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Kollektives Gedächtnis
Der Begriff kollektives Gedächtnis bezeichnet eine gemeinsame (= kollektive) Gedächtnisleistung einer Gruppe von Menschen. So wie jedes Individuum situativ zu einem individuellen Gedächtnis fähig ist, wird einer Gruppe von Menschen (Volk oder Menschheit) eine gemeinsame Gedächtnisleistung unterstellt. Das kollektive Gedächtnis wird als Rahmen einer solchen Gruppe verstanden: Es bildet die Basis für gruppenspezifisches Verhalten zwischen ihren Angehörigen, da es dem Einzelnen ermöglicht, Gemeinsamkeiten vorzustellen. Das kollektive Gedächtnis nimmt mit Blick auf die kulturelle Vergangenheit Bezug auf die gegenwärtigen sozialen und kulturellen Verhältnisse, wirkt individuell auf eine Gruppe von Menschen und tradiert gemeinsames Wissen.
Das Konzept des kollektiven Gedächtnisses stammt von dem französischen Philosophen und Soziologen Maurice Halbwachs († 1945), der diesen Begriff in den 1920er Jahren einführte. Es wird in jüngerer Zeit in mehreren Disziplinen, darunter auch in der Geschichtswissenschaft, als Analysekategorie verwendet.
Beim kollektiven Gedächtnis wird zwischen dem kommunikativen Gedächtnis und dem kulturellen Gedächtnis unterschieden. Das kommunikative Gedächtnis liefert mündlich weitergegebene Erfahrungen und Traditionen; das aber nur in einem Zeitraum von ca. drei Generationen nach dem Zeitpunkt des Geschehens. Diese Form des Gedächtnisses ist somit an Menschen gebunden, weil es von der Weitererzählung lebt. Im Gegensatz dazu steht das kulturelle Gedächtnis, welches nicht an Personen gebunden ist. Hierbei werden Erinnerungen vielmehr niedergeschrieben und somit für die Nachwelt konserviert, auch über die dritte Generation nach dem Ereignis hinaus. Zum Beispiel zählen vergangene Ereignisse, die in Schriften für Bibliotheken verfasst wurden, zum kulturellen Gedächtnis.
Das Institutionelle Gedächtnis ist ebenfalls ein nicht an einzelne Personen gebundenes Gedächtnis.
Beispiele
- Im kollektiven Gedächtnis der Hamburger sind die verheerenden Luftangriffe der Alliierten im Sommer 1943.
- Gleiches gilt für die Luftangriffe auf Dresden vom 13.–15. Februar 1945, die auch 70 Jahre danach noch eine eigene Gedenkkultur besitzen.
- Im kollektiven Gedächtnis der Deutschen war in den Jahrzehnten danach der Grabenkrieg des Ersten Weltkrieges. Umso verblüffter waren die meisten, als die Wehrmacht zum Beginn des Westfeldzuges nach einem Blitzkrieg nach wenigen Tagen an der Küste stand und die englischen Truppen während der Schlacht von Dünkirchen den Kontinent verließen.
- Im kollektiven Gedächtnis der Deutschen waren jahrzehntelang die beiden Währungsreformen (1923 und 1948) in Deutschland und die schwierigen Zeiten davor (1923: galoppierende Inflation bzw. Hyperinflation; 1948: Schwarzmarkt).
- Im kollektiven Gedächtnis vieler Deutscher war 1914 der schnelle Sieg im Deutsch-Französischen Krieg 1870/71. Dies war ein Grund für viele, sich freiwillig zur Armee zu melden und begeistert in den Ersten Weltkrieg zu ziehen.
- Der Terroranschlag auf die Türme des World Trade Center am 11. September 2001 in New York City wurde Teil des kollektiven Gedächtnisses von New York, der Vereinigten Staaten, aller Industrieländer und vieler Länder weltweit.
Siehe auch
Literatur
- Jan Assmann: Das kulturelle Gedächtnis, Schrift, Erinnerung und politische Identität in frühen Hochkulturen. Beck, München 1997, ISBN 3-406-42375-2.
- Jennifer Cole: Forget colonialism? : sacrifice and the art of memory in Madagascar. Univ. of California Press, Berkeley u. a. 2001, ISBN 0-520-22846-4.
- Oliver Dimbath, Michael Heinlein: Gedächtnissoziologie. Wilhelm Fink (UTB), Paderborn 2015, ISBN 978-3-8252-4172-8.
- Matthias Eitelmann: Beowulfes Beorh: das altenglische Beowulf-Epos als kultureller Gedächtnisspeicher (= Anglistische Forschungen, Band 410), Winter, Heidelberg 2010, ISBN 978-3-8253-5787-0 (Dissertation Universität Mannheim 2009, 295 Seiten).
- Astrid Erll: Kollektives Gedächtnis und Erinnerungskulturen. Eine Einführung. Metzler, Stuttgart / Weimar 2005, ISBN 3-476-01893-8.
- Astrid Erll, Marion Gymnich, Ansgar Nünning (Hrsg.): Literatur – Erinnerung – Identität. Theoriekonzeptionen und Fallstudien. WVT, Trier 2003, ISBN 3-88476-611-2.
- Maurice Halbwachs: La mémoire collective. Presses Universitaires de France, Paris [1939] 1950. (Einleitung: Mary Douglas)
- deutsch: Das kollektive Gedächtnis. Fischer, Frankfurt am Main 1991, ISBN 3-596-27359-5.
- Institut für Kulturpolitik der Kulturpolitischen Gesellschaft (Hrsg.): Erinnerungskulturen und Geschichtspolitik. (Jahrbuch für Kulturpolitik Band 9). Klartext, Bonn / Essen 2009, ISBN 978-3-8375-0192-6.
- Nicolas Pethes, Jens Ruchatz (Hrsg.): Gedächtnis und Erinnerung. Ein interdisziplinäres Lexikon. Rowohlt TB, Reinbek 2001, ISBN 3-499-55636-7.
- Harald Welzer: Das kommunikative Gedächtnis. Eine Theorie der Erinnerung. Beck, München 2002, ISBN 3-406-49336-X.
- Nieper, Lena und Schmitz, Julian (Hrsg.): Musik als Medium der Erinnerung. Gedächtnis - Geschichte- Gegenwart. transcript-Verlag, Bielefeld 2016, ISBN 978-3-8376-3279-8.
Dieser Artikel basiert ursprünglich auf dem Artikel Kollektives Gedächtnis aus der freien Enzyklopädie Wikipedia und steht unter der Doppellizenz GNU-Lizenz für freie Dokumentation und Creative Commons CC-BY-SA 3.0 Unported. In der Wikipedia ist eine Liste der ursprünglichen Wikipedia-Autoren verfügbar. |