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Klassismus

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Klassismus bezeichnet Vorurteile oder Diskriminierung aufgrund der sozialen Herkunft oder der sozialen Position und richtet sich meist gegen Angehörige einer „niedrigeren“ sozialen Klasse. Damit überschneidet sich der Begriff mit den Bedeutungsfeldern von politischen Schlagworten wie Klassendünkel,[1] Klassenschranken[2] und Prekarisierung[3]. Die Klassismustheorie unterscheidet beispielsweise zwischen Diskriminierung gegenüber Arbeitern (working class) und armen Menschen (poverty class).[4] Der Klassismus setzt ein Klassenbewusstsein voraus, transformiert dieses jedoch in heutige gesellschaftliche Strukturen. Klassismus kann Grundlage oder Teil von sozialen Bewegungen, sozialpolitischen Programmen und/oder säkularen, kulturellen oder politischen Ideologien sein.[5]

Begriffsbildung

„Racis[ia]m + Classis[i]m = Katrina“ – Graffito nach dem Hurrikan Katrina, New Orleans 2005

Klassismus ist die deutsche Übersetzung des englischen Begriffs Classism. Mit dem Begriff classism wurde spätestens in Großbritannien seit 1839 und in Frankreich Mitte des 19. Jahrhunderts klassenbezogene Ungerechtigkeiten öffentlich-schriftlich benannt, somit scheint der Begriff wesentlich älter zu sein als verwandte Begriffe im Bereich gruppenbezogener Unterdrückung und Diskriminierung wie beispielsweise Antisemitismus, Rassismus oder Sexismus. Der Begriff „classism“ bildet keine nachträgliche Parallelbildung zu den Begriffen „racism“ oder „sexism“ , sondern ging diesen Begriffen zeitlich voraus.[6]

Als Begriff einer sich formierenden antiklassistischen Bewegung wurde der Begriff "classism" erstmals in den 1970er vom lesbischen Kollektiv The Furies verwendet.[7] Als der Begriff „classism“ um 1970 in den Vereinigten Staaten wiederentdeckt wurde, geschah dies im Kontext der Thematisierung von Mehrfachdiskriminierung. Nach der Sozialwissenschaftlerin Bettina Roß besteht heute ein weitgehender Konsens darüber, dass es sich bei Rassismus, Sexismus und Klassismus „um Herrschaftsverhältnisse handelt, die zusammenwirken, die sich gegenseitig verstärken, sich ähneln, aber doch nie ganz ineinander aufgehen.“[8]

Theorie

Die Klassismustheorie wurde maßgeblich von dem amerikanischen Ökonomen Chuck Barone entwickelt. Er unterscheidet drei Ebenen von Klassismus:[4]

Makroebene
Institutionell bedingte Unterdrückung einer Klasse durch eine andere vor allem durch ein bestimmtes polit-ökonomisches System.[9] In diesem Bereich fällt beispielsweise von Einzelnen oder Gruppen als Ausbeutung eingestufte Behandlung durch als unzureichend bezahlt empfundene Arbeit. Das heißt auch, dass der Kapitalismus an sich bereits klassistisch, bzw. dass Antiklassismus auf dieser Ebene notwendigerweise antikapitalistisch sei.[10]
Mesoebene
Unterdrückung einer Klasse auf Gruppenebene durch den Aufbau von negativen Vorurteilen gegenüber Angehörigen einer „niedrigeren“ Klasse u. a. mit Hilfe der Massenmedien. Antiklassismus auf dieser Ebene umfasst deshalb auch die Forderung nach einer anderen Medienkultur.
Mikroebene
Unterdrückung auf Einzelebene durch individuelle Einstellungen, Identitäten und Interaktionen.[11] In den USA gibt es seit einigen Jahren Anti-Klassismus-Trainings analog zu den Anti-Rassismus-Trainings, um individuelle klassistische Einstellungen zu überwinden. Ähnliches dazu siehe: Snobismus[12] und Alltagsrassismus.

Klassismustheorien sehen die Auseinandersetzung zwischen Klassen als Hauptwiderspruch im Sinne des Marxismus, Diskriminierungen auf Grund von Geschlecht oder Ethnizität als „Nebenwidersprüche“. Sie wollen vor allem verhindern, dass die Diskussion über Klassendiskriminierung gegenüber Sexismus und Rassismus als Diskriminierungsformen weiter in den Hintergrund gerät. Betont wird auch die Überschneidung verschiedener Unterdrückungsformen, wie sie beispielsweise von der Intersektionalitäts-Theorie formuliert wird.

Die Klassismustheorie hat Kontinentaleuropa und insbesondere den deutschsprachigen Raum bisher kaum erreicht. Im europäischen Diskurs spielen – vor allem in Bezug auf die soziale Vererbung von „Klasse“ – eher die Begriffe Kapitalsorten, Habitus und symbolische Gewalt, die Pierre Bourdieu geprägt hat, eine Rolle. Diese wiederum sind in den USA weniger gebräuchlich.

