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Claire Ungar

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Claire Ungar

Claire Ungar (Claire Ungar-Abisch; geb. 1922 in Berlin; gest. 2013 in Basel), Verlegerin, sie war die letzte Vertreterin einer Verlegergeneration, die die jüdische Emanzipation und das Bekenntnis zur Tradition vereinte sowie den Journalismus für die jüdische Gemeinschaft öffnete.

Claire Ungar-Abisch stammte mitten aus dem jüdischen Sprach- und Denkzentrum Berlin. Bis zuletzt blieben ihr wacher Geist, die spitze Feder und eine unverkennbar klare Sprache charakteristisch und begleiteten sie durch ein ganzes Leben. Ebenso wie ein tief verwurzeltes jüdisches Selbstbewusstsein, das für Claire Ungar nicht Abschottung, sondern Offenheit bedeutete mit aller Sensibilität für den rauen Wind, der da entgegenwehen konnte. Sie wusste ihm zu begegnen mit erschlagenden, pointierten Antworten, die nie Rhetorik, sondern immer schlicht den Kern Wahrheit in sich trugen, der Claire Ungar so authentisch sein liess.

Leben

Von Berlin nach Basel

Am 16. März 1922 wurde sie in Berlin geboren. «Es war das Berlin der Inflation. 100 Gramm Butter kosteten zwei Millionen Mark, und Brot gab es kaum zu kaufen», sagte sie in einem Gespräch im Jahr 2012. Sie sprach Baseldeutsch, doch immer noch wie eine Berlinerin. Direkt, scharfzüngig, klar. Aufgewachsen in einer religiös-traditionellen Familie – nicht typisch für das damalige Berlin –, mit der ihr Vater ein Möbelgeschäft führte. Die Abischs waren eine gutbürgerliche Familie. «Ich lebte in einer behüteten Welt, in der ich nie mit nichtjüdischen Kindern zusammengekommen bin.» Das änderte sich 1937. Claire Ungar erinnerte sich: «Da nahm alles seinen Anfang. Freunde und Mitarbeiter waren plötzlich nicht mehr da. Herr Rosenbaum und seine Frau, unsere Lehrer, ahnten offenbar, was kommen würde – sie gingen einfach beide ins Wasser. Sie wollten nicht weg, wussten aber, dass es keine Zukunft geben würde.» Claire Ungars Eltern entschieden sich zur Emigration über Italien in die Schweiz. Die Kriegsjahre in Basel waren schwer. Die junge Claire Ungar wohnte im Mädchenheim, arbeitete in einem jüdischen Kindergarten. Ihr Bruder ging aufs Gymnasium. Der Vater begann für die Zeitschrift des Sportvereins Maccabi zu arbeiten. Bald kam der Vorschlag für eine zweite Zeitung. «Mein Vater wusste, dass zwei Zeitungen nicht überleben könnten.» So kaufte er die eine und nach dem Krieg entstand daraus die Wochenzeitung «Jüdische Rundschau Maccabi». Mit ihrem Mann begründete sie den Aufstieg der Zeitung, die mit der Holocaust-Debatte nach über 50 Jahren in finanzielle Bedrängnis kam, saniert wurde und dann den Auftakt zum Verlag JM Jüdische Medien AG, Herausgeberin von tachles, gab.

Scharfsinn an der Schreibmaschine

Jahrzehntelang begrüsste Claire Ungar Besucher in den Verlags- und Redaktionsstuben. Begrüssen wäre zu viel gesagt: Sie nahm Notiz von ihnen, tippte weiter in die mechanische Schreibmaschine. Claire Ungar war stets als erste im Büro. Sie leitete mit ihrem Mann Heinrich Ungar den Verlag der «Jüdischen Rundschau». Sie erlebte den Aufstieg der jüdischen Presse und vermochte nach ihrer Emigration aus Berlin in Basel eine neue Heimat zu finden. Basel wurde zