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Flämisch-wallonischer Konflikt

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Die Gemeinschaften Belgiens:
  • Flämische Gemeinschaft
    (in der Mitte ist das zweisprachige Gebiet Brüssel eingezeichnet)
  • Französischsprachige Gemeinschaft
  • Deutschsprachige Gemeinschaft
  • Als flämisch-wallonischer Konflikt wird der seit dem 19. Jahrhundert andauernde Streit zwischen den niederländisch- und den französischsprachigen Einwohnern des Königreichs Belgien bezeichnet. Die niederländischsprachigen Belgier konzentrieren sich weitestgehend auf Flandern und werden als Flamen bezeichnet, auch wenn sich die relativ wenigen in der offiziell zweisprachigen Region Brüssel-Hauptstadt lebenden Niederländischsprachigen nur zum Teil als Flamen ansehen. Mehr als drei Viertel der französischsprachigen Belgier, die auch als Frankophone bezeichnet werden, wohnen in der Wallonischen Region (nur diese werden als Wallonen bezeichnet), sie stellen aber auch in der zweisprachigen Region Brüssel-Hauptstadt die große Mehrheit und überwiegen zudem nach starkem Zuzug ins Brüsseler Umland in den vergangenen Jahrzehnten in sechs Gemeinden, die an die Region Brüssel grenzen und zu Flandern gehören.

    Die Begriffe „Flämisch“ und „Wallonisch“

    Erst seit dem 19. Jahrhundert wird das Wort Flämisch (Belgisches Niederländisch) für die Gesamtheit der Niederländischsprachigen in Belgien verwendet. Zuvor verwies Flandern auf die historische Grafschaft Flandern, die den Nordwesten Belgiens und Teile von Nordfrankreich umfasste. Das Wort Flämisch in seiner neuen Bedeutung wurde nun auch für die niederländischsprachigen Einwohner des historischen Herzogtums Brabant und der Grafschaft Loon verwendet und bezog sich so auf alle niederländischsprachigen Einwohner Belgiens.

    Eine ähnliche Entwicklung durchlief das Wort Wallonisch. Ursprünglich verwies das Wort nur auf die französischen Dialekte, die um Lüttich gesprochen wurden. Später erfuhr der Begriff eine Bedeutungserweiterung, bis Wallonisch und Wallonie für den gesamten französischen Sprachraum in Belgien außerhalb Brüssels benutzt wurde. Viele Flamen bezeichnen mit Walen (siehe auch Welsche) die Gesamtheit der muttersprachlich französisch sprechenden Belgier, die selbst meist streng zwischen Wallonen (les Wallons) und Brüsselern (les Bruxellois) unterscheiden (Sammelbegriff: die Frankophonen (les francophones)).

    Was auf Deutsch in der Regel als flämisch-wallonischer Konflikt oder belgischer Sprachenstreit bezeichnet wird, wird in Belgien mit den Ausdrücken (ndl.) communautair conflict oder (frz.) conflit communautaire angedeutet. Communauté steht für (Sprach-) Gemeinschaft, also ‚Gemeinschaftskonflikt‘.

    Die kleine Gruppe der Belgier mit deutscher Muttersprache (Deutschsprachige Gemeinschaft) ist an diesem Konflikt weitgehend unbeteiligt, wenn man von dem Umstand absieht, dass das deutschsprachige Gebiet sich innerhalb der wallonischen Region befindet und somit bei Konflikten zwischen den Regionen auch die deutsche Sprachgemeinschaft involviert ist. In der Vergangenheit hat sie teilweise vom innerbelgischen Konflikt profitiert, da die Gründung der Sprachgemeinschaften Belgiens die Konstitutionalisierung der deutschen Sprache als dritte Landessprache Belgiens ermöglichte.

    Die Anfänge

    Es gab zahlreiche politisch motivierte Versuche, ein „flämisches“ oder „wallonisches“ Volk in der früheren Geschichte auszumachen. Ein Beispiel eines solchen politischen Mythos ist die Goldene-Sporen-Schlacht: Ein flämisches Infanterieheer von Bauern und Zunftmitgliedern schlug 1302 ein französisches Ritterheer, was in flämisch-nationalen Kreisen oft als früher Beleg eines Sprachen- und Kulturkonfliktes gedeutet wird. Dabei wird übersehen, dass das Herzogtum Brabant, weitgehend niederdeutschsprachig, auf Seiten des französischen Königs stand, und die Grafschaft Namur, deren Soldaten französischsprachig waren, auf Seiten des flämischen Bauernheeres kämpfte. Im Prinzip ist der flämisch-wallonische Konflikt nicht älter als der belgische Staat und spitzte sich vor allem im 20. Jahrhundert zu.

    Als sich 1830 das südliche Gebiet des Vereinigten Königreichs der Niederlande in der belgischen Revolution abtrennte, entstand das Königreich Belgien. Im neuen belgischen Staat wurde, auch als Reaktion auf die diffusen Sprachverhältnisse im vormaligen Vereinigten Königreich, die französische Sprache als alleinige Amtssprache eingeführt, auch für die niederländischsprachigen Bewohner. Außerdem wurde der Katholizismus zur Staatsreligion der Monarchie erklärt (dem zu dieser Zeit auch fast alle Belgier angehörten). Französisch wurde alleinige Verwaltungssprache, in der Armee, im Parlament und im Schulunterricht. Niederländisch war die „Sprache der Holländer“ und „der Bauern”. In Flandern wurden die niederländischen Dialekte nur in der Grundschule benutzt, ab der Sekundarstufe wurde nur auf Französisch unterrichtet. Real war der junge belgische Staat, „l’État franco-belge“, ein französisch-belgischer Staat. Flämisch (le flamand) wurde als Schimpfwort für die Mundarten der nördlichen Landesteile benutzt.

