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Diskussion:Nicole Poëll
Tagesanzeiger, 31. Oktober 2007:
Die Jüdin und der Pfarrerssohn.
Sie gehen zusammen in die Kirche und in die Synagoge, sie feiern Ostern und Sabbat. Seit 36 Jahren leben Nicole und Hans Poëll eine Mischehe.
Nicole Poëll redet nicht um den heissen Brei herum. «O Gott», ruft sie aus, als ich frage, wie es wäre, wenn eine ihrer beiden Töchter einen orthodoxen Juden heiraten möchte. «Das ist völlig unrealistisch», sagt sie. Einen Muslim als Schwiegersohn, ja, kein Problem. «Wen immer sie heiraten mögen: Die Religion ist nicht ausschlaggebend, die Haltung soll aber nicht extrem sein.» Oder wie es ihr Mann, Hans Poëll, ausdrückt: «Alles, was fundamentalistisch ist, macht uns Mühe.» Punkt. Das Ehepaar hat klare Ansichten. Und teilt diese offen mit. «Wissen Sie, wenn man seinen Kopf so in der Öffentlichkeit hat wie ich, kommt das nicht mehr darauf an», sagt Nicole Poëll. Sie lebt mit ihrem Mann in Zumikon. Schön und hell ihr Wohnzimmer, aufgeräumt, hier etwas Grün, da etwas Kunst. Die Töchter, 26 und 27 Jahre alt, sind ausgezogen. Ruhig ist es deswegen nicht: Pro Stunde läutet das Telefon geschätzte drei Mal. Poëlls sind aktiv. Er als Unternehmensberater für Firmen, die sich in Zentralasien etablieren wollen, sie als Immobilienfachfrau – und vor allem als Präsidentin der Jüdischen Liberalen Gemeinde Zürich Or Chadasch. Letzteres bezeichnet sie als «aufwändiges Hobby». Warum engagiert sie sich für die jüdische Gemeinde? Sie tippt sich mit dem Zeigefinger an die Stirn. Und lacht herzhaft. «Ich will etwas bewegen, will aufzeigen, dass man auf verschiedene Arten jüdisch leben kann.»
Als Jüdin von Juden ausgegrenzt
Nicole Poëll wuchs in Zumikon auf – in der einzigen jüdischen Familie im Dorf, wie sie betont – und kommt aus einer politisch interessierten Familie. Von 1995 bis 2000 war sie FDP-Präsidentin des Bezirk Meilen, anschliessend fünf Jahre Verfassungsrätin des Kantons Zürich, daneben Gründungsmitglied der Plattform der Liberalen Juden Schweiz. Diese entstand vor drei Jahren als Reaktion auf die Nichtaufnahme der Jüdischen Liberalen Gemeinde Zürich in den Schweizerischen Israelitischen Gemeindebund. «Dass wir liberalen Juden von den anderen Juden ausgegrenzt werden, ist schmerzhafter als der übliche Antisemitismus.» Mit diesem «üblichen Antisemitismus» müsse sie leben, weil sie sich exponiere, glaubt Nicole Poëll. Die ersten Diskriminierungen erlebte sie als Kind, kurz nach dem Krieg, als sie Mitschüler ausschlossen. «So wurde mir früh bewusst, dass ich zu einer nicht nur erwünschten Minderheit gehöre. Und ich musste lernen, mich zu wehren.» Später, als sie mit ihrem Mann zusammenkam, wichen ihr gewisse Freunde ihres Partners aus, wollten nichts mit ihr zu tun haben. Das bestätigt ihr Ehemann, fügt aber an, sie hätten sich später für ihr Verhalten entschuldigt. Sie ergänzt, auch in ihrem Umfeld habe es «unsinnige Sprüche» gegeben über den Pfarrerssohn, der die Jüdin heiraten wollte. Und als Nicole Poëll vor Jahren als Gemeinderätin kandidierte, kamen ihr, so drückt sie es aus, «das freche Maul und die Religionszugehörigkeit» in den Weg. Einige Leute hätten ihr direkt gesagt, sie wollten keine Jüdin in diesem Amt. Nicole Poëll erzählt das nicht ungern, als kokettiere sie ein wenig damit.
