter Instanz gerichtlich verurteilt. 1986 wurde dieses Urteil vom Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte einstimmig als Verletzung von Art. 10 Europäische Menschenrechtskonvention (Freiheit der Meinungsäußerung) festgestellt und Lingens eine „gerechte Genugtuung“ von über 280.000 Schilling, zahlbar von der Republik Österreich, zugesprochen.[6]

Im Zusammenhang mit der Affäre forderte der damalige SPÖ-Klubobmann im Nationalrat, Heinz Fischer, aus Loyalität Kreisky gegenüber einen Untersuchungsausschuss gegen Wiesenthal. Der Ausschuss wurde nicht eingesetzt, da, wie der Jurist Fischer gewusst haben muss, solche Ausschüsse des Parlaments nur zur Untersuchung von Vorgängen in der Regierung tätig werden dürfen, nicht zur Überprüfung des Verhaltens von Privatpersonen.

Als Bundespräsident zeichnete Fischer Wiesenthal 2005 mit dem Großen Goldenen Ehrenzeichen für Verdienste um die Republik Österreich aus.

Hintergrund

Der Historiker Tom Segev beschreibt den Konflikt zwischen Kreisky und Wiesenthal als nicht zuletzt sozialpsychologisch motiviert: Der „Nazi-Jäger“ stammte aus einer jiddisch sprechenden und strenggläubigen ostjüdischen Familie in Galizien, während Kreisky in einem assimilierten, großbürgerlichen Umfeld aufgewachsen war. Wie sehr viele aus dieser Schicht fühlte sich der Bundeskanzler nicht mehr als Angehöriger einer jüdischen Religions- bzw. Schicksalsgemeinschaft und wehrte sich dagegen, von Wiesenthal eine solche Identität „aufgezwungen“ zu bekommen.[7] Wiesenthal hingegen betrachtete diese Haltung Kreiskys als „jüdischen Selbsthass“.[8]

Einzelnachweise

  1. Hintergrund: „Kreisky-Wiesenthal-Affäre“, Website der Tageszeitung Der Standard, Wien, 20. September 2005
  2. Peter Michael Lingens: Vor Kreiskys Seligsprechung, Website des Nachrichtenmagazins profil, Wien, 24. April 2010
  3. Simon- Wiesenthal-Archiv: Stimmen zu Wiesenthal
  4. Peter Michael Lingens: Ansichten eines Außenseiters, Kremayr & Scheriau, Wien 2009, ISBN 978-3-218-00797-9, S. 148.
  5. Oliver Rathkolb: Die paradoxe Republik. Österreich 1945 bis 2005, Paul Zsolnay Verlag, Wien 2005, ISBN 3-552-04967-3, S. 386.
  6. Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte, Lingens gegen Österreich, Urteil vom 8. Juli 1986
  7. Hunting Simon Wiesenthal Haaretz, 8. September 2010
  8. Alan Levy: Nazi Hunter. The Wiesenthal File. Constable & Robinson, London 2003 ISBN 1-84119-607-XS. 409f.

Literatur

  • Martin van Amerongen: Kreisky und seine unbewältigte Gegenwart. Styria Verlag, Graz-Wien-Köln 1977 ISBN 3-222-10995-8

Weblinks

Dieser Artikel basiert ursprünglich auf dem Artikel Kreisky-Peter-Wiesenthal-Affäre aus der freien Enzyklopädie Wikipedia und steht unter der Doppellizenz GNU-Lizenz für freie Dokumentation und Creative Commons CC-BY-SA 3.0 Unported. In der Wikipedia ist eine Liste der ursprünglichen Wikipedia-Autoren verfügbar.