    Die Herabstufung der niederländischen Sprache wurde von den gebildeten und führenden Kreisen nicht als Problem empfunden, sprachen doch die gebildeten Bevölkerungsschichten in ganz Belgien französisch. Erst langsam entstand eine Flämische Bewegung (ndl. Vlaamse Beweging), die sich gegen die Unterdrückung ihrer Sprache wehrte, zuerst in den Kreisen gebildeter Kleinbürger. Ende des 19. Jahrhunderts trat die Bewegung aus dem Schatten des reinen Kulturbetriebs und Politiker verschiedener Parteien fingen an, die Lage ihrer niederländischen Sprache zu definieren und zu verbessern. Ein Meilenstein war die Einrichtung des zweisprachigen Unterrichts in Flandern auf dem Niveau der Sekundarstufe (Französisch und Niederländisch).

    Gegen Ende des 19. Jahrhunderts entstand als Gegenreaktion die Wallonische Bewegung. Der Name ist irreführend, da die Bewegung zuerst in Flandern in Kreisen der französischen Bildungsbürger entstand. Sie wollten die Stellung ihrer französischen Sprache in Verwaltung und Unterricht gegen die drohende verpflichtende Zweisprachigkeit in Flandern verteidigen. Auch die Erweiterung des Wahlrechts beschleunigte die Entstehung einer wallonischen Bewegung. In Wallonien befürchteten die führenden Kreise eine Beherrschung durch die zahlenmäßig überlegenen Flamen: Das agrarische Flandern war weitgehend konservativ-katholisch, die von der Schwerindustrie geprägte Wallonie hatte eine antiklerikale Tradition, die im 20. Jahrhundert stark sozialistisch geprägt war. Der flämisch-wallonische Konflikt, der auf den ersten Blick nur mit Sprache zu tun zu haben schien, war in Wahrheit auch ein sozialer Konflikt, verbunden mit der Besetzung von Arbeitsstellen und Machtausübung.

    Der Erste Weltkrieg verschärfte den Konflikt. Zahlreiche Flamen kämpften im Stellungskrieg in Westflandern gegen die kaiserliche deutsche Reichsarmee. Sie erlebten, wie ihre nur französisch sprechenden Offiziere ihre Sprache missachteten. Der Sprachenkonflikt stellte sich hier insofern auch als soziale Kluft dar. Die Flämische Bewegung entwickelte den Mythos, dass viele einfache flämische Soldaten in den Schützengräben wegen Verständigungsschwierigkeiten mit ihren französisch sprechenden Befehlshabern sterben mussten. Viele Flamen arbeiteten im besetzten Teil Belgiens mit der reichsdeutschen Besatzungsmacht zusammen. Diese Aktivisten wurden nach dem Krieg von der französisch sprechenden belgischen Obrigkeit streng bestraft. Auch dadurch wurde nach dem Krieg die flämische Bewegung stark politisiert.

    In verschiedenen Parteien setzten sich jetzt wichtige Politiker für den amtlichen Gebrauch des Niederländischen ein. Zu einem Meilenstein ihres Selbstbehauptungskampfes wurde die Errichtung der Universität Gent, in der seit 1930 auf Niederländisch unterrichtet wird.

    Die Flämische Bewegung dieser Periode war auch eine emanzipatorische Bewegung, die die Gleichberechtigung des Niederländischen in Belgien mit der Entwicklung und Bildung des armen flämischen Arbeiters verknüpfte. Im Verlauf der 1930er Jahre forderten schließlich viele Mitglieder der Flämischen Bewegung die Herauslösung aus dem französisch beherrschten belgischen Staat und eine Hinwendung zum nationalen Sprachraum.

    Die flämischen Parteien VNV und Verdinaso entwickelten hierzu nationalsozialistische Parteiprogramme und Rituale. Während der Zeit des Zweiten Weltkrieges arbeiteten deshalb auch viele ihrer Mitglieder mit der Besatzungsmacht zusammen. Es entstand auch eine „Deutsch-Vlämische-Arbeitsgemeinschaft“ unter dem Nationalistenführer Jef Van de Wiele. Nach dem Krieg wurde ihnen diese Zusammenarbeit zum Vorwurf gemacht. Auf frankophoner Seite gab es mit den Rexisten ebenfalls eine mit den Besatzern kollaborierende Bewegung.

    Die Zuspitzung nach 1945 und die darauf folgende Föderalisierung Belgiens

    Die Konflikte nach dem Zweiten Weltkrieg teilten den belgischen Staat weiterhin in zwei Teile.

    Eine chronologische Übersicht:

