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Ghasel

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Das Ghasel oder die Ghasele (auch Gasel, Ghasal, Ghazal; von arab. غزل, DMG ġazal = Gespinst, Liebesworte)[1][2][3] ist eine lyrische Gedichtform, die bereits in vorislamischer Zeit[4] auf der Arabischen Halbinsel entstanden ist. Die Blüte der Ghaselendichtung wird im persischsprachigen Raum etwa ab dem 12./13. Jahrhundert erreicht (z. B. Rūmī, Ḥāfiẓ)[5] und erstreckt sich unter den Moghulherrschern ab dem 16. Jahrhundert bis über den indischen Subkontinent. Seit dem 19. Jahrhundert wird es auch als Reimschema in der deutschsprachigen Lyrik verwendet.

Ein Ghasel besteht aus einer Folge von zweizeiligen Strophen, deren zweiter Vers immer den in der ersten Strophe angewandten Reim hat:

Reimschema: a a – x a – x a – x a – x a – x a

In der ursprünglichen Form des Ghasel trägt jedes dieser Verspaare eine eigene Bezeichnung und hat eine spezielle, streng festgelegte Funktion.

Herkunft

Der Begriff lässt sich bis in die klassische arabische Lyrik zurückverfolgen. Im Arabischen bezeichnet ghazal wie auch tagazzul das erotische Sprechen in der Lyrik, die Ansprache des Dichters an die abwesende Geliebte. Als terminus technicus wurde ghazal erst in der persischen Lyrik gebraucht; dort bezeichnet es seit etwa dem 13. Jahrhundert eine Gedichtform mit Paarreim der ersten beiden Halbverse und durchgehendem Reim aller ganzen Verse, so wie dies dann ins Deutsche übernommen wurde. Aus dem Persischen wurde die Gedichtform in den folgenden Jahrhunderten ins Türkische (Osmanisch, Tschaghataiisch), ins Kurdische, Paschtu, Urdu, zahlreiche andere Sprachen Indiens sowie einige weitere Sprachen übernommen.

Unter dem prägenden Einfluss der großen persischen Ghaselendichter Rumi und Saadi im 13. Jahrhundert und Hafis im 14. Jahrhundert entwickelte sich die Poetik des Ghasels zu einem strengen und hochkomplexen System von Form- und Sinnbeziehungen. Der ursprünglich erotische Gehalt der Lyrik wurde von dichtenden Mystikern und mystischen Dichtern mit religiösen Inhalten gefüllt, so dass sich bald nicht mehr klar unterscheiden ließ, was weltliche Erotik und was mystische Gottesliebe zum Ausdruck bringen sollte. Eine Mittlerstellung nimmt hier im 15. Jahrhundert Dschami ein, der neben Ghaseldichter in Personalunion auch Rundumwissenschaftler und Sufi-Ordensführer war. Vom 16. Jahrhundert an wurde die Ghaselendichtung im so genannten „indischen Stil“ zu einem derart komplexen und selbstreflexiven System, dass sie für Ungeübte kaum mehr verständlich war. Hervorragende Vertreter dieses Stils sind Sâ'eb (Persisch), Nâ'ilî-i qadîm (Osmanisch) und Ghalib (Urdu).

Afghanistan, Pakistan, Indien

In Afghanistan, Pakistan und auf dem indischen Subkontinent ist das Ghasel heute eine Gedichtform des Qawwali, einer Musikform, die sich bis ins Mittelalter zurückverfolgen lässt. Als solche ist es nicht nur über die Form, sondern auch über den Inhalt definiert. Der genaue Text wurde oft improvisiert; Themen waren aber ursprünglich stets die Gottes- und die Nächstenliebe. Mit zunehmender Säkularisierung und auch Kommerzialisierung dieser Liedform setzte sich die romantische Liebe eines (dichtenden) Mannes zu einer Frau als einziges Thema des Ghasel durch.

Siehe auch: Kassida.

