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Horst-Eberhard Richter

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Horst-Eberhard Richter (2010)
Horst-Eberhard Richter (2009)
Horst-Eberhard Richters Grabstein auf dem Friedhof Heerstraße. Mit einem Zitat von Max Scheler

Horst-Eberhard Richter (* 28. April 1923 in Berlin; † 19. Dezember 2011 in Gießen[1]) war ein deutscher Psychoanalytiker, Psychosomatiker und Sozialphilosoph. Der Autor zahlreicher Bücher galt vielen auch als der „große alte Mann“ der bundesdeutschen Friedensbewegung.

Leben

Nach seiner Reifeprüfung im Jahr 1941 wurde Horst-Eberhard Richter zur Wehrmacht eingezogen. Er diente 1942 als Richtkanonier in einem Artillerieregiment an der Ostfront. 1943 konnte er zur Sanitätstruppe überwechseln. 1945 wurde er in Italien eingesetzt, wo er kurz vor Kriegsende desertierte und sich in einer Schutzhütte in den Alpen versteckte. Dort spürten ihn französische Besatzungssoldaten auf, die in ihm einen abgetauchten Nazi-Freischärler, einen sogenannten „Werwolf“ vermuteten und ihn vier Monate in einem alten Innsbrucker Gefängnis festhielten, bis ihn ein französisches Militärgericht freiließ. Nach seiner Heimkehr nach Deutschland erfuhr er, dass seine Eltern Monate nach Kriegsende von sowjetischen Soldaten ermordet worden waren.

Richter schrieb in der Wohnung eines zerbombten Mietshauses in Berlin-Halensee seine Dissertation zu der Thematik Die philosophische Dimension des Schmerzes, mit der er 1949 zum Dr. phil. promoviert wurde. Mit einer Schrift, die er im Zuge seiner weiteren ärztlichen Ausbildung verfasste, erlangte er 1957 den Doktorgrad in Medizin.[2]

Von 1952 bis 1962 leitete Richter in Berlin eine Beratungs- und Forschungsstelle für seelisch gestörte Kinder und Jugendliche. Daneben absolvierte er eine Ausbildung zum Psychoanalytiker und zum Facharzt für Neurologie und Psychiatrie. Von 1959 bis 1962 leitete er das Berliner Psychoanalytische Institut. 1962 wurde er nach Gießen auf den neu eingerichteten Lehrstuhl für Psychosomatik berufen und baute dort ein dreigliedriges interdisziplinäres Zentrum mit einer psychosomatischen Klinik und Abteilungen für medizinische Psychologie und medizinische Soziologie auf, dessen Direktor er wurde. Daneben gründete er am Ort ein psychoanalytisches Institut. Von 1964 bis 1968 war Richter Vorsitzender der Deutschen Psychoanalytischen Vereinigung.[3] 1971 befürwortete er als Gutachter das von Wolfgang Huber gegründete Sozialistische Patientenkollektiv. Seine Emeritierung erfolgte 1991. 2004 hatte er eine von Peter Ustinov gestiftete Gastprofessur an der Universität Wien inne. Von 1992 bis 2002 leitete er das Sigmund-Freud-Institut in Frankfurt am Main.

Er starb am 19. Dezember 2011 nach kurzer, schwerer Krankheit in Gießen.[4]

Werk

Richter wurde zunächst als einer der Pioniere der psychoanalytischen Familienforschung und Familientherapie international bekannt. In Ergänzung zu Freuds Analyse der Kind-Eltern-Beziehung untersuchte er umgekehrt die krankmachende Wirkung gestörter Eltern auf ihre Kinder. In gemeinsamer Forschungsarbeit mit Dieter Beckmann schrieb er ein Lehrbuch über Herzneurose und entwickelte zusammen mit Elmar Brähler den Gießen-Test. Richter „entdeckte das emanzipatorische Potential der Gruppe, sowohl in psychotherapeutischer als auch in politischer Hinsicht.“[5]

Nach kritischen Analysen der sozialen Reformbewegung der 1970er Jahre erschien sein kulturphilosophisches Werk Der Gotteskomplex: Die Einbuße an Glaubenssicherheit wolle der Mensch mit einem auf die Naturwissenschaft gestützten Herrschaftswillen ersetzen – „Gott sein, statt Gott haben“. Im Schwanken zwischen Ohnmachtsangst und Allmachtswahn drohe der wissenschaftlich-technischen Revolution die ethische Kontrolle zu entgleiten.