    • Streit um den belgischen König Leopold III.: Während des Zweiten Weltkriegs wurde Belgien vom Deutschen Reich besetzt. Der belgische Herrscher geriet in Kriegsgefangenschaft und verhandelte mit dem Dritten Reich über die Zukunft seiner Dynastie. Nach dem Ende des Krieges und seiner Rückkehr auf den belgischen Königsthron wurde Leopold III. deswegen heftig kritisiert. Von einer Kommission wurde der König 1946 allerdings vom Vorwurf des Verrats entlastet. 1949 stimmten die Volksgruppen in Belgien über Leopold III. als König ab. Zustimmung fand er mit 72 % vor allem im katholisch geprägten Flandern mit einer stark monarchistischen christdemokratischen Partei. Die sozialistisch geprägte Bevölkerung in der Wallonischen Region hingegen stimmte mehrheitlich mit 58 % gegen den König. Das Land drohte danach in einen Bürgerkrieg zu stürzen. 1951 dankte Leopold III. zugunsten seines ältesten Sohnes Baudouin ab.
    • Sich ändernde Wirtschaftslage der Landeshälften: Traditionell war Wallonien mit seiner Montan- und Textilindustrie die reichere Hälfte des Landes. Mit der Entstehung einer auf Dienstleistungen orientierten Wirtschaft und der Verlagerung der Industrie hin zur Petrochemie entdeckten viele Investoren Flandern mit seinen Häfen (Hafen von Antwerpen) und einer gut ausgebildeten Arbeiterklasse mit niedrigen Lohnforderungen. Die Folge war, dass in den fünfziger und sechziger Jahren die flämische Wirtschaft viel schneller wuchs als die wallonische. 1966 erreichte das Bruttoinlandsprodukt pro Kopf in Flandern das Niveau von Wallonien, in den darauffolgenden Jahren setzte sich der Aufstieg Flanderns weiter fort, während Wallonien erfolglos versuchte, seine auf Schwerindustrie fußende Wirtschaft zu reformieren. Der flämisch-wallonische Konflikt erhielt so auch eine stark wirtschaftliche Komponente. Vergebens versuchten wallonische Politiker, die Machthebel in der Wirtschaftspolitik an sich zu reißen. Das Bruttoinlandsprodukt pro Kopf in Brüssel übertrifft das Flanderns noch bei weitem. Eine wesentliche Ursache hierfür ist, dass sehr viele der in Brüssel beschäftigten Personen außerhalb der Hauptstadtregion wohnen, 2008 waren es 51,9 %.[1]
    Ökonomische Kennzahlen der Regionen Flandern Wallonische Region Region Brüssel-Hauptstadt Königreich Belgien
    Bruttoinlandsprodukt pro Kopf 2013[2] 36.000 € 26.200 € 62.000 € 35.600 €
    zu versteuerndes Einkommen pro Kopf 2012[3] 17.765 € 15.736 € 13.312 € 16.651 €
    Arbeitslosenquote 2014[4] 5,1 % 11,8 % 18,3 % 8,5 %
    • Festlegung der Sprachgrenze: 1962 wurde von einer Kommission eine Sprachgrenze festgelegt. Zuvor – 1960 – hatten schwere Streiks gegen eine Reihe von Sparmaßnahmen der Regierung deutlich gemacht, dass die zwei Sprachgruppen auf wirtschaftlichem Gebiet mehr Autonomie wünschten. Die Entitäten „Flandern“ und „Wallonien“ wurden damit zum ersten Mal territorial festgelegt, indem Belgien gesetzlich in drei einsprachige Gebiete – Flandern, Wallonien, Deutschbelgien – und ein zweisprachiges Gebiet Brüssel eingeteilt wurde. In den nächsten Jahrzehnten lösten der Status von Brüssel – ursprünglich niederländischsprachig, jetzt mit frankophoner Mehrheit – und die Zugehörigkeit einzelner Gemeinden zu einem bestimmten Sprachgebiet (z. B. Voeren/Fourons) zahlreiche Konflikte aus.
    • Leuven Vlaams: Die Universität in Löwen, das im flämischen Gebiet liegt, hatte eine französisch- und eine niederländischsprachige Abteilung. Die Flamen forderten eine einsprachige (niederländischsprachige) Universität. Während der Studentenrevolten im Mai 1968 eskalierte dieser flämisch-wallonische Konflikt. Er wurde damit beendet, dass die französischsprachige Abteilung der Universität Löwen (Université catholique de Louvain (UCL)) 1971 nach Wallonien verlegt wurde – in eine hierfür neu gegründete Retortenstadt: Louvain-la-Neuve oder auf Deutsch „Neu-Löwen“, die erste Stadtgründung in Belgien seit jener von Charleroi 1666.
    • Insgesamt fünf Staatsreformen (1970, 1980, 1988–1989, 1993, 2001–2003) haben aus Belgien einen föderalen Staat gemacht. Um den Bedürfnissen nach mehr Unabhängigkeit von den anderen Sprachgruppen Genüge zu tun, wurde die Verwaltung des Landes derart zersplittert, dass von einer effizienten, einheitlichen Verwaltung nicht mehr die Rede sein kann. Die politischen Parteien haben sich ebenfalls in flämische und wallonische Regionalparteien aufgeteilt. Sie finden sich nur noch grob in politischen Familien (bspw. Sozialisten oder Christdemokraten) beim Bilden der Zentralregierung zusammen. Neben der Zentralregierung mit Sitz in Brüssel gibt es eine Aufteilung in drei Sprachgemeinschaften und drei Regionen, die jedoch nicht deckungsgleich sind. Die flämische Gemeinschaft (welche mit der flämischen Regionalverwaltung verschmolzen wurde), die französische Gemeinschaft und die Hauptstadtregion Brüssel haben ihren Sitz in Brüssel, die wallonische Region in Namur und die Deutschsprachige Gemeinschaft in Eupen. Letztere bekam von der wallonischen Regionalregierung eine Reihe von Befugnissen übertragen, die eigentlich nur einer Region zustehen.
    • Die Gemeinschaften haben Weisungsrecht in den an natürliche Personen gebundene Angelegenheiten. Dazu zählen die Bildung (Unterricht in der Gemeinschaftssprache Niederländisch, Französisch oder Deutsch, die Universitäten, aber auch Integrationseinrichtungen), Gemeinwohl (Soziales), Sport, Kultur und Medien. Die Gemeinschaften können mittels Dekreten vollständig autonom von der Zentralregierung innerhalb ihrer Kompetenzen Beschlüsse fassen und durchsetzen.
    • Die Regionen sind für die ortsgebundenen Angelegenheiten zuständig. D. h. für Raumordnung und Städtebau, Wirtschaft, Arbeitspolitik, Landwirtschaft, Autobahnen, Verkehr (MIVB in Brüssel, De Lijn in Flandern, TEC in Wallonien, aber nicht die überregionale NMBS/SNCB), Außenhandel sowie Gemeinde- und Provinzgesetzgebung.

