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Diskussion:Antonina Vallentin

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Einsteins Freundin

Katja Behling, 18. August 2017:

Antonina Vallentin war Biografin, Redakteurin, Denkerin aber vor allem Mittlerin zwischen Frankreich und Deutschland.

In ihrer Biographie holte Vallentin das weltberühmte Physik-Genie vom Podest. Wie Albert Einstein und seine Frau im beschaulichen Caputh bei Potsdam im Frühjahr 1932 auf die Vorzeichen der unheilvollen Zeitenwende reagierten, zeigen Elsa Einsteins Briefe an ihre Freundin Antonina Vallentin-Luchaire. Die hatte den Einsteins dringend geraten, Berlin zu verlassen. Elsa antwortete ihr im Juni 1932, das sei «nicht so einfach», ihr Mann sei am liebsten in seinem- Sommerhäuschen in Caputh und auf seinem- Segelboot, er lebe «hier göttlich wie nirgends». Auch nach der Emigration des Ehepaares 1933 blieb Vallentin mit den Einsteins befreundet, wurde Biografin des Nobelpreisträgers, besuchte ihn in Princeton, wo er nun lehrte. In ihrem Buch holte sie das weltberühmte Physik-Genie vom Podest, schilderte auch seine zwanglose Seite als zerstreuter Professor, der auf einen Zettel mit einem «Gedicht, das ihm die Königin Elisabeth gewidmet hatte», kryptische Zahlen kritzelte: seine Einkaufsliste. Antonina Vallentin schrieb über den «Poeten im Exil» Heinrich Heine, den französischen Revolutionspolitiker Mirabeau, über Picasso, da Vinci, Goya und El Greco. Ihre grossen Biografien machten sie bekannt, weit über Deutschland hinaus. Vom Lemberg nach Paris Geboren im Oktober 1893 und aufgewachsen als Antonina «Tozia» Silberstein im ostgalizischen Lemberg, studierte sie Kunst und Kunstgeschichte, unter anderem in Florenz. Nach dem Ersten Weltkrieg ging sie nach Berlin, veröffentlichte 1920 «Die purpurne Flut. Märchen und Grotesken», die der renommierte Grafiker, Maler und Modezeichner Ludwig Kainer illustrierte. Durch ihre rasch ge-knüpften Beziehungen zur Berliner Boheme – da-runter jüdische Künstler wie die Malerin Erna Pinner, die bei Lovis Corinth und Felix Valloton studiert- hatte, Schriftsteller wie Franz Werfel, Else Lasker-Schüler und deren Mann Herwarth Walden, Herausgeber des Avantgarde-Magazins «Der Sturm» – lernte Antonina Silberstein ihren ersten Ehemann kennen: Maxim Vallentin, Berliner Schauspieler und Theaterregisseur, Gründer des Spektakels «Agit-Prop», in den 1920er-Jahren unter anderem am Schauspielhaus Zürich engagiert. Antonina Silberstein heiratete ihn, schreibt Buchautor Cédric Meletta, 1921, um ihn schon ein Jahr später zu verlassen. Sie blieb in Berlin, profilierte sich weiter als Journalistin und Übersetzerin von Autoren wie Science-Fiction-Pionier H. G. Wells, wurde Reporterin der United Press, Berliner Kulturkorrespondentin des «Manchester Guardian» und Redakteurin der Monatsschrift «Nord und Süd», die der zuvor unter anderem in Zürich und Bern tätig gewesene Rabbiner, Soziologe und Philosoph Ludwig Stein herausgab.   In der Berliner Kulturszene hervorragend vernetzt, führte die Intellektuelle bald einen einflussreichen Salon, einen der wichtigsten der deutschen- Hauptstadt – und einen der letzten seiner- Art überhaupt. In ihrer weitläufigen Wohnung in der Landgrafenstrasse empfing die polyglotte Salonière, inmitten dunkler Renaissancemöbel und rotem Plüsch, die Polit- und Kulturszene der Weimarer Republik und die europäische Elite. Dort begegneten Aristokraten den englischen und den französischen Botschaftern, Sozialisten der deutschen Regierung und jüdischen Persönlichkeiten wie dem Verleger Samuel Fischer und den Einsteins. In «Tozias» Salon lief alles zu-sammen, buchstäblich. Einer der wichtigsten Herren, die die Gastgeberin begrüsste, war Gustav Stresemann. Schon 1922 sah Vallentin in ihm einen – den – kommenden deutschen Staatsmann, den