1981 wurde Richter mit seinem Buch Alle redeten vom Frieden[6] zu einer der Leitfiguren der Friedensbewegung[7] und gründete 1982 die westdeutsche Sektion der Ärzte für die Verhütung des Atomkrieges mit, die für ihr Engagement 1985 den Friedensnobelpreis erhielten. 1987 initiierte Richter die von Michail Gorbatschow betreute International Foundation for the Survival and the Development of Humanity mit. Dort leitete er eine Vergleichsstudie zur besseren Verständigung deutscher und russischer Studenten. Von 1991 bis 2001 moderierte Richter das „Ost-West-Symposium politische Selbstbesinnung“ mit Führungspersönlichkeiten aus Politik, Wissenschaft, Literatur und Kirche aus den alten und den neuen Bundesländern. Während beider Irakkriege gehörte er zu den meistbeachteten Intellektuellen der Friedensbewegung. Die von Carl Friedrich von Weizsäcker so genannte „seelische Krankheit Friedlosigkeit“ des Westens war für Richter seit 2007 Hauptthema seiner kulturpsychologischen Analysen in Reden und Schriften.

„Es gibt eine kreisförmige Wechselbeziehung zwischen Machen und Erkennen. Wenn man nicht macht, was man als notwendig, wenn auch mit persönlichen Unannehmlichkeiten behaftet, erkannt hat, dann kann man irgendwann auch nicht mehr erkennen, was zu machen ist. Wer Anpassungszwängen taktisch nachgibt, wohl wissend, dass er ihnen mit vertretbarem Risiko widerstehen könnte und auch sollte, wird nach und nach die Unzumutbarkeit von Anpassungsforderungen gar nicht mehr wahrnehmen, d. h., die eigene Gefügigkeit auch nicht mehr als Fluchtreaktion durchschauen. Alles erscheint normal: die Verhältnisse, denen er sich ergibt, und der Verzicht auf Gegenwehr, den er eben gar nicht mehr erlebt.“

Horst-Eberhard Richter: Psychoanalyse und Politik, Vorwort

Richter verfasste eine Frankfurter Erklärung, die es Ärzten möglich machen sollte, sich öffentlich per Unterschrift dazu zu bekennen, „sich jeglicher kriegsmedizinischen Schulung und Fortbildung zu verweigern.“[8] Seit dem Jahr 2001, also von Anfang an, engagierte er sich für die „globalisierungskritische Bewegung Attac“.

„In seiner Eröffnungsrede auf dem Gründungskongress der deutschen Organisation 2001 in Berlin plädierte er nachdrücklich für eine engere Verbindung von sozialen, ökonomischen und ökologischen Reforminitiativen mit der Friedensbewegung.“

Horst-Eberhard-Richter-Institut

Im September 2017 wurde das Psychoanalytische Institut Gießen umbenannt in Horst-Eberhard-Richter-Institut für Psychoanalyse und Pyschotherapie.[9] Richter war Anfang der 1960er Jahre Gründungsmitglied dieses Instituts. Die Laudatio auf dem Festakt zur Umbenennung hielt Hans-Jürgen Wirth. Stephan Scholz berichtete über die Ehrung Richters im Gießener Anzeiger und nannte ihn einen „Denker, der über Jahre hinweg die Bestsellerlisten beherrschte und dessen Menschlichkeit noch heute in höchsten Tönen gelobt wird.“[10]

Ehrungen und Auszeichnungen

Das Bundesverdienstkreuz hat Richter dreimal mit der Begründung abgelehnt, dass „zu viele Altnazis“ es erhalten hätten.[14]

Schriften

1960–1969

1970–1979

1980–1989

  • Alle redeten vom Frieden. Versuch einer paradoxen Intervention. Rowohlt, Reinbek 1984, ISBN 3-499-17846-X.
  • Zur Psychologie des Friedens. Rowohlt, Reinbek 1984, ISBN 3-499-17869-9.
  • Die Chance des Gewissens. Erinnerungen und Assoziationen. 1986. Neuauflage Psychosozial-Verlag 2002, ISBN 3-89806-177-9.
  • Die hohe Kunst der Korruption. Erkenntnisse eines Politik-Beraters. 1989, Heyne-Sachbuch 158 ISBN 3-453-05104-1.

1990–1999

  • Umgang mit Angst. 1992. Neuauflage Econ 2000, ISBN 3-612-26683-7.
  • Wer nicht leiden will, muss hassen. Zur Epidemie der Gewalt. 1993. Neuauflage Psychosozial-Verlag 2004, ISBN 3-89806-277-5.
  • Bedenken gegen Anpassung. Psychoanalyse und Politik. 1995. 2003 neu erschienen unter dem Titel Psychoanalyse und Politik. Psychosozial-Verlag, ISBN 3-89806-243-0.
  • Versuche, die Geschichte der RAF zu verstehen. Das Beispiel Birgit Hogefeld. Psychosozial-Verlag, 1996, ISBN 3-930096-87-0.
  • Als Einstein nicht mehr weiterwußte. 1997. Neuauflage Econ 2000, ISBN 3-548-75015-X.

