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Diskussion:Schalom Nagar

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Die WELT 3.6.22

ADOLF EICHMANN

Das Seil des Galgens zuckte

Nur drei Tage blieben israelischen Bauarbeitern, um im Ajalon-Gefängnis bei Tel Aviv eine Exekutionsstätte zu errichten. Denn am 1. Juni 1962 sollte das Urteil gegen Eichmann vollstreckt werden.

VON SVEN FELIX KELLERHOFF

Sein Leben endete so, wie er es gelebt hatte: mit Gewalt. In der Nacht zum 1. Juni 1962 ging Adolf Eichmann, ehemals Leiter des „Judenreferats“ IV B 4 der Gestapo, zuvor Mitglied der illegalen österreichischen SS, seinen letzten Gang. Und mit Spott auf den Lippen. Den anwesenden Zeugen sagte er beim Eintreten in die Hinrichtungskammer noch: „In einem kurzen Weilchen, meine Herren, sehen wir uns ohnehin alle wieder.“ Reue sieht anders aus. Unter den Zeugen war auch Rudolf Küstemeier, ehemals Chefredakteur von WELT und seit 1957 für die Nachrichtenagentur dpa erster fester Korrespondent aus der Bundesrepublik in Israel. Dann drückte der 24-jährige Gefängniswärter Schalom Nagar einen Schalter. Er öffnete elektrisch die Klappe, auf der Eichmann stand. Keine Sekunde später hing sein Leichnam am Seil.

Es war eine improvisierte Exekution. Denn in Israel gab es bis dahin keine Hinrichtungsstätte – die Todesstrafe war hier ausschließlich Haupttätern des Massenmordes an Europas Juden angedroht. Erst drei Tage vor dem geplanten Termin hatten die konkreten Vorbereitungen begonnen, obwohl das Urteil schon am 15. Dezember 1961 gefallen war. Offenbar hatte sich auch in der israelischen Verwaltung niemand vorstellen können (oder wollen), dass der Schuldspruch tatsächlich vollstreckt werden sollte.

Seit der Verurteilung war Eichmann in einem separaten Trakt im Ajalon-Gefängnis südöstlich von Tel Aviv eingesperrt, einem ehemaligen Quartier für das Gefängnispersonal. Es war umgebaut worden, für genau einen, allerdings den wichtigsten Strafgefangenen, der bis dahin im jüdischen Staat eingesessen hatte. Doch an einen Galgen hatte niemand gedacht.

So begannen am 29. Mai 1962 im dritten Stock des Sondertraktes eilig Bauarbeiten. In einem Raum stemmten Arbeiter ein Loch in den Fußboden und bauten in eine Wand ein Fenster zum Nebenraum ein. In das Loch kam eine grob geschreinerte Falltür, die über einen elektrischen Schalter auszulösen war. Darüber baute man eine stabile Konstruktion aus Balken, an denen ein Haken befestigt wurde. Der Plan stammte aus Großbritannien – das Gefängnispersonal hatte sich ein englisches Buch über die Todesstrafe als Vorlage besorgt. Am 31. Mai zeigt ein Test mit einer Puppe, dass technisch alles funktionierte. Am Abend dieses Donnerstages erhielt Eichmann in seiner Zelle die Nachricht, dass Israels Staatspräsident Jitzhal Ben Zwi sein Gnadengesuch abgelehnt hatte. Der 56-Jährige hatte darin geschrieben, er sei kein „verantwortlicher Führer“ gewesen, habe unter Zwang als „Instrument“ gedient und fühle sich nicht schuldig. Das Staatsoberhaupt bat er „anzuordnen, dass das Todesurteil nicht vollstreckt wird“.