Deutscher Sprachraum

In der deutschsprachigen Literatur trat das Ghasel zunächst in Übersetzungen persischer Lyrik auf. Auch Goethe versuchte sich während seiner Arbeit am West-Östlichen Divan daran, fand jedoch keinen Gefallen an der starren Form.

Im 19. Jahrhundert waren Ghaselen als Probe dichterischer Kunstfertigkeit (Virtuosität) recht beliebt, etwa bei August von Platen, Theodor Storm, Gottfried Keller, Detlev von Liliencron. Sie übernahmen jedoch nur die Form, nicht die inhaltliche Tradition; Platen etwa benutzte es für lyrische Stimmungsbilder. Denkbar ist auch, dass es wegen seiner „fremden“, exotischen Herkunft eingesetzt wurde (siehe Exotismus).

Der Dichter, Übersetzer und Orientalist Friedrich Rückert benutzte das Ghasel zunächst in seinen freien Übertragungen arabischer Dichtkunst. Als eigenständige Form findet es sich in seinen Kindertodtenliedern. Von Gustav Pfizer stammt folgende poet(olog)ische Reflexion über diese Gedichtform:

Das Ghasel
Es wandte meine Kunst sich zum Ghasele,
Damit sie allen Formen sich vermähle.
Ergötzlich ist solch bunte Reimerei,
Ob auch des Lebens markiger Kern ihr fehle;
Die Wandrung selbst bereichert schon den Geist,
Ob er auch nirgends plündre oder stehle.
Hier lernt, wie tönender Musik zulieb
Die Sprache sich in mancher Krümmung quäle
Und, von des Gleichklangs strenger Schrift beherrscht,
Seltsame Bilder halb gezwungen wähle.
Des Künstlers Kunst und Fassung leihet oft
Den Wert dem minder kostbaren Juwele.
Euch fleh ich an, o Richter, richtet mild,
Weil ich ja selbst die Schwächen nicht verhehle,
Und unter dieses bunten Turbans Schmuck
Verkennet nicht die echte Christenseele.

Das Gedicht reflektiert aber auch darüber, welche Funktion und welche Folgen die Übernahme einer Gedichtform aus einer fremden Kultur haben kann. Doch in diesem Gedicht steckt auch ein wenig Angst davor, sich dem Fremden zu sehr auszuliefern, selbst ein Teil davon zu werden; deshalb muss es den Leser in den letzten Versen rückversichern, dass unter dem „bunten Turban“ durchaus noch eine „echte Christenseele“ steckt.

In diesem Zusammenhang lässt sich auch der Streit von Heinrich Heine und Karl Leberecht Immermann mit August von Platen verstehen. Immermann verfasste einige Xenien, die Heine dem zweiten Teil seiner Reisebilder (Die Nordsee, 1826) anfügte. Von manchen distanzierte er sich durch eine Kennzeichnung, nicht jedoch von der folgenden:

Von den Früchten, die sie aus dem Gartenhain von Schiras stehlen,
Essen sie zuviel, die Armen, und vomieren dann Gaselen.

Der offenkundige Vorwurf, Platen stehle aus fremden Gärten und produziere dann auch noch schlechte Dichtung, eröffnete den Dichterstreit.

Fin de siècle

Gerade weil es im Deutschen sehr manieriert wirkte, entdeckten es auch manche Dichter des literarischen Fin de siècle für sich, etwa Hugo von Hofmannsthal. Als besonders strenge Form genügte das Ghasel der Forderung der l'art pour l'art, dass die Poesie eine eigene Welt mit eigenen inneren Gesetzen bilden müsse.

Beispiel:

In der ärmsten kleinen Geige liegt die Harmonie des Alls verborgen,
Liegt ekstatisch tiefstes Stöhnen, Jauchzen süßen Schalls verborgen;
In dem Stein am Wege liegt der Funke, der die Welt entzündet,
Liegt die Wucht des fürchterlichen, blitzesgleichen Pralls verborgen.
In dem Wort, dem abgegriffnen, liegt was mancher sinnend suchet:
Eine Wahrheit, mit der Klarheit leuchtenden Kristalls verborgen …
Lockt die Töne, sticht die Wahrheit, werft den Stein mit Riesenkräften!
Unsern Blicken ist Vollkommnes seit dem Tag des Sündenfalls verborgen.
(Hugo von Hofmannsthal, 1891)

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Hofmannsthal nutzte hier die Form des Ghasel, um immer wieder zu einem bestimmten „Mittelpunkt“ zurückzukehren und damit ein Element des Gedichts besonders zu betonen (hier „verborgen“). So kann die kreisende Bewegung des Reimes einen beschwörenden Tonfall erzeugen.