Mann, den das sozial gefährlich gespaltene Land jetzt brauche. Tatsächlich wurde der Hoffnungsträger Stresemann deutscher Reichskanzler und Aussenminister einer Koalitionsregierung – im Krisenjahr 1923, als Frankreich und Belgien das Ruhrgebiet besetzten, um deutsche Reparationsmilliarden zu erzwingen und Kontrolle über die wichtige Industrieregion zu gewinnen, die Inflation aberwitzige Höhen erreichte, kommunistische Aufstände drohten und radikale Rechte eine nationale Diktatur forderten. Stresemann setzte zur Entschärfung der Lage auf  Verhandlungen mit den Siegermächten des Ersten Weltkrieges, vor allem mit Frankreich: Deutschland könne nur mit, nicht gegen, Frankreich in Europa bestehen.  Gemeinsam mit seinem französischen Amtskollegen Aristide Briand erhielt Stresemann 1926 für seine Verdienste um die Aussöhnung in Europa den Friedensnobelpreis. Derweil war Antonina Vallentin Stresemann eine enge Vertraute ge-wor-den (und, wenn man Gerüchten Glauben schenkte, noch ein wenig mehr). Hoch gebildet und integer, genoss sie das Privileg bevorzugten Zugangs zu ihm, und es habe kein grösseres Diner in Stresemanns- Amtsvilla gegeben, bei dem nicht auch Frau Vallentin anzutreffen gewesen sei, schrieb später die Romanautorin Gabriele Tergit, damals stadtbekannte Berliner Gerichtsreporterin, über die Kollegin. Nach Stresemanns Tod – der im Oktober 1929 das Ende der Weimarer Republik einläutete – schrieb Vallentin die Biografie «Stresemann. Vom Werden einer Staatsidee» (1930). Das Buch fand ein grosses Echo im In- und Ausland. Mitte der 1920er-Jahre lernte Antonina Vallentin- am Rande einer Sitzung in Genf den französischen Kulturattaché und Dramatiker Julien Luchaire (1876–1962) kennen, so Cédric Meletta in seinem Buch «Jean Luchaire: L'enfant perdu des années sombres» (2013), das sich mit Juliens Sohn befasst. Julien Luchaire stammte aus einer Intellektuellendynastie, schrieb Theaterstücke und Romane und gründete das Institut Français in Florenz, das erste Institut dieser Art. Er hatte in verschiedenen Ministerien gearbeitet und war als Bildungsexperte für den Völkerbund in Genf tätig. Ab 1925 leitete Luchaire das Pariser Büro der Internationalen Kommission für geistige Zusammenarbeit, die als Vorläufer-Institution der UNESCO gilt. Antonina heiratete den Franzosen 1929 und lebte fortan als Antonina Vallentin-Luchaire in Frankreich. Vichy-Zeit in Frankreich Auch in Paris rief Madame Vallentin-Luchaire einen Salon ins Leben, in dem Kultur und Politik zusammenkamen. Nach dem Machtwechsel in Berlin positionierte die Diplomatengattin sich zu den veränderten politischen Verhältnissen. 1933 erschien in Paris «L'apport des Juifs d'Allemagne à la civilisation allemande», in dem sie und Mit-autoren wie Albert Einstein, Joseph Roth, Leopold Schwarzschild und Georg Bernhard, der lange Jahre in Berlin Ullsteins legendäre «Vossische Zeitung» geführt hatte, über den Beitrag deutscher Juden zur deutschen Kultur schrieben. Sie stiess mit ihrem Mann zur legendären Künstlerkolonie im südfranzösischen Sanary-sur-Mer, wo sich 1933 bis 1939 die deutsche Exil-Literatur versammelte. Lion Feuchtwangers Frau Marta erwähnte Anto-ninas Aufenthalt später in ihrer Autobiografie. Am Ende der Sommerfrische 1933 entspann sich ein Briefwechsel zwischen Lion Feuchtwanger und Antonina Vallentin, der viele Jahre anhielt. Die Familie von Thomas Mann, einer der Kristallisationspunkte in Sanary, spielte in Antonina Vallentins Leben in mehrfacher Hinsicht eine Rolle. Am 21. Juni 1933 hielt der Diplomat, Publizist, Kunstmäzen und Privatgelehrte Harry Graf Kessler in Paris in seinem Tagebuch einen Besuch bei «Mme. Luchaire (Antonina Vallentin)» fest, bei dem er auch Klaus Mann angetroffen habe. Thomas- Manns Sohn gehörte zu Antonina Vallentins Briefpartnern, in diesem historischen Sommer 1933, in dem Klaus