Auswirkungen von Klassismus

Für Betroffene kann Klassismus mit Scham- und Schuldgefühlen sowie sozialer Isolation einhergehen, die gesellschaftliche Teilhabe und eine politische Artikulation von Forderungen erschweren.[13]

Die Auswirkungen des Klassismus werden in der Corona-Pandemie verstärkt. Die Pandemie potenziere Positives wie Negatives. In Studienergebnissen konnte Hartwin Maas nachweisen, dass die Gesellschaft die Folgen der Corona-Pandemie für die Bildung negativ sieht.[14] So ist insbesondere bei Schülern durch das Homeschooling oder den Distanzunterricht erkennbar: Gute Schüler nutzen den Vorteil des Homeschooling, verfügen über die Technik und das soziale Umfeld und die elterliche Unterstützung. Lernschwächeren fehlt die professionelle Unterstützung.[15] „Klassismus wird jetzt schon mit Corona assoziiert“.[16]

Kritik

Verschiedene Autoren bezeichnen die Rede vom Klassismus als Identitätspolitik, die auf die Verbesserung ökonomischer Verhältnisse sozial Benachteiligter keine Auswirkung habe. Bastian Tebarth schreibt im Neuen Deutschland: „Auch wenn man dem Theorem und seiner Praxis zugutehalten muss, dass es Klassenbewusstsein zu schaffen vermag, bleibt es meist auf der identitätspolitischen Mikroebene des Individuums stecken.“[17] Martin Eimermacher kritisierte in der Zeit, soziale Unterschiede würden „identitätspolitisch sozusagen re-individualisiert“. Die Klassismus-Praxis bestehe „überwiegend aus Sensibilisierungsworkshops, Coachings und offenen Briefen, also: in der moralischen Justierung persönlicher Einstellungsmuster.“[18][19]

Zeit-Redakteur Lars Weisbrod argumentierte in einer Diskussion der taz, beim Thema Diskriminierung verhalte sich die Kategorie Klasse anders als die Kategorien Race oder Gender: Niemand wolle arm bleiben. Der Unterschied von Klassismus zu anderen Formen der Diskriminierung liege darin, dass Klasse aus der Perspektive der Linken abgeschafft werden solle.[20] Bernhard Pirkl bezeichnete den Anspruch des „Autonomen Referats für antiklassistisches Empowerment“, „eine klassenlose Gesellschaft ohne Diskriminierungen zu erkämpfen“, in der Jungle World als Tautologie. Er wendet ein: „Wie hätte man sich denn in einer Gesellschaft, in der das Prinzip ,Jeder nach seinen Fähigkeiten, jedem nach seinen Bedürfnissen‘ (Karl Marx) bereits durchgesetzt ist, Diskriminierung überhaupt vorzustellen?“.[21]

Thomas Thiel kritisierte in der FAZ, der Klassismus-Diskurs kenne die Personen, für die er Partei ergreife, nicht, da er überwiegend in einem urbanen, akademischen Milieu geführt werde.[22]

Siehe auch

Literatur

Deutschsprachige Literatur

Englischsprachige Literatur

  • Maurianne Adams, Warren J. Blumenfeld, Rosie Castaneda, Heather W. Hackman, Madeline L. Peters, Ximena Zuniga (Hrsg.): Readings for Diversity and Social Justice. An Anthology on Racism, Antisemitism, Heterosexism, Ableism, and Classism. Routledge, New York/ London 2000, ISBN 0-415-92634-3.
  • Marcia Hill, Esther D. Rothblum (Hrsg.): Classism and Feminist Therapy. Counting Costs. Harrington Park Press, New York 1996, ISBN 1-56023-092-4.
  • Jacqueline S. Homan: Classism For Dimwits. Elf Books, 2008, ISBN 978-0-9815679-1-4.
  • Bell Hooks: Where We Stand. Class Matters. Routledge, New York 2000, ISBN 0-415-92911-3 (PDF; 1,1 MB).
  • Barbara Jensen: Reading Classes: On Culture and Classism in America. Cornell University Press, 2012.
  • Owen Jones: Chavs. The Demonization of the Working Class. Verso, 2012, ISBN 978-1-84467-864-8.
  • Betsy Leondar-Wright: Class Matters: Cross-Class Alliance Building for Middle Class Activists. New Society Publishers, Gabriola Island 2005, ISBN 0-86571-523-8.
  • John Russo, Sherry Lee Linkon (Hrsg.): New Working-Class Studies. ILR Press, Ithaca 2005, ISBN 0-8014-8967-9.
  • I. M. Shanklin: The Laborer and His Hire. The Neale Company, Washington 1900 (archive.org).