Gleicher Gott, anderes Bodenpersonal
Stolz ist sie auf den Wandschmuck, den sie von der Gemeinde zum sechzigsten Geburtstag erhalten hat: eine Mesusa, ein Kunstwerk, in dem sich ein Ausschnitt aus der Thora befindet. Sie hängt im Wohnzimmer, eine andere, kleinere, sticht im Hauseingang ins Auge. Wollen Poëlls jeden Besucher gleich über die religiöse Zugehörigkeit im Hause aufklären? «Ach was, wir sind sowieso nur ein halb jüdischer Haushalt», entgegnet Nicole Poëll. Es sei schlicht ein jüdisches Symbol für den Schutz des Hauses. Und der Mann des Hauses, der Sohn eines lutheranischen Pastors, was hält er davon? Welche Rolle spielt sein Glaube? «Die Religion ist wichtig, sie ist ein Teil unseres Alltags. Ob Christen oder Juden, wir glauben doch an den gleichen Gott, haben einfach anderes Bodenpersonal.» Nicole Poëll erinnert sich, wie der Schwiegervater sagte, er habe überhaupt kein Problem, dass er eine Jüdin als Schwiegertochter habe, die Christen hätten ihren Glauben einfach ein wenig weiter entwickelt als die Juden. Ein Affront für die engagierte Jüdin? «Im Gegenteil: Das finde ich einen treffenden Spruch!»
Mischehe für Juden nicht akzeptiert
Tatsächlich haben Christentum und Judentum dieselben Wurzeln. Dennoch ist die Mischehe im Judentum nicht akzeptiert. Die einzige Möglichkeit, jüdisch rechtsgültig zu heiraten, ist ein Übertritt zum Judentum. Die Konversion von Hans Poëll war allerdings weder für ihn noch für seine Frau je ein Thema. Nicole Poëll: «Die Religion kann man nicht einfach abstreifen wie einen Mantel an der Garderobe.» Die beiden heirateten zivil. Weil sie trotzdem einen Segen wollten auf ihrer ehelichen Gemeinschaft, feierten sie mit der Familie in einem jüdischen Restaurant. Der Gemeinde-Rabbiner und «der hauseigene Pfarrer» – der Vater von Hans – sprachen «sehr bewegende Worte», schwärmen Poëlls noch heute. Dass ihre Kinder religiös erzogen werden, war Poëlls sehr wichtig. Nur wer etwas kenne, könne darüber urteilen, glauben sie. Nun sind die Kinder einer Jüdin nach jüdischem Recht immer jüdisch, selbst wenn die Ehe nicht als gültig betrachtet wird, und bleiben jüdisch bis zu ihrem Tod. Das fand Hans Poëll gut so. «Schliesslich erzieht die Frau die Kinder, also haben die Kinder deren Religion.»
Doppelte Festerei für die Kinder
Ganz so eng sahen es Poëlls aber nicht: Sie schickten ihre Töchter zwar einmal pro Woche in den jüdischen Unterricht, zelebrierten zu Hause aber sowohl die jüdischen wie auch die christlichen Feste. «Weihnachten für Papi und Chanukka für Mami», hiess es jeweils. Nicole Poëll spricht von «Patchwork-Feierlichkeiten»: Fiel beispielsweise Pessach auf die Ostertage, gab es weder Schokolade noch Brot, sondern Mazze. Gefärbte Eier aber gehörten immer dazu. Wie auch das Sabbat-Feiern am Freitagabend. Dass die Töchter heute selten freiwillig in die Synagoge oder zur Kirche gehen, nehmen Poëlls gelassen. Und wie häufig trifft man sie selbst beim Gebet? Hans Poëll ist kein grosser Kirchengänger: «Ich musste als Kind vielleicht zu oft mit.» Wenn, dann geht er seiner Frau zuliebe. Als Präsidentin der Liberalen Jüdischen Gemeinde Zürich engagiert sie sich nämlich für interreligiöse Begegnungen und wird ab und zu in die Kirche eingeladen. In die Synagoge gehen die beiden regelmässig. Und da stelle der Pfarrerssohn dem Rabbiner manchmal Fragen, die dieser nicht auf Anhieb beantworten könne, erzählt Nicole Poëll. «Hauptsache, wir diskutieren über Religion. Das ist Teil unserer Kultur», sagt die Jüdin. Der Christ nickt.
- Michael Kühntopf 12:22, 30. Aug. 2011 (CEST)