sich nicht nur in den Wirren der Zeitgeschichte, sondern auch in einem Dickicht verwickelter Beziehungen und Affären gefangen fühlte. Seine Korrespondenz mit Antonina Vallentin intensivierte sich, als Klaus Mann in Amsterdam die Exilzeitschrift «Die Sammlung» herausgab, für die er Antonina Vallentin als Beiträgerin gewann. Die wiederum plante 1933 die Gründung einer deutschsprachigen Buchproduktion in Paris und wandte sich in dieser Angelegenheit im Auftrag des Verlages Gallimard auch an Thomas Mann, der ihr Vorhaben allerdings mit mehr Skepsis betrachtet haben soll als etwa Stefan Zweig, der es unterstützte. In den Briefen, die Antonina Vallentin und Stefan Zweig über die Zeit wechselten, kam auch die Sorge um den alkohol-abhängigen Schriftstellerkollegen Joseph Roth zur Sprache. Roth, der aus Brody bei Lemberg und damit derselben ostgalizischen Gegend wie Vallentin- stammte, lavierte am Rande des Zusammenbruchs, psychisch und finanziell. Zumindest die finanziellen Nöte konnte Vallentin-Luchaire nach 1933 durch Zuwendungen lindern, heisst es. Vallentin, die sich als Emigrantin betrachtete, unterstützte zahlreiche deutsch-jüdische Exilanten, denen sie 1933 bis 1939 ihr Haus in Paris öffnete – ungeachtet ihrer Stellung in der dortigen Gesellschaft. Antonina Vallentin-Luchaire selbst überlebte die Besetzung Frankreichs auch dank der guten Beziehungen ihrer angeheirateten Familie: Durch ihre Heirat war Antonina Stiefmutter von Juliens 1901 geborenem Sohn Jean Julien Luchaire geworden, der während der Vichy-Zeit für den als Juden gefährdeten Eigner die Leitung des Verlages Éditions- du Sagittaire übernommen hatte. Dass Julien Luchaire seine jüdische Ehefrau Antonina vor dem antisemitischen Zugriff des Vichy-Regimes retten konnte, glückte wohl, weil Sohn Jean, der mittlerweile einer der Pressemagnaten Frankreichs geworden war, hohes Ansehen genoss und sich mit der Gegenseite zu arrangieren wusste. Letzteres wurde nach der Befreiung zur Bürde und zum Verhängnis: Stiefsohn Jean, dem Antonina ihr Überleben (mit)verdankte, wurde 1946 wegen Kollaboration hingerichtet. «Vollendete Europäerin» Antonina Vallentins Buch «Les atrocités allemandes en Pologne» über die deutschen Ver-brechen in Polen erschien 1940 in Paris. Sie setzte auch in den Vichy-Jahren ihre Arbeit fort – jeden Abend, schrieb Gabriele Tergit später, habe Julien im Garten ein Loch gegraben, um die Manuskripte seiner Frau zu verstecken. Nach dem Krieg brachte sie ihre Erfahrungen zu Papier, fand aber keinen Verleger dafür. «Das Schicksal einer polnischen Jüdin ist nicht inte-ressant genug», meinte Vallentin verbittert. Sie verfasste nun grosse Künstlerbiografien, ihr Buch über Goya und seine Zeit wurde ein internationaler Erfolg. Und sie blieb rege Brief-schreiberin. Über die Jahre gehörten einige der prominentesten Köpfe ihrer Zeit zu ihren Korrespondenzpartnern, von Gottfried Benn und Gerhart- Hauptmann über Albert und Elsa Einstein- bis Thomas und dessen Kinder Klaus und Erika Mann. Nach dem Krieg kam Alfred Döblin hinzu, der seit 1946 beim Südwestfunk das Zeitgeschehen kommentierte, dabei auch das deutsch-französische Verhältnis thematisierte, was ihn mit Vallentin verband. In den letzten drei Jahren ihres Lebens schrieb Antonina Vallentin im Auftrag des amerikanischen Verlags Doubleday über Picasso. Sie arbeitete bis zuletzt. Die Schriftstellerin Gabriele Tergit, die seit 1938 im Londoner Exil lebte und 1957 zur Sekretärin des PEN-Zentrums deutschsprachiger Autoren im Ausland gewählt wurde, rühmte Antonina Vallentin nach deren Tod als «eine der herausragenden Frauen» ihrer Generation. Eine «vollendete Europäerin zu einer Zeit, als wir nur Berliner Jüdinnen waren». Antonina Vallentin, eine der vielleicht einflussreichsten Protagonistinnen der Weimarer Republik, starb am 18. August 1957 in Paris. 