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Kinderlager Rühen

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Stätte des früheren Kinderlagers, mit Rosen zum Gedenken (2014)

Das Kinderlager Rühen (damals offiziell Ausländerkinder-Pflegestätte Rühen) in Rühen bei Wolfsburg war ein Lager für Kinder von Zwangsarbeiterinnen am Ende des Zweiten Weltkriegs. Dort starben innerhalb weniger Monate nach verschiedenen Angaben zwischen 100 und etwa 365 Kinder.[1][2]

Geographie

Das Lager befand sich ungefähr einen Kilometer östlich vom damaligen Rühener Ortsrand an der Straße nach Grafhorst unweit des Mittellandkanals.

Geschichte

Bis zum Ende des Zweiten Weltkriegs

In der Endphase des Zweiten Weltkriegs wurden die neugeborenen Kinder von Zwangsarbeiterinnen in sogenannten Ausländerkinder-Pflegestätten untergebracht, damit ihre Mütter wieder arbeiten konnten. So gab es beim Volkswagenwerk Wolfsburg mehrere solcher Lager. Die neugeborenen Kinder der polnischen und sowjetischen Zwangsarbeiterinnen wurden zuerst in einem Heim im Wolfsburger Schachtweg[3] untergebracht. Anfangs nach sechs bis acht Wochen, später nach acht bis zehn Tagen[4] wurden sie von ihren Müttern getrennt, damit diese wieder arbeiten konnten. Zahlreiche Kinder starben aufgrund unzureichender Pflege. Am 14. Juni 1944 wurden die gesunden Kinder nach Rühen in ein 1934 entstandenes ehemaliges Lager des Reichsarbeitsdienstes verlegt,[5] während die kranken Kinder im Wolfsburger Lager verblieben. Später wurden auch die verbliebenen Kinder aus Wolfsburg nach Rühen gebracht. Ein Grund für die Verlegung der Kinder nach Rühen war die Furcht vor Unruhen unter den Zwangsarbeitern wegen der hohen Sterberate der Kinder.[6]

Das Rühener Lager bestand aus vier Baracken. Im Lager befanden sich jeweils rund 130 Kinder. Die Eltern durften ihre Kinder sonntags besuchen, mussten aber dafür den rund zwölf Kilometer langen Weg von Wolfsburg zu Fuß zurücklegen.[7] Je Kind und Monat hatten die Eltern 27 RM für die Unterbringung zu zahlen.[8] Der leitende Betriebsarzt des Volkswagenwerkes, Hans Körbel, war für die Gesundheit der Kinder verantwortlich. Nachdem er anfangs etwa drei Visiten pro Woche durchgeführt hatte, beschränkte er sich später auf wöchentliche Visiten, bei denen er fast nur noch Sterbeurkunden ausstellte. Die Versorgung der Kinder oblag einer Oberschwester, einigen Zwangsarbeiterinnen sowie einer 24-jährigen Ärztin ohne Ausbildung, die Ende 1944 selbst dauerhaft erkrankte.[9]

Ein weiteres Lager in der Nähe war die Ausländerkinder-Pflegestätte Velpke, die bis zum 14. Dezember 1944 existierte und deren überlebende Kinder nach Rühen gebracht wurden. Bis April 1945 starben nach verschiedenen Angaben zwischen 100[10] und mindestens 365[2] Kinder im Kinderlager Rühen. Ursachen waren Gastroenteritis und andere Krankheiten, die auf Mangelernährung durch die fehlende Muttermilch und schlechte hygienische Verhältnisse, vor allem auf Ungeziefer wie Wanzen und Menschenläuse zurückzuführen waren.[11] Dabei kam es häufig zu Überkreuzinfektionen.[12] Die Todesrate der Kinder betrug anfangs rund 70 Prozent, später fast 100 Prozent.[7] Als Todesursache wurde meist „Lebensschwäche“ bzw. „angeborene Lebensschwäche“ beurkundet.[13] Körbel unterließ es bis ans Ende, fachlich versierte Kinderärzte um Rat zu fragen.[9] Die ersten toten Kinder aus dem Lager wurden auf dem Rühener Friedhof in Holzsärgen beerdigt; später verwendete man Pappkartons oder verzichtete ganz auf Behältnisse und begrub mehrere Kinder im selben Grab. Teilweise wurden Kinderleichen im Pappkarton auf dem Fahrrad vom Kinderlager zum zwei Kilometer entfernten Friedhof transportiert.[14] Das Gräberfeld bestand anfangs aus zahlreichen ungeordneten Erdhaufen, auf denen senkrecht stehende Äste auf die Toten hinwiesen.[15] Die Grabstellen wurden nicht namentlich registriert. Die Eltern mussten mit jeweils 20 RM für die Beerdigungskosten aufkommen.[7]