2000–2009

  • Wanderer zwischen den Fronten. Gedanken und Erinnerungen. (Autobiographie) Kiepenheuer und Witsch, 2000. Ullstein, München 2001, ISBN 3-548-36287-7.
  • Kultur des Friedens. Psychosozial-Verlag, Gießen 2001, ISBN 3-89806-068-3.
  • Das Ende der Egomanie. Die Krise des westlichen Bewusstseins. 2002, ISBN 3-462-03087-6 (als Taschenbuch: Knaur 77655, München 2003, ISBN 3-426-77655-3)[15].
  • mit Bernard Cassen und Susan George: Eine andere Welt ist möglich! [Dokumentation des Attac-Kongresses vom 19. - 21. Oktober 2001 in Berlin]. VSA, Hamburg 2002, ISBN 3-87975-845-X.
  • mit Frank Uhe: Aufstehen für die Menschlichkeit. Psychosozial-Verlag, Gießen 2003, ISBN 3-89806-283-X.
  • Ist eine andere Welt möglich? Für eine solidarische Globalisierung. Kiepenheuer und Witsch, Köln 2003 ISBN 3-462-03253-4 (KiWi 774, unveränderte Neuauflage: Psychosozial-Verlag, Gießen 2005, ISBN 3-89806-346-1).
  • Die Krise der Männlichkeit in der unerwachsenen Gesellschaft. Psychosozial-Verlag, Gießen 2006, ISBN 978-3-89806-570-2.
  • Die seelische Krankheit Friedlosigkeit ist heilbar Psychosozial-Verlag, Gießen 2008, ISBN 978-3-89806-836-9.

2010–2011

Sonstige Veröffentlichungen

  • Vorwort zu: Christiane F.: Wir Kinder vom Bahnhof Zoo. Nach Tonbandprotokollen aufgeschrieben von Kai Hermann und Horst Rieck. Gruner & Jahr, Hamburg 1978
  • Niederlage des Intellekts. In: Freitag. Die Ost-West-Wochenzeitung. Nr. 31 vom 23. Juli 2004 (online)

Film

  • Horst-Eberhard Richter, Psychoanalytiker. Dokumentarfilm, Deutschland, 2007, 43:30 Min., Buch und Regie: Wolfgang Schoen und Torsten Halsey, Produktion: tvschoenfilm, SWR, arte, Erstsendung: 3. März 2008 bei arte.

Weblinks

 Commons: Horst-Eberhard Richter – Sammlung von Bildern, Videos und Audiodateien
Interviews

Einzelnachweise

  1. dpa: Ehrenbürger Gießens: Psychoanalytiker Horst-Eberhard Richter gestorben. In: Gießener Anzeiger. 20. Dezember 2011, archiviert vom Original am 21. Dezember 2011; abgerufen am 21. Dezember 2011.
  2. Zeitzeugen-TV auf YouTube.
  3. Traueranzeige der DPV, Tagesspiegel vom 24. Dezember 2011, S. 12.
  4. Psychoanalytiker Horst-Eberhard Richter gestorben. In: Die Zeit, 20. Dezember 2011.
  5. Hans-Jürgen Wirth: Horst-Eberhard Richter – ein Leben als psychoanalytischer Aufklärer. Nachruf. Veröffentlicht von der Deutschen Gesellschaft für Psychoanalyse, Psychotherapie, Psychosomatik und Tiefenpsychologie (DGPT) e. V.
  6. Erich Böhme, Rolf S. Müller: „Wir leben im kollektiven Verfolgungswahn“. In: Der Spiegel. Nr. 44, 1981 (online).
  7. http://www.taz.de/!5104934
  8. 8,0 8,1 Horst-Eberhard Richter ist tot. In: Süddeutsche Zeitung. 20. Dezember 2011, abgerufen am 18. Oktober 2017.
  9. Eine kritische Stimme, die fehlt. Psychosozial-Verlag, 2017, abgerufen am 18. Oktober 2017.
  10. Stephan Scholz: Psychoanalytisches Institut Gießen nach Horst-Eberhard Richter benannt. In: Gießener Anzeiger. 10. September 2017, abgerufen am 18. Oktober 2017.
  11. Laudatio von Dorothee Sölle auf fairness-stiftung.de.
  12. Nachdem die bürgerliche Mehrheit im Gießener Stadtparlament im Jahr 2003 eine Ehrenbürgerschaft Richters, unter anderem mit Verweis auf seine pazifistischen Einstellungen und seine Kritik am Irak-Krieg ablehnte, stimmte das Stadtparlament am 20. September 2007 dem Antrag des Magistrats auf Verleihung der Ehrenbürgerwürde mehrheitlich zu.
  13. Auszeichnung für soziales Engagement. In: Oberhessische Presse Marburg, 20. April 2010, S. 3.
  14. Leitfigur der Friedensbewegung. Der Pazifist, der töten musste. In: Spiegel Online, 28. April 2008, abgerufen am 20. Dezember 2011.
  15. Klappentext des Buches
Dieser Artikel basiert ursprünglich auf dem Artikel Horst-Eberhard Richter aus der freien Enzyklopädie Wikipedia und steht unter der Doppellizenz GNU-Lizenz für freie Dokumentation und Creative Commons CC-BY-SA 3.0 Unported. In der Wikipedia ist eine Liste der ursprünglichen Wikipedia-Autoren verfügbar.