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Das radikal Böse (Film)

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Das radikal Böse ist ein deutscher Dokumentarfilm, der versucht, psychologische Prozesse und individuelle Entscheidungsspielräume „ganz normaler junger Männer“ in den deutschen Einsatzgruppen der Sicherheitspolizei und des SD zu ergründen, die ab 1941 während des Zweiten Weltkriegs im Rahmen des Holocaust zwei Millionen jüdische Zivilisten in Osteuropa erschossen.

Autor und Regisseur ist der österreichische Oscar-Preisträger Stefan Ruzowitzky (Die Fälscher). Der Film wurde im Oktober 2013 auf den 47. Hofer Filmtagen präsentiert[2]; Kinostart in Deutschland ist der 16., in Österreich der 17. Januar 2014.

Titel

Der Titel des Films spielt auf ein Zitat Hannah Arendts an: „Das radikal Böse ist das, was nicht hätte passieren dürfen, das heißt das, womit man sich nicht versöhnen kann […] woran man auch nicht schweigend vorübergehen darf.“[3] Sowohl der Frage, wie das radikal Böse zustande kommen kann, als auch der Frage, wie in der Folge damit umzugehen sei, widmete Arendt unter dem Eindruck der Shoah einen Großteil ihres moralphilosophischen Denkens.

Dazu erklärte Ruzowitzky, dass sich sein Film auf die frühe Definition des Begriffs durch Arendt beziehe: „Später hat sie den Begriff ‚banales Böse‘ in Bezug auf Eichmann und den Typus ‚Schreibtischtäter‘ verwendet, aber meine Täter sind ja keine Schreibtischtäter, sondern das sind die, die wirklich dort gestanden sind, den Abzug gezogen haben und einer Frau, einem Kind, einem Mann eine Kugel in den Schädel gejagt haben. Da reicht der Begriff des ‚banalen Bösen‘ nicht mehr aus. Hier ist es also schon wichtig zu definieren, dass es um etwas geht, das nie hätte passieren dürfen.“[4]

Inhalt

Der Dokumentarfilm geht anhand nachgesprochener Zitate aus Briefen, Tagebüchern und Prozessakten der Frage nach, warum aus vielen „normalen jungen Männern“ in deutschen Einsatzgruppen, die sich ab 1941 in Osteuropa am systematischen Massenmord an jüdischen Zivilisten beteiligten, Täter wurden. Als Darsteller der Einsatzgruppen und der Heimatfront werden Komparsen eingesetzt. Ruzowitzky zeigt außerdem Dokumente, in denen der Massenmord bürokratisch und akribisch aufgezeichnet wurde und lässt die Ereignisse von einigen noch lebenden Augenzeugen kommentieren.[5]

„Das radikal Böse“ wird durch Psychologen und Historiker analysiert, unter diesen der 1920 geborene Benjamin Ferencz, der 1947 der Ankläger beim Einsatzgruppenprozess war, der Historiker Christopher Browning, der Priester Patrick Desbois und der Psychiater Robert Lifton. Für den Film wurden einige psychologische Versuche wie das Milgram-Experiment, das Stanford-Experiment und das Konformitätsexperiment von Asch nachgestellt und Interviews mit den Wissenschaftlern geführt. Sozialpsychologische Tests dokumentieren Gruppenzwang, hierarchische Ordnung und mentale Distanz zum Opfer als gewaltfördernde Mechanismen, die auf der Basis der Ausrottungs-Propaganda gegen das Judentum vom NS-Regime genutzt wurden.[6] Die Morde wurden, durch Anerkennung belohnt, zur Routine.

Da das gesamte Umfeld der Mitglieder der Einsatzgruppen darauf fixiert war, wurde es für Einzelne zunehmend schwerer, sich dem Töten zu entziehen - aber es war, wie Ruzowitzky in mehreren Interviews betont, möglich: „Die Existenz der wenigen, die nicht mitgemacht haben, zeigt, dass es kein Schicksal war, sondern eine individuelle, moralische Entscheidung“. [7] Er wende sich mit seinem Film „gegen das religiöse Verständnis des Bösen, das wie eine ‚Urkraft‘ plötzlich über uns kommen kann. Das Böse ist etwas von Menschen Gemachtes. Das ist unser Problem, aber auch unsere Chance. Denn wenn es von Menschen ‚gemacht‘ ist, kann es auch von Menschen ‚bekämpft‘ werden und man kann Maßnahmen setzen, damit dieses Böse nicht stark und übermächtig wird. Dieser Film hat ja auch dezidiert den Anspruch, zu analysieren, was damals passiert ist. Man analysiert, um allenfalls etwas dagegen tun zu können, sollte es wieder passieren.“[4]