Auf liniertem Papier hieß es in sorgfältiger Schreibschrift weiter: „Den Richtern ist in der Beurteilung meiner Person ein entscheidender Irrtum unterlaufen, da sie sich nicht in die Zeit und in die Lage versetzen können, in der ich mich während der Kriegsjahre befunden habe.“ Eichmann bediente sich also noch einmal der Taktik, die er während seines Prozesses eingesetzt hatte. Außerdem schrieb Eichmann: „Es ist nicht richtig, dass ich so eine hochgestellte Persönlichkeit gewesen wäre, dass ich die Verfolgung der Juden selbstständig hätte betreiben können, und betrieben hätte, gegen eine solche Machtfülle spricht deutlich die von den Richtern im Urteil übergangene Tatsache, dass ich niemals einen solchen Dienstrang hatte, der mit so entscheidenden, selbstständigen Befugnissen hätte verbunden sein müssen. So habe ich aber keine einzige Anordnung im eigenen Namen gegeben, sondern stets nur ,im Auftrag’ gehandelt.“

Eine Formalie der deutschen Bürokratie (kein Beamter außer Behördenleitern unterschrieb und unterschreibt dienstlich je anders als „im Auftrag“) sollte als Entlastung herhalten. Eichmann muss bewusst gewesen sein, dass niemand diese Behauptung ernst nehmen konnte. Vermutlich (genau weiß man das aber nicht) rechnete er aber auch gar nicht damit, dass sein Gnadengesuch Ben Zwi überzeugen könnte. Gesetzt haben mag Eichmann darauf, dass es auch aus anderen, gänzlich des Nationalsozialismus und des Rassenwahns unverdächtigen Kreisen Gesuche gab, die Todesstrafe umzuwandeln. Prinzipielle Gegner der Todesstrafe hatten eine Reihe von Gesuchen nach Jerusalem geschickt, darunter auch Juden. Der Staatspräsident ignorierte diese Bitten, was ihm gewiss schwerer fiel als bei Eichmanns Brief. Der einzige Weg von Eichmanns Zelle zum improvisierten Hinrichtungsraum führte durch eine grob in eine Trennwand geschlagene Öffnung. Kurz vor Mitternacht am 31. Mai 1962 fesselten die Wächter den Delinquenten an Händen und Füßen, dann gaben sie ihm auf seine Bitte hin einen Moment allein und in Stille. Anschließend führten mehrere Polizisten ihn zur Hinrichtungskammer.

Als sie dort ankamen, hieß es auf einmal, der Galgen sei noch nicht bereit, sodass sie warten mussten. „Nach einer unangenehmen Pause wurde Eichmann hineingeführt“, schreibt der Historiker David Caesarani in seiner 2004 auf Deutsch erschienenen Eichmann-Biografie. Ein gummiertes Seil wurde ihm in zwei Schlingen um den Hals gelegt, auf eine Kapuze verzichtete er, obwohl sie ihm angeboten worden war. Dann öffnete sich mit einem Klicken die Falltür. Drei Meter tief fiel Eichmann, und das Seil zuckte. Im nächsten Moment folgten Reglosigkeit und Stille. Nur das Seil schwang leicht hin und her. Der Verurteilte hatte gebeten, dass sein Leichnam eingeäschert werde, was in Israel unüblich war; es gab kein Krematorium. Also hatten Ingenieure der Armee sowie Polizisten und Arbeiter eines privaten Unternehmens in einem Orangenhain nahe der Küste unter strengster Geheimhaltung eine ebenfalls improvisierte Verbrennungsstätte errichtet – gedacht zum einmaligen Gebrauch. Der „Ofen“ bestand aus einem Metallzylinder von 1,50 Meter Höhe, 90 Zentimeter Breite und gut zwei Meter Länge sowie einem drei Meter hoch aufragenden Kamin; im Inneren brannte bereits ein starkes Feuer, das durch eine Klappe mit weiterem Brennstoff versorgt werden konnte. Ein Geistlicher, der schon bei der Exekution anwesend gewesen war, identifizierte Eichmanns eingehüllte Leiche. Dann legten Polizisten den toten Körper auf eine Art Gabel und schoben ihn in das Feuer. Die Exekution lag kaum eine Stunde zurück, es war tief in der Nacht. Einige Stunden später hatte das Feuer den toten Organisator des Massenmordes an Europas Juden zu Asche verbrannt. Sie wurde auf ein Schiff der israelischen Marine gebracht, das in internationale Gewässer hinausfuhr. Dort wurde die Asche ins Wasser gestreut.

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