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Fischl Schneersohn

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Fischl Schneersohn (1887-1958), Autor

Leben

Fischl Schneersohn galt als Wunderkind. In Kamenets Podolskij, einer kleinen Stadt in der heutigen Ukraine geboren, kommentierte er bereits mit zehn Jahren den Talmud in der Synagoge. Aber so schnell wie er lernte, so schnell begann er auch an der orthodoxen Lehre zu zweifeln. Nach dem Umzug der Familie nach Starodub, schreibt er in seinem Lebenslauf von 1905, »weigerte ich mich zum großen Kummer meiner Eltern, öffentlich den Talmud zu lesen«. Viele hatten ihm eine Karriere in der Chabad-Bewegung vorausgesagt, einer chassidischen Strömung, auch Lubawitscher genannt, die von Schneersohns Urgroßvater Ende des 18. Jahrhundert gegründet worden war und die es heute noch gibt. Doch Schneersohn machte als Externer das russische Abitur, verließ Starodub und begann 1905 in Berlin Medizin zu studieren. Sein in Jiddisch geschriebener, jetzt erstmals auf Deutsch vorliegender Roman »Grenadierstraße«, ist tief geprägt von den eigenen Auseinandersetzungen mit Religion und Tradition.

Zunächst jedoch sieht es so aus, als wenn Schneersohn etwas anderes erzählen wollte. Der Held seines Romans, Johann Ketner, stammt nicht wie Schneersohn aus einer osteuropäisch-chassidischen Familie, sondern ist der einzige Sohn eines jüdischen Bankiers aus Berlin. Johanns Zweifel beziehen sich auch nicht auf das orthodoxe Judentum, sondern auf die liberalen Ansichten seines Vaters und dessen Freunde. Der einfache, jedoch tiefer wirkende chassidisch-orthodoxe Glaube fasziniert Johann wie viele westeuropäische Juden seiner Zeit. »Ist nicht gerade der Chassidismus«, fragt er, »dieses Werk der Millionen Juden im Osten, die Apotheke des jüdischen Geistes?« Gleichzeitig wurden die Männer mit langen Bärten und Schläfenlocken, die rund um die Grenadierstraße im Berliner Scheunenviertel lebten, von den liberalen Juden wie Johanns Vater als religiöse Fanatiker abgelehnt. Letztlich stellen sich also für Johann aus der westlich-aufgeklärten Perspektive dieselben Fragen wie für den aus einer chassidischen Familie stammenden Autor: die nach dem richtigen Weg zwischen liberalen und chassidisch-orthodoxen Judentum.

»Grenadierstraße« erzählt in Form des Entwicklungsromans alle Höhen und Tiefen dieser Identitätskrise. Johann Ketner verliert früh seine geliebte Mutter, beginnt nach der Schule ein Medizinstudium, beobachtet die antisemitisch motivierten Angriffe deutsch-nationaler Studenten auf vor allem aus Russland kommende jüdische Kommilitonen, verliebt sich und heiratet. Im ersten Weltkrieg, den er ablehnt, kommt es zu einem psychischen Zusammenbruch, in dessen Folge er sich vom naturwissenschaftlich geprägten Medizinstudium abwendet und eine Laufbahn als Künstler einschlägt. »Anhand der Lebensgeschichte seines Protagonisten Johann Ketner«, schreibt die Herausgeberin Anne-Christin Saß in ihrem Vorwort, »entfaltet Schneersohn ein differenziertes und vielseitiges Panorama jüdischen Lebens und jüdischer Identität in den ersten beiden Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts«.

Als historisches Dokument und weniger seiner literarischen Qualität wegen ist der Roman eine Entdeckung. Der Herausgeberin Anne-Christin Saß, der Übersetzerin Alina Bothe sowie dem Wallstein Verlag ist die Veröffentlichung deshalb zu danken. Daneben ist »Grenadierstraße« spannend geschrieben und selbst die mitunter umständliche Schreibweise Schneersohns gewinnt im Zusammenhang mit der geschilderten fremden Welt an Reiz. In dieser Hinsicht ist es schade, dass - wie im Vorwort erwähnt - der besseren Lesbarkeit wegen die häufigen Tempuswechsel im jiddischen Original in der deutschen Übersetzung aufgelöst wurden.

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