    Die Sprachproblematik, welche sich nach der Ziehung der Sprachgrenze 1962 besonders in Brüssel fokussiert hatte, hat sich mittlerweile in den flämischen Rand um Brüssel verlagert. Dort liegen auch sechs der besonders umstrittenen Fazilitätengemeinden. Der Status dieser Gemeinden zeichnet sich dadurch aus, dass sie beim Festlegen der Sprachgrenze eine Minderheit von mindestens 20 % französischsprachigen hatten. Ihnen wurde das Recht eingeräumt mit der Gemeindeverwaltung, auf Anfrage, auf französisch kommunizieren zu können und frankophone Kindergärten und Grundschulen einzurichten, so die französischsprachige Gemeinschaft diese denn bezahlt. Die Ausgestaltung der Fazilitäten wird jedoch von flandrischer Seite als langsam abzubauende Hilfe für die Französischsprachigen in Flandern interpretiert, d.h. die Sonderrechte für diese Gemeinden sollten langfristig aufgehoben werden, nachdem die Französischsprachigen sich an ihr flämisches Umfeld angepasst haben sollten. Die Fazilitäten werden damit als zeitlich begrenzte Integrationshilfe gesehen. Die Frankophonen sind aber der Ansicht, die Fazilitäten wären ein auf immer gegebenes Recht für Französischsprachige in Flandern – mit dem Effekt, dass die Zuwanderung französischsprachiger Brüsseler in den Rand und besonders in die sechs Fazilitäten Drogenbos, Linkebeek, Sint-Genesius-Rode, Wemmel, Kraainem und Wezembeek-Oppem zu einer Umkehr der Mehrheitsverhältnisse zugunsten der Französischsprachigen führte. Teilweise liegt deren Bevölkerungsanteil bei über 80 % (bspw. in Linkebeek). Die sich darum aufbauenden Konflikte werden oftmals kräftig befeuert von französischen Nationalisten der FDF (Front démocratique des francophones) und UF (Union des Francophones), sowie vom Vlaams Belang und der N-VA auf flämischer Seite.

    Forderungen der Französischsprachigen sind u. a. die Beibehaltung des Wahlkreises Brüssel-Halle-Vilvoorde, die Eingliederung der Fazilitäten in die Hauptstadtregion Brüssel und generell der Erhalt Belgiens als Gesamtstaat. Die Flamen hingegen (vor allem die beiden oben genannten Parteien, die mehr als 40 % der Stimmen der Parlamentswahl 2010 bekamen) sind offen belgienkritisch und wünschen eine Loslösung Flanderns von Wallonien, eine Trennung des Wahlkreises Brüssel-Halle-Vilvoorde und die Abschaffung der Fazilitäten, in denen das sprachliche Territorialprinzip Flanderns offen unterlaufen wird, denn in Flandern gilt Niederländisch als alleinige Amtssprache. Immer wieder kommt es dabei in den Fazilitätengemeinden zu Protesten der Flämisch-Nationalen bei denen Ausrufe wie aanpassen of opkrassen (anpassen oder abhauen) welkom in Vlaanderen (ironisch: Willkommen in Flandern). Splitsen nu! (Trennen jetzt! – gemeint ist der Gesamtstaat Belgien), België barst! (Belgien zerreiße!), Faciliteiten weg ermee! (Weg mit den Fazilitäten), Vlaanderen onafhankelijk nu! (Flandern unabhängig – jetzt!) oder Geen Anschluss! (Kein Anschluss! – der Fazilitätengemeinden an Brüssel) und ähnliches skandiert werden.

    Sonderfall Brüssel

    Zweisprachige Zugauskunft in Brüssel

    Zur Region Brüssel-Hauptstadt gehören Brüssel selbst und 18 weitere Gemeinden. Die Region ist mit ca. 6900 Einwohnern pro Quadratkilometer dicht besiedelt und die 19 Gemeinden der Region sind faktisch zu einer einzigen Stadt zusammengewachsen. In der Region Brüssel-Hauptstadt sind die Amtssprachen sowohl Französisch als auch Niederländisch. Daher üben in der Hauptstadtregion die Gemeinschaften gemeinsam ihre Befugnisse aus. So sind bspw. 20 % der Schulen in der Hauptstadtregion flämisch und 80 % französisch, wobei sich das Verhältnis langsam wieder zu Gunsten der niederländischsprachigen Schulen verschiebt. Es gibt eine französischsprachige und eine niederländischsprachige Universität (Université Libre de Bruxelles in Ixelles/Elsene und die Vrije Universiteit Brussel in Etterbeek), sowie eine große Anzahl kultureller Einrichtungen für beide Sprachgruppen (Beispiele wären das Botanique der Frankophonen in Saint-Josse-ten-Noode/Sint-Joost-ten-Node und das Ancienne Belgique der flämischen Gemeinschaft in der Stadt Brüssel am Boulevard Anspach bzw. an der Anspachlaan). Ebenso gibt es Kliniken, die einzelnen Sprachgruppen zugeordnet sind, beispielsweise das Universitair Ziekenhuis Brussel in Jette oder das Hôpital Érasme in Anderlecht. Alle offiziellen Einrichtungen sind zweisprachig. Das Gleiche gilt für Schilder, Haltestellennamen und Bekanntmachungen. Das Niederländische ist vor allem in der Stadt Brüssel durch die vielen flämischen Einrichtungen, aber auch durch fast 250.000 flämische Einpendler, die jeden Tag nach Brüssel zur Arbeit kommen, sehr präsent. In der Umgangssprache dominiert allerdings das Französische.

    Bis ins 19. Jahrhundert dominierte das Niederländische bzw. der flämische Dialekt, allerdings ist Französisch heute die Lingua Franca in der Stadt. Dabei stellen die belgischen Französischsprachigen jedoch nicht die Mehrheit, sondern nur die größte Gruppe in der Stadt, die einen für westeuropäische Verhältnisse extrem hohen Anteil an Ausländern (europäischer und nicht-europäischer Herkunft) aufweist (46,3 %). Durch die Stadtflucht vieler frankophoner Familien, die sich in den zu Flandern gehörenden Umlandgemeinden niederließen, blieb die Dominanz des Französischen nicht mehr auf die Hauptstadtregion beschränkt. In Flandern wird daher vom sich ständig ausbreitenden „Ölfleck“ Brüssel gesprochen, der zur o. g. Problematik führt. Die Sprachkonflikte der zweisprachigen Hauptstadt wurden damit ins Umland verfrachtet. Die Zahl der Niederländischsprachigen in Brüssel liegt nur bei etwa 15 % (dies ist das Ergebnis, das die flämischsprachigen Parteien regelmäßig in der Hauptstadtregion verbuchen).