Nachwirkungen

Hans Körbel wurde am 24. Juni 1946 durch ein britisches Militärgericht in Helmstedt wegen „vorsätzlicher Vernachlässigung“ (willful neglect) zum Tod durch den Strang verurteilt. Das Urteil wurde trotz zahlreicher Gnadengesuche, auch kirchlicher Kreise,[16] am 7. März 1947 im Zuchthaus Hameln vollstreckt. Die zuständige Oberschwester wurde ebenfalls zum Tod verurteilt, erreichte aber in einer Revision eine mildere Strafe und wurde nach neun Jahren aus der Haft entlassen.[5] Die im Prozess verwendeten Akten des Kinderlagers sind seit dem Prozess verschollen.

Massengrab auf dem Rühener Friedhof; Zustand seit 1970, Grabplatte seit 1988
Gedenkplatte auf der Grabstätte

1970 wurde die etwa drei mal zehn Meter große Grabstelle von der Gemeinde Rühen eingefasst und mit bodendeckenden Nadelhölzern bepflanzt. Am Rand der Grabstelle steht eine Säule mit quadratischem Grundriss, auf der das Vaterunser eingraviert ist. Eine 1988 hinzugefügte Gedenkplatte klärt über das Schicksal der Kinder auf.

Zur Aufklärung über die Geschehnisse verfasste der Brite John Murdoch das Theaterstück Die Kinder des Dr. Körbel. Es beruht auf den Prozessakten und wird gelegentlich in Wolfsburg und anderen Orten von Murdochs Theatergruppe aufgeführt.[17] Die „Woche des Antifaschismus“ der IG Metall Wolfsburg, die vor allem die Arbeitnehmer des Volkswagenwerkes repräsentiert, begann 2010 an der Rühener Grabstelle. Anwesend war auch die frühere Zwangsarbeiterin Sara Frenkel, die unter falschem Namen bis zur Verlegung des Lagers in Wolfsburg in der Säuglingspflege tätig gewesen war und sich in den 1980er Jahren für eine würdevolle Gestaltung der Kindergräber eingesetzt hatte.[18] 2012 wurde eine Straße in Wolfsburg nach Sofia Gladica benannt, die im Rühener Kinderlager gestorben war. Um dieses Mädchen hatte sich Sara Frenkel auch noch gekümmert, als es von Wolfsburg nach Rühen verlegt worden war.

Die Baracken sind nicht erhalten. Auf dem Gelände stehen teilweise leerstehende Wohnhäuser sowie die Halle eines Vereins für historische Traktoren. Am 9. Mai 2014 wurde erstmals eine Gedenktafel am Rand des Geländes aufgestellt. Die Initiatoren waren die IG Metall Wolfsburg und die VVN Wolfsburg; an der Feier wirkte eine Klasse der örtlichen Realschule mit.[2] Vertreter der Gemeinde waren bei der Einweihung nicht zugegen.[19]

Drei überlebende Kinder sind namentlich bekannt. Eines dieser Kinder wurde von seinen Eltern bei einem der wöchentlichen Besuche aus dem Heim geholt; anschließend floh die Familie Richtung Brome.[20]