Hintergrund

Ruzowitzky stieß bei der Recherche für seinen Oscar-prämierten Spielfilm Die Fälscher auf Christopher Brownings Buch Ordinary Men - Ganz gewöhnliche Männer, der in seiner historischen Aufarbeitung des Themas nicht nur frage, „wer hat was wann und wo gemacht, sondern auch: warum. Wie ist das passiert, dass da aus einer Gruppe von ganz normalen, netten, guten, jungen Männern plötzlich Massenmörder werden, denen es offensichtlich nichts ausmacht, im Akkord unschuldige Menschen, Frauen, Kinder zu ermorden.“ Die Generation der Verbrecher, aber auch der Zeitzeugen, sei fast ausgestorben. So habe Claude Lanzmann „soeben mit Der Letzte der Ungerechten in gewisser Weise seinen (Über-)Lebensfilm Shoa zu Ende geführt. [...] Ich bin im Gegensatz zu Lanzmann der Nachfahre der Täter. In meiner Familie wurde nicht die Hälfte umgebracht, sondern ich habe die Großeltern, bei denen die Ahnenpässe herumliegen und die sich damals eines jeden Gesprächs verweigert haben.“ Shoa sei „in seiner Zeit der richtige Film und die richtige Herangehensweise“ gewesen und habe ihn sehr beeindruckt. Lanzmanns Film habe jenen, die den Holocaust leugneten, Zeitzeugen entgegengesetzt. „Genauso glaube ich aber, dass man jetzt einen anderen Zugang finden muss, weil die Zeitzeugen nicht mehr da sind, andererseits aber auch das Publikum ein anderes ist.“ Die heutigen Österreicher seien aber nicht mehr die Täter, sondern deren Erben. „Man muss eine nachgeborene Generation einladen, sich für diese Dinge zu interessieren. Meine 16-jährige Tochter zum Beispiel ist mehr als 50 Jahre nach Ende des Zweiten Weltkriegs geboren. Das ist länger, als ich nach Ende des Ersten Weltkriegs geboren bin. Daran kann ich ermessen, wie weit weg dieses Thema für sie sein muss.“ [4]

Ruzowitzky interessiert an der Nazizeit besonders die Motivation der Täter: „Warum haben die das gemacht? Was ist damals in dieser Gesellschaft falsch gelaufen? Wie konnte sie so in die Hölle abgleiten? Es geht nicht mehr darum, irgendwelche Täter physisch festzumachen.“ Der Film sei daher eher „Funktionsbeschreibung unter der besonderen Berücksichtigung von politischer Bildung und Zivilcourage“ als historische Dokumentation. Für die Gegenwart könne man aus der Diskriminierung der Opfer lernen: „Man darf nicht aufgrund seiner Herkunft vorbestimmt werden. Es gibt ein starkes Problembewusstsein dafür, dass man Menschen nicht in Schubladen stecken oder gar als minderwertig betrachten darf. Aber es gibt immer eine Tendenz von der rechtspopulistischen Seite, solche Ressentiments zu nutzen. Man kann mit einer Sündenbock-Strategie leider immer noch gut Politik machen. Aber man kann sich nicht auf den Standpunkt zurückziehen, dass man nicht weiß, welche Ausmaße das annehmen kann. Wir sind als Gesellschaft gewarnt.“[5]

Rezensionen

Stefan Grissemann weist auf die generelle Schwierigigkeit der filmischen Umsetzung der Thematik hin, an der auch Ruzowitzky scheitere: Wer die „mörderischen Abgründe auszuloten [versucht], die sich unter Druck in, wie man gerne sagt, ‚ganz normalen Menschen‘ auftun, wagt sich an eine der psychologisch und ästhetisch schwierigsten Aufgaben, die das Kino bietet. Denn auf die Fragen, die dieser Themenkomplex stellt, gibt es keine einfachen Antworten, und fast alle Bilder, die man dazu finden kann, sind auf die eine oder andere Weise kontaminiert – weil sie entweder obszön oder banal, ausbeuterisch oder nichtssagend sind. Auch ‚Das radikal Böse‘ zeugt sehr deutlich von diesem Problem: [...] Ruzowitzkys Neigung zum ‚traumatischen‘, aber vereinfachenden Bild (der Nazi-Propagandafilm ‚Der ewige Jude‘ wird als Blitzlichtgewitter auf die Gesichter der Jungsoldaten projiziert, und vor dem ersten Massaker blickt man in schwer atmende, verzerrte Gesichter) hält den Erkenntniswert seiner Ergebnisse gering. Und die stets präsente Tapete aus dunkel pulsierender elektronischer Musik, komponiert von Patrick Pulsinger, begleitet und berieselt cool die Bilder, aber sie tut diesen ebenso wenig Gutes wie die illustrativen Schussgeräusche, die der Regisseur zu den historischen Massakern synchronisiert: Die Logik des Spielfilms beherrscht dieses ‚Nonfiction-Drama‘.“[8]