    Die Region Brüssel-Hauptstadt hat dieselben Aufgaben wie die beiden anderen Regionen, hat aber im Gegensatz zu diesen keine Satzungsautonomie und kann z. B. das Wahlverfahren für das Regionalparlament nicht eigenständig regeln. Die politischen Gegebenheiten in der Hauptstadtregion sind äußerst komplex. Neben der Regionalregierung üben die beiden Sprachgemeinschaften Rechte in Brüssel aus. Dazu gibt es noch einen Gouverneur der Zentralregierung. Innerhalb des Regionsparlaments und der Gemeinschaftskommission werden die Positionen nach einem festgelegten, ethnischen Proporzschlüssel vergeben, der nicht die tatsächliche Anzahl von Flamen und Wallonen in Brüssel widerspiegelt, sondern der von Flandern ausgehandelten Minderheitengesetzgebung (für Flamen in Brüssel) entspricht. Die Zusammensetzung der Gemeindeparlamente wiederum wird nochmals einzeln in Verhältniswahl bestimmt.

    Da sehr viele gut bezahlte Positionen nicht von Brüsselern, sondern von Einwohnern aus der Provinz Flämisch-Brabant ausgefüllt werden (die generell auch die strengen Sprachvorschriften für öffentliche Stellen wie die Polizei besser erfüllen als viele Brüsseler selbst), fallen deren Steuern vor allem dort an. 2008 lebten etwa 64 % der Einpendler in Flandern und ca. 36 % in Wallonien.[5] Andererseits ist in Brüssel eine starke Verdichtung sozialer Risiken zu beobachten (extrem hohe Arbeitslosenzahlen von über 20 %, viele Sozialhilfeempfänger, viele ungelernte Ausländer aus dem Maghreb und Zentralafrika). Die Infrastruktur- und Hauptstadtkosten müssen (sollten) jedoch vornehmlich aus den Eigenmitteln der 19 Hauptstadtgemeinden und dem Etat der Region bestritten werden. Da dies bei weitem nicht ausreicht, kommt eine Reihe von Transfers zum Tragen, die Geld aus Flandern nach Brüssel fließen lassen. Im Zuge der Regierungsbildung 2011 wurden zusätzliche Transferzahlungen für Brüssel vereinbart, nachdem die flämischen Parteien lange Zeit gegen mehr Geld für Brüssel waren mit dem Hinweis auf die zersplitterte Verwaltung innerhalb Brüssels und die dadurch grassierende Verschwendung von Mitteln. Andererseits muss Brüssel täglich die Last von ca. 350.000 Einpendlern tragen, was eine Infrastruktur erfordert, die weit über die eigentliche Einwohnerzahl hinausgeht.

    Zunehmende Eskalation seit 2007

    Mehrsprachiges Ortsschild in der besonders umstrittenen Gemeinde Voeren (Fourons), die niederländischen Bezeichnungen wurden übersprüht

    Die politischen Parteien in den beiden Landesteilen sprechen nur ihre jeweils eigene Sprachbevölkerung an. Es gibt zwar eine Zusammenarbeit mit der „ideologischen Schwesterpartei“ aus der jeweils anderen Landeshälfte, aber in den letzten Jahrzehnten sind die politischen Meinungsunterschiede größer geworden.

    Die meisten politischen Debatten in Belgien erhalten bereits kurz nach ihrem Entstehen einen sprachpolitischen Aspekt (frz. aspect communautaire oder ndl. communautair aspect). Ein aktuelles Beispiel hierfür war der Streit über die Lärmbelastung in der Umgebung des Brüsseler Flughafens, in dem sich die belgischen Gemeinschaften gegenseitig beschuldigten, ihre jeweilige Bevölkerungsgruppe zu Lasten der anderen Einwohner schützen zu wollen. Im Laufe der Jahre entstand so ein hochkomplexes Dossier über Abflugstrecken und Schallpegel, inklusive Gerichtsurteilen und Gesetzestexten.

    Die Belgier leben zwar in einem gemeinsamen Staat, aber es werden – anders als früher – nur die Medien der jeweils eigenen Landeshälfte in der jeweiligen Sprache genutzt. Die Namen der öffentlichen Sender haben sich ebenfalls geändert: VRT (Vlaamse Radio en Televisie), RTBF (Radio-Télévision Belge de la communauté Française). Der Nachteil dieser Aufspaltung ist, dass zahlreiche öffentliche Debatten nur in einer Landeshälfte geführt werden.

    Viele Jugendliche verwenden zunehmend Englisch als Lingua Franca, um sich miteinander zu verständigen. Die Ortsnamen sind auf den Autobahnen außerhalb Brüssels nur einsprachig, genauso die Bahnhofsdurchsagen. Das führt zu weiteren Verständigungsproblemen: so hat die französische Stadt Lille in Flandern den Namen Rijsel. Die wallonische Stadt Lüttich heißt – je nachdem in welchem Landesteil man sich auf der Autobahn A3 gerade befindet – entweder Liège (franz.) oder Luik (niederl.).

    Am 10. Juni 2007 fanden in Belgien Parlamentswahlen statt. Es gelang den Parteien aus beiden Regionen vorerst nicht, eine Regierung zu bilden. Einer der wesentlichen Gründe liegt darin, dass die flämischen Parteien im Zuge der Koalitionsverhandlungen eine stärkere Eigenständigkeit der Regionen, insbesondere in der Arbeitsmarkt- und Steuerpolitik, erreichen wollen, was entweder die wallonische oder die flämische Seite ablehnt.