Weblinks

Einzelnachweise

  1. vgl. Sozialistische Bildung. Monatsschrift des Reichsausschusses für sozialistische Bildungsarbeit. Jahrgang 1929, Heft 7, S. 193ff. sowie: Aus einem senegalesischen Dorf an die Universität und auf die Bestsellerlisten: Fatou Diome: Der Blick von unten, www.berliner-zeitung.de, vom 8. Februar 2005; abgerufen am 8. Januar 2021
  2. Klaus von Beyme (Hrsg.): Empirische Revolutionsforschung. Westdeutscher Verlag, Opladen 1973.
  3. Werner Seppmann: Ausgrenzung und Herrschaft. Prekarisierung als Klassenfrage. Laika Verlag, Hamburg 2013.
  4. 4,0 4,1 Chuck Barone: Classism. In: Robert E. Weir (Hrsg.): Class in America. An Encyclopedia. Greenwood Press 2007, ISBN 978-0-313-33719-2, S. 139f.
  5. Werner Obrecht: Ontologischer, Sozialwissenschaftlicher und Sozialarbeitswissenschaftlicher Systemismus. Ein Paradigma der Sozialen Arbeit. In: Silvia Staub-Bernasconi (Hrsg.): Systemtheorien im Vergleich. Was leisten Systemtheorien für die Soziale Arbeit? Versuch eines Dialogs. 2005, S. 148.
  6. https://library.fes.de/pdf-files/bueros/erfurt/12716.pdf#page=10
  7. https://www.zeit.de/gesellschaft/2021-02/klassismus-soziale-gruppen-soziologie-literatur-gesellschaft
  8. Bettina Roß: Migration, Geschlecht und Staatsbürgerschaft (= Politik und Geschlecht, Band 16). VS Verlag für Sozialwissenschaften, ISBN 978-3-8100-4078-7, S. 18.
  9. “On the macro level oppression is a matter of collectivity, of economic, social, political, and cultural/ideological institutions.” Chuck Barone: Extending our analysis of class oppression: Bringing classism more full into the race & gender picture. S. 7 (PDF; 102 kB).
  10. “The primary institutional basis of classism is the economic system. Capitalism is structured on the basis of classes.” Chuck Barone: Extending our analysis of class oppression: Bringing classism more full into the race & gender picture. S. 11 (PDF; 102 kB).
  11. “The micro level is a matter of individuality and identity, our attitudes and interactions with others.” Chuck Barone: Extending our analysis of class oppression: Bringing classism more full into the race & gender picture. S. 9 (PDF; 102 kB).
  12. Richard Buckle (Hrsg.): U and Non-U Revisited, Putnam Pub. Group, 1978.
  13. Nikolai Huke: Kollektives Füreinander-Sorge-Tragen – die spanische Bewegung gegen Zwangsräumungen. Von Scham, Isolation und Ohnmacht zu politischer Selbstorganisation. In: Stimmen gegen Armut. 2020 S. 193-201 (http://www.armutskonferenz.at/files/huke_kollektives-fuereinander-sorge-tragen_2020.pdf).
  14. Hartwin Maas: Studie über die Generation Corona und ihre Folgen. 14. Februar 2021, abgerufen am 3. April 2021.
  15. Kristina Staab: Studie in Deutschland: Welche Zukunft hat die Generation Corona? [WZ+]. 19. Februar 2021, abgerufen am 3. April 2021.
  16. Geli Tangermann: Generation Z: „Beobachten, dass viel häufiger utopische Gehälter gefordert werden“. 3. März 2021, abgerufen am 3. April 2021 (deutsch).
  17. Bastian Tebarth: Ein klassischer Ismus (neues deutschland). Abgerufen am 12. März 2021.
  18. Aufarbeitung sexuellen Missbrauchs in der katholischen Kirche und in der Linken - 9punkt - Die Debattenrundschau vom 25.02.2021. Abgerufen am 12. März 2021.
  19. Martin Eimermacher: Klassismus: Völker, hört die coolen Wörter! In: Die Zeit. 2. März 2021, abgerufen am 12. März 2021.
  20. Klaudia Lagozinski: taz-Diskussion „Being Arbeiterkind“: „Ein fucking Wettkampf“. In: Die Tageszeitung: taz. 2021-02-02 ISSN 0931-9085 (https://taz.de/taz-Diskussion-Being-Arbeiterkind/!5748764/).
  21. Alles Klasse. Abgerufen am 2. April 2021.
  22. Thomas Thiel: Klassismus: Hipster im Klassenkampf. In: FAZ.NET. ISSN 0174-4909 (https://www.faz.net/aktuell/feuilleton/wie-der-klassismus-die-soziale-frage-neu-debattiert-17239422.html).
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