Musik

Rückerts Kindertodtenlieder wurden u. a. von Gustav Mahler vertont (1901 und 1904), Kellers Gaselen von Othmar Schoeck (op. 38). Musikalische Ghaselen komponierten Franz Schubert, Ferdinand Hiller (Trois Ghasèles op. 54; Op. 130 Nr. 6), Felix Draeseke und Arnold Schönberg (Op. 6 Nr. 5).

Siehe auch

Gedicht

Gedicht von Josef Weinheber: „Ghasel“ in: Kammermusik, Gedichtband

Ich kehre wieder heim. Ich bin zu Rand
mit meiner Kraft – ich bin nicht abgesandt.
Viel Böses hab ich in der Welt getan,
das Gute fass´ich in der hohlen Hand.
Doch bleibt mir als dem Menschen, der ich bin,
ein Trost, ein gut- und wahrer, zugewandt:
In jeder Welt aus Schein und Gram und Zahl
hab ich mich immer zu mir selbst bekannt.
Wer kann denn mehr: Die Räusche sind für sich,
die Taten sind dem breitern Volk bekannt,
die Sünden sind in Nächten, schlaflos lang,
in Schwäche, schuldlose, hinabgebrannt.
Ich habe nichts zu beichten, zu bereun:
Ich steh am Ursprung, wo ich immer stand.
Mein Stolz ist nicht von dieser Welt – und wenn
ich auch an dieser bin verwelkt, verbrannt:
Ich habe meine Kunst. Ich bin so klein,
ich bin so groß: Und Gott versteht den Brand

Literatur

Übersetzungen ins Deutsche

deutsche Dichtungen

  • Friedrich Rückert: Oestliche Rosen. Leipzig, 1822.
  • August von Platen: Ghaselen. Erlangen: Heyder 1821
  • August von Platen: Neue Ghaselen. Erlangen: Heyder 1836
  • Johann Traugott Löschke: Geistlicher Divan: 142 Ghaselen zum Preise des Herrn. München 1847
  • Max Bruns: Garten der Ghaselen. Minden: Bruns (1925)
  • Josef Weinheber: „Ghasel“, Gedicht in: „Kammermusik“. Langen-Müller, München 1939

Sekundärliteratur

  • Noe, Klaus Peter: Das Ghasel im deutschen Klavierlied. Magisterarbeit, Würzburg 1982
  • Schimmel, Annemarie: Das Ghasel – Kammermusik orientalischer Poesie, in: Lieber Freund und Kupferstecher 4 (1988), S. 7–11
  • Ünlü, Hülya: Das Ghasel des islamischen Orients in der deutschen Dichtung. New York: Lang 1991. ISBN 0-8204-1478-6
  • Radjaie, Ali: Das profan-mystische Ghasel des Hafis in Rückerts Übersetzungen und in Goethes 'Divan'. Würzburg: Ergon 2000. ISBN 3-932004-82-5
  • Kemp, Friedhelm: Das Ghasel: August von Platen und Friedrich Rückert, in: Das europäische Sonett, 2 (2002), S. 134–149

Siehe auch

Weblinks

Einzelnachweise

  1. Wehr, Hans: Arabisches Wörterbuch für die Schriftsprache der Gegenwart, S. 602, Wiesbaden 1968
  2. Junker/Alavi: Persisch-deutsches Wörterbuch, S. 533, Leipzig/Teheran 1970
  3. Das Neue DUDEN-Lexikon, Bd. 4, S. 1454, Mannheim/Wien/Zürich 1984
  4. ar:غزل شعر
  5. fa:غزل
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