    Sint-Genesius-Rode (Rhode-Saint-Genèse): Brücke zwischen Brüssel und Wallonien

    Ein weiterer Konfliktpunkt ist die Frage des Fortbestands des Wahlkreises Brüssel-Halle-Vilvoorde, der entgegen üblicher Praxis regionenübergreifend angelegt ist. Er ermöglicht es frankophonen Wählern im flämischen Umland Brüssels, für Brüsseler Kandidaten aus Parteien der französischsprachigen Bevölkerungsgruppe zu stimmen. Die überwiegende Mehrheit aller flämischen Parteien fordert eine Teilung des Wahlkreises streng entlang der Provinzgrenzen, womit im Teilgebiet Halle-Vilvoorde nur noch flämische Parteien eine realistische Chance auf politische Repräsentation bekämen. Französischsprachige Nationalisten hingegen fordern eine Eingliederung flämischer Randgemeinden mit hauptsächlich französischsprachiger Bevölkerung in die Hauptstadtregion Brüssel. Damit sind vor allem die sechs Fazilitätengemeinden im Brüsseler Umland gemeint. Besonders umstritten ist der Status von Sint-Genesius-Rode, das eine bisher nicht existierende direkte geografische Brücke zwischen den Regionen Brüssel und Wallonien bilden würde.[6]

    Angesichts der langanhaltenden politischen Blockade sprachen sich bei einer Meinungsumfrage im September 2007 nur noch 49,6 % der Flamen für den Erhalt des belgischen Staates aus.[7] Auf der anderen Seite beteiligten sich am 18. November 2007 über 35.000 Menschen – zum weit überwiegenden Teil französischsprachige Belgier – an einer Demonstration in Brüssel. Die Teilnehmer riefen zur Einheit des Landes auf und forderten die belgischen Politiker auf, ihre „Sandkastenspiele“ zu beenden und den Streit zwischen den niederländisch- und französischsprachigen Parteien beizulegen.[8]

    Am 1. Dezember 2007 informierte der designierte Ministerpräsident Yves Leterme den König über den Abbruch der Regierungsbildung.[9] Guy Verhofstadt wurde am 3. Dezember von König Albert II. beauftragt, in Gesprächen mit allen Parteien eine Lösung aus der Staatskrise zu finden. Verhofstadt erklärte zunächst, dass er selber keine weitere Regierung unter seiner Führung anstrebe.[10] Das Resultat der von Verhofstadt geführten Verhandlungen war die Gründung einer Übergangsregierung, die bis zum 23. März 2008 im Amt bleiben solle. Die Staatskrise Belgiens wurde daher in vielen Medien für vorläufig beendet angesehen.[11]

    Letermes Versuch

    Am 18. März 2008 gelang es Yves Leterme, eine Koalition aus fünf Parteien zu bilden. Die neue Regierung wurde von den Christdemokraten und Liberalen beider Sprachgruppen sowie den wallonischen Sozialisten gebildet. Die nationale flämische N-VA, mit der Letermes christdemokratische CD&V ein Wahlbündnis eingegangen war, war nicht an der Regierung beteiligt.[12]

    Fast genau vier Monate später, am 15. Juli, reichte Leterme bei König Albert II. sein Rücktrittsgesuch ein. Ihm gelang es nicht, die notwendige Staatsreform einzuleiten.[13] Albert II. lehnte das Rücktrittsgesuch ab. Leterme solle weiterhin Ministerpräsident Belgiens bleiben, aber die Verhandlungen über die Staatsreform an die Ministerpräsidenten Flanderns (Kris Peeters) und Walloniens (Rudy Demotte) abtreten. Streitig ist aber, ob der Ministerpräsident der überwiegend französisch-sprachigen Hauptstadtregion Brüssel, Charles Picqué, an den Verhandlungen teilnehmen soll. Von flämischer Seite wird das abgelehnt, aber von den Wallonen gefordert.[14]

    Leterme, Van Rompuy, Leterme

    Am 18. Dezember 2008 wurde ein Versuch Letermes bekannt, auf ein Gericht Einfluss auszuüben. Es ging dabei um die niederländisch/belgische Fortis Bank. Leterme bot daraufhin dem König den Rücktritt seiner gesamten Regierung an, was Albert II. am 22. Dezember 2008 annahm. Herman Van Rompuy war vom 30. Dezember 2008 bis zum 1. Dezember 2009 belgischer Premierminister und Regierungschef. Danach nahm Leterme das Amt wieder an. Im April 2010 führte der wiederaufgeflammte Streit um den Wahlkreis Brüssel-Halle-Vilvoorde zum erneuten Scheitern der Regierung Leterme, nachdem die flämische VLD die Fünfparteienkoalition verlassen hatte.[15]

    Staatskrise 2010/11

    Bei den vorgezogenen Neuwahlen am 13. Juni 2010 wurden die flämischen Nationalisten stärkste politische Kraft, dicht gefolgt von den frankophonen Sozialisten der PS.[16] Mehrere Anläufe zur Bildung einer Regierungskoalition scheiterten in den folgenden Monaten, nachdem keine Einigung der flämischen und wallonischen Parteien über eine erneute Staatsreform gelang.

    Von den verschiedenen Interessengruppen wurden daraufhin mehrere Modelle für eine mögliche Teilung Belgiens in die öffentliche Diskussion gebracht, unter anderem wurde die Unabhängigkeit der Nationalstaaten Flandern und Wallonien sowie die Aufnahme der Regionen Belgiens in das Staatsgebiet eines der jeweiligen Nachbarländer vorgeschlagen.[17][18]

    Der belgische König Albert II. ernannte schließlich im Oktober 2010 den Senator Johan Vande Lanotte zum Vermittler, um mit den sieben größten im Parlament vertretenen Parteien Gespräche über eine Staatsreform zu führen.[19] Umstritten waren vor allem die Novellierung des Finanzierungsgesetzes sowie die Zukunft der Hauptstadt Brüssel und des Wahlkreises Brüssel-Halle-Vilvoorde.[20] Vande Lanotte erklärte seine Vermittlungsbemühungen allerdings am 26. Januar 2011 endgültig für gescheitert.[21] Zuvor hatten mehrere zehntausend Menschen in Brüssel gegen die seit sieben Monaten ausstehende Regierungsbildung demonstriert.[22] Am 2. März 2011 wurde Wouter Beke, der Parteivorsitzende der CD&V, mit der Aufgabe beauftragt, zwischen den Parteien über eine Staatsreform zu vermitteln.[23]