Literatur

  • Klaus-Jörg Siegfried: Das Leben der Zwangsarbeiter im Volkswagenwerk 1939–1945. Campus, Frankfurt (Main)/New York 1988, ISBN 3-593-34004-6, S. 235–255
  • Günter Barthel u. a.: Rühen, Brechtorf und Eischott in Bildern. Horb am Neckar 2004, ISBN 3-89570-929-8, S. 80–84

Filme

  • Jens Winter: Kinderlager Rühen: Juni 1944 – April 1945. Medienwerkstatt Isenhagener Land, Hankensbüttel (DVD)

Weblinks

Einzelnachweise

  1. Dokumentation der Zwangsarbeiterlager, abgerufen am 5. August 2011
  2. 2,0 2,1 2,2 Website der VVN, abgerufen am 7. Juni 2014
  3. Informationen bei weltkriegsopfer.de, abgerufen am 6. August 2011
  4. Günter Barthel u. a.: Rühen, Brechtorf und Eischott in Bildern. Horb am Neckar 2004, ISBN 3-89570-929-8, S. 80.
  5. 5,0 5,1 Johann Dietrich Bödecker: Das Land Brome und der obere Vorsfelder Werder. Geschichte des Raumes an Ohre, Drömling und Kleiner Aller. Braunschweig 1985, ISBN 3-87884-028-4, S. 567–569.
  6. Klaus-Jörg Siegfried: Das Leben der Zwangsarbeiter im Volkswagenwerk 1939–1945. Campus, Frankfurt (Main)/New York 1988, ISBN 3-593-34004-6, S. 242.
  7. 7,0 7,1 7,2 Informationen bei antifa.sfa-blog.com, abgerufen am 6. August 2011
  8. Günter Barthel u. a.: Rühen, Brechtorf und Eischott in Bildern. Horb am Neckar 2004, ISBN 3-89570-929-8, S. 83
  9. 9,0 9,1 Klaus-Jörg Siegfried: Das Leben der Zwangsarbeiter im Volkswagenwerk 1939–1945. Campus, Frankfurt (Main)/New York 1988, ISBN 3-593-34004-6, S. 248.
  10. siehe Gedenkplatte auf dem Friedhof
  11. Klaus-Jörg Siegfried: Das Leben der Zwangsarbeiter im Volkswagenwerk 1939–1945. Campus, Frankfurt(Main)/New York 1988, ISBN 3-593-34004-6, S. 243.
  12. Bernhild Vögel: „Entbindungsheim für Ostarbeiterinnen“ Braunschweig, Broitzemer Straße 200. Aufsatz zur Behandlung der Zwangsarbeiter in Braunschweig und Umgebung (PDF-Datei, 2,6 MB), abgerufen am 6. August 2011
  13. Klaus-Jörg Siegfried: Das Leben der Zwangsarbeiter im Volkswagenwerk 1939–1945. Campus, Frankfurt (Main)/New York 1988, ISBN 3-593-34004-6, S. 244.
  14. Günter Barthel u. a.: Rühen, Brechtorf und Eischott in Bildern. Horb am Neckar 2004, ISBN 3-89570-929-8, S. 84.
  15. Günter Barthel u. a.: Rühen, Brechtorf und Eischott in Bildern. Horb am Neckar 2004, ISBN 3-89570-929-8, S. 82, Foto der Grabstelle unmittelbar nach Kriegsende.
  16. Informationen zu Hans Körbel, abgerufen am 6. August 2011
  17. Beschreibung des Stückes vom Hallenbad Schachtweg, abgerufen am 6. August 2011
  18. Bewegende Gedenkfeier mit Zeitzeugin in Rühen. auf: waz-online.de, 8. November 2010, abgerufen am 6. August 2011
  19. Bericht zur Gedenkaktion zum 69. Jahrestag des Kriegsendes 2014 durch den NDR, abgerufen am 11. Mai 2014
  20. Erik Westermann: „Schieres Glück, dass ich überlebt habe“ In: Gifhorner Rundschau vom 23. November 2013.
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