Michel Winde sieht dagegen gerade die cineastische Umsetzung als gelungen an: „‚Das radikal Böse‘ zeichnet sich durch eine verstörende Dualität aus. Sie findet sich insbesondere in der Kluft zwischen Sehen und Hören. Das Auge sieht Allerwelts-Gesichter, gespielt von Laien-Darstellern. Durch das Stilmittel der Handkamera ist man mitten unter ihnen. Gleichzeitig tönen Original-Zitate aus Briefen, Tagebüchern und Gerichtsprotokollen aus dem Off, in denen die Täter ihr Handeln erklären – und ihrer Familie liebevolle Väter und Ehemänner sind. [...] Es ist ein großer Verdienst des Films, dass er den Zuschauer dennoch nicht ratlos [zurück lässt]. Denn ‚Das radikal Böse‘ ist kein Geschichts-Film im eigentlichen Sinne. Er weist in die Zukunft – vor allem in seiner Warnung, dass jedem Völkermord Rassismus vorausgeht.“[7]

Volker Behrens konstatiert: „Ein Wohlfühl-Film ist ‚Das radikal Böse‘ natürlich nicht, aber er birgt Diskussionspotenzial.“[5]

Susan Christely meint, dass der Film „uns unsere Verantwortung bewusst [macht] – die jedes einzelnen und die der Gesellschaft, nie wieder Umstände zuzulassen, in denen Massenmord selbstverständlich wird“.[6]

Alexandra Zawia resümiert: „Und jene Deutsche, die während des Zweiten Weltkriegs als Mitglieder der Einsatzgruppen in Osteuropa systematisch zwei Millionen Juden erschossen, waren eben keine Monster. Es waren normale Männer. Warum sie diesen Völkermord dennoch begingen, bereitet Stefan Ruzowitzkys (52) neuer Film [...] beeindruckend auf. [...] So verlockend die Monster-Annahme auch sein mag, so katastrophal wäre es, ihr zu verfallen. Denn sie negiert die Verantwortung der Handelnden.“[4]

Die Jury der FBW hält den Film für „besonders wertvoll“: „Ruzowitzky gelingt es, mit diesen verschiedenen stilistischen Mitteln genügend Abstand zu den ungeheuerlichen Taten zu halten, um sie auf einer eher intellektuellen Ebene zu bearbeiteten. Er will nicht urteilen, sondern verstehen, und aus dieser Sichtweise ermöglicht sein Film viele existentielle Einsichten. So etwa jene, dass das radikal Böse nicht unmenschlich, sondern uns eigen ist, aber auch die, dass der einzelne immer eine moralische Entscheidung trifft. Einige haben sich geweigert zu schießen – und auch sie waren ganz normale Männer.“[9]

Weblinks

Einzelnachweise

  1. Freigabebescheinigung der FSK, abgerufen 11. Januar 2014
  2. Programm der Internationalen Hofer Filmtage 2013: Das radikal Böse / Radical evil In: www.hofer-filmtage.com (abgerufen am 12. Januar 2014).
  3. Offizielle Website: Das radikal Böse
  4. 4,0 4,1 4,2 4,3 Interview mit Stefan Ruzowitzky von Alexandra Zawia: Stefan Ruzowitzky - "Wir, das Ergebnis von Mitläufern" In: wienerzeitung.at vom 10. Januar 2014.
  5. 5,0 5,1 5,2 Volker Behrens: "Das radikal Böse" - Suche nach den Abgründen des Lebens In: abendblatt.de vom 10. Januar 2014.
  6. 6,0 6,1 Susan Christely: Lust am Töten –Stefan Ruzowitzkys Film „Das radikal Böse“. In: 3sat.de vom 7. Januar 2014.
  7. 7,0 7,1 Michel Winde: Wie junge Männer zu Mördern wurden In: wz-newsline.de vom 9. Januar 2014.
  8. Stefan Grissemann: Stefan Ruzowitzkys „Das radikal Böse“: Die Logik des Spiels In: profil.at vom 7. Januar 2014.
  9. Begründung der FBW-Jury für die Verleihung des Prädikats „besonders wertvoll“: Das radikal Böse In: fbw-filmbewertung.com, abgerufen am 12. Januar 2014.
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