    Bekes Vermittlungsmission wurde im Mai 2011 beendet, ohne dass es zu einer Einigung zwischen der flämisch-nationalistischen N-VA und der französischsprachigen Parti Socialiste (PS) kam.[24] Am 17. Mai 2011 beauftrage König Albert II. Elio Di Rupo, den Vorsitzenden der PS, mit der Bildung einer Regierung.[25] Di Rupos Versuche zur Klärung der Staatskrise scheiterten allerdings zunächst am Veto der N-VA,[26] im August 2011 wurden aber nach einjähriger Unterbrechung wieder direkte Gespräche zwischen acht im belgischen Parlament vertretenen Parteien unter der Führung von Di Rupo aufgenommen.[27]

    Am 15. September 2011 einigten sich schließlich die acht Verhandlungsparteien auf die ersten Schritte zu einer Staatsreform. Im Mittelpunkt der Einigung steht die Teilung des seit Jahrzehnten umstrittenen Wahlkreises Brüssel-Halle-Vilvoorde.[28] Zuvor hatte der seit 15 Monaten geschäftsführende Premierminister Yves Leterme seinen Rückzug aus der Landespolitik angekündigt, wodurch die Bemühungen Elio Di Rupos zur Bildung einer neuen Regierung beschleunigt wurden.[29]

    Am 6. Dezember 2011 wurde Ministerpräsident Elio Di Rupo zusammen mit seinen 12 Ministern und sechs Staatssekretären 541 Tage nach der Wahl vereidigt.[30] und löste damit den anderthalb Jahre lang nur noch geschäftsführend amtierenden Yves Leterme ab.

    Staatsreform 2012

    Am 13. Juli 2012 beschlossen die Abgeordneten eine Staatsreform, die den Konflikt entschärfen soll.[31] Dabei stimmten 106 Abgeordnete für und 42 gegen eine seit 50 Jahren umstrittene Aufspaltung des Wahlkreises Brüssel-Halle-Vilvoorde (BHV).[31] Die Gegenstimmen kamen vor allem von nationalistischen Flamen.[31]

    Damit legten die Parlamentarier den Grundstein für weitere Reformen.[31]

    Fortbestand Belgiens

    Forderungen nach einem Umbau Belgiens zu einem föderalistischen Staat, einer Konföderation oder einer völligen Abschaffung des belgischen Staates wurden immer eher von flämischer Seite erhoben. Im Zuge der bisherigen Staatsreformen seit 1970 ist Belgien zu einem föderalistischen Staat geworden und viele Kompetenzen wurden auf die Regionen und Gemeinschaften verlagert. Dennoch sind die sozialen Sicherungssysteme wie u. a. Renten- und Arbeitslosenversicherung noch auf nationaler Ebene organisiert, auch die Steuerhoheit liegt noch weitgehend beim Zentralstaat. Die dadurch stattfindenden Transfers sind ein Dorn im Auge flämisch-nationalistischer Parteien (N-VA, Vlaams Belang, LDD). Sie fordern eine Aufspaltung der sozialen Sicherungssysteme, sehr begrenzt tun dies auch CD&V und Open Vld, was von frankophoner Seite strikt abgelehnt wird. Nach einer Studie der Katholischen Universität Löwen gab es im Jahr 2009 Nettotransfers in Höhe von 6,08 Milliarden Euro von Flandern an die beiden anderen Regionen (5,8 Milliarden Euro an Wallonien, 280 Millionen Euro an Brüssel), hiervon entfielen 3,86 Milliarden Euro auf die sozialen Sicherungssysteme.[32]

    Die N-VA[33] und Vlaams Belang streben ein unabhängiges Flandern an. Ohne das langfristige Ziel einer flämischen Unabhängigkeit aufzugeben, fordert die N-VA die Umwandlung Belgiens in eine Konföderation. Belgien soll demnach aus zwei Gliedstaaten bestehen, Flandern und Wallonien, die prinzipiell alle Angelegenheiten selbst regeln. Nur wenige Angelegenheiten, die beiden Gliedstaaten durch einen Gründungsvertrag gemeinsam der Konföderation übertragen, sollen in deren Kompetenz fallen. Brüssel und die Deutschsprachige Gemeinschaft sollen ein Sonderstatut erhalten. Brüssel soll für alle sog. grundgebundene Angelegenheiten (z. B. Polizei) selbst regeln, bei sog. personengebundenen Angelegenheiten (z. B. Sozialversicherungen, Schulen) sollen die Bewohner Brüssels zwischen dem flämischen und wallonischen System wählen müssen (was im Bildungsbereich schon der Fall ist).[34]

    Solche Forderungen gewinnen deshalb an Gewicht, weil die Beliebtheit flämisch-nationalistischer Parteien in den vergangenen Jahren stark gewachsen ist. Entfielen auf diese bis in die 80er Jahre stets weniger als 20 % der Stimmen in Flandern, erhielten N-VA, Vlaams Belang und die ebenfalls flämisch-nationalistische LDD bei der Parlamentswahl 2010 zusammen knapp 44 % der Stimmen in Flandern, wofür vor allem der rapide Stimmenzuwachs für die N-VA sorgte, der aber auch stark auf Kosten von Vlaams Belang und LDD ging. Der Aufstieg der N-VA löste auf französischsprachiger Seite erhebliche Besorgnis aus.

    Es gibt keine bedeutende französischsprachige politische Kraft, die den belgischen Staat in Frage stellt. Die Partei Rassemblement Wallonie-France tritt für einen Anschluss der französischsprachigen Teile Belgiens an Frankreich ein, erhielt aber bei der Wahl zur Abgeordnetenkammer 2010 nur 1,7 % der Stimmen in Wallonien und 0,4 % in Brüssel.

    Ein schwerwiegendes Problem bei einer Aufspaltung Belgiens wäre die Position der Region Brüssel-Hauptstadt, die zwar vollständig von der Region Flandern umschlossen ist, deren Bewohner aber mit überwältigender Mehrheit Französisch oder eine andere Sprache statt Niederländisch als Muttersprache haben. Bei der Regionalwahl 2009 entfielen in Brüssel 88,8 % der Stimmen auf französischsprachige und nur 11,2 % auf niederländischsprachige Parteien. Umfragen zufolge befürworteten die meisten Brüsseler im Falle einer Aufspaltung Belgiens eine Unabhängigkeit Brüssels.[35] Auch für den Verbleib der derzeit zu Wallonien gehörenden Deutschsprachigen Gemeinschaft gibt es keine abschließend festgelegte Option.

    Siehe auch

    Literatur

    • Horst Siegemund: Parteipolitik und „Sprachenstreit“ in Belgien, Beiträge zur Politikwissenschaft Band 40, Verlag Peter Lang, Frankfurt a.M. 1989, ISBN 3-631-41809-4.
    • Frank Berge; Alexander Grasse: Belgien – Zerfall oder föderales Zukunftsmodell? – Der flämisch-wallonische Konflikt und die Deutschsprachige Gemeinschaft, Regionalisierung in Europa Band 3, Leske und Budrich, Opladen 2003, ISBN 3-8100-3486-X.
    • Marion Schmitz-Reiners: Belgien für Deutsche. Einblicke in ein unauffälliges Land, Christoph Links Verlag, Berlin 2006, ISBN 3-86153-389-8.
    • Johannes Koll (Hrsg.): Belgien. Geschichte – Politik – Kultur – Wirtschaft, Aschendorff Verlag, Münster 2007, ISBN 978-3-402-00408-1.

    Weblinks

    Einzelnachweise

    1. EURES: Arbeitsmarktinformationen: Belgien – Région De Bruxelles-Capitale / Brussels Hoofdstedelijk Gewest. Abgerufen am 29. Mai 2012.
    2. Eurostat-Datenbank (Allgemeine Regionalstatistiken: Regionale Volkswirtschaftliche Gesamtrechnungen – ESVG2010 (reg_eco10))
    3. Pressemitteilung des Statistischen Landesamtes vom 1. Dezember 2014 (PDF; 153 kB)
    4. Eurostat-Datenbank (Allgemeine Regionalstatistiken: Regionale Arbeitsmarktstatistiken (reg_lmk)
    5. EURES: Arbeitsmarktinformationen: Belgien – Région De Bruxelles-Capitale / Brussels Hoofdstedelijk Gewest. Abgerufen Format invalid.
    6. Israel, Stephan: "Am Rande Brüssels tobt ein Streit um Rechte und Boden", Berner Zeitung, 12. Juni 2010.
    7. „Belgischer Stau“, Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 19. September 2007
    8. „Wallone oder Flame – Hauptsache Belgier“, www.tagesschau.de vom 19. November 2007
    9. tagesschau.de – Leterme wirft das Handtuch, 1. Dezember 2007 (nicht mehr online verfügbar)
    10. Tagesschau: Wahlverlierer soll Belgien aus der Krise führen (nicht mehr online verfügbar) vom 3. Dezember 2007
    11. Tagesschau: http://www.tagesschau.de/ausland/belgien46.html (nicht mehr online verfügbar) vom 19. Dezember 2007
    12. Tagesschau: Fünf-Parteien-Koalition beendet Neun-Monats-Krise (nicht mehr online verfügbar) vom 18. März 2008.
    13. Tagesschau: Nach nur vier Monaten im Amt – Belgiens Premier Leterme gibt auf (nicht mehr online verfügbar) vom 15. Juli 2008
    14. Spiegel Online: Regierungskrise in Belgien – König Albert will Leterme zweite Chance geben vom 17. Juli 2008
    15. Focus: Regierung bricht auseinander, 22. April 2010.
    16. FAZ.de: Parlamentswahl in Belgien – Ein flämischer Löwe im Sternenbanner, 14. Juni 2010.
    17. http://www.spiegel.de/politik/ausland/0,1518,724460,00.html
    18. http://www.presseportal.de/pm/62556/1630471/westdeutsche_zeitung?search=Westdeutsche+Zeitung%3A+Eine+Teilung+Belgiens+ist+wahrscheinlicher+geworden
    19. BRF: Vermittler Vande Lanotte nimmt Gespräche auf, 22. Oktober 2010.
    20. BRF: König verlängert Mission von Vande Lanotte, 11. Januar 2011.
    21. Focus: Die politische Krise verschärft sich weiter, 26. Januar 2011.
    22. Die Zeit: Belgier demonstrieren gegen politische Hängepartie, 23. Januar 2011.
    23. NZZ: Neuer Vermittler in belgischer Staatskrise, 2. März 2011.
    24. Wouter Beke: "Die Bausteine sind da", Flanderninof.be, 12. Mai 2011.
    25. "Jeder muss weiter gehen, als je zuvor", Flanderninfo.be, 17. Mai 2011.
    26. Regierungsbildner hat Rücktritt angeboten, Flanderninfo.be, 8. Juli 2011.
    27. Endlich beginnen neue Verhandlungen, Flanderninfo.be, 19. August 2011.
    28. Historische Einigung am Verhandlungstisch: BHV wird geteilt, BRF online, 15. September 2011.
    29. Leterme verlässt die Politik – spätestens zum 31. Dezember, BRF online, 14. September 2011.
    30. Belgium swears in new government headed by Elio Di Rupo. BBC, 6. Dezember 2011, abgerufen am 7. Dezember 2011.
    31. 31,0 31,1 31,2 31,3 Belgien: Staatsreform soll Sprachenstreit entschärfen. Spiegel Online, 13. Juli 2012, abgerufen am 16. Juli 2012.
    32. Mouton, Alain; Killemaes, Daan: "Intreslasten doen transfers exploderen. Nieuwe studie schuift 16 miljard naar voren", Trends, 11. Oktober 2012 (PDF; 620 kB).
    33. Satzung der N-VA (PDF; 431 kB)
    34. N-VA: definitiver Kongresstext vom 2. Februar 2014 (PDF; 2,1 MB)
    35. Brusselaars liever onafhankelijk als België barst. In: De Standaard, 23. März 2013 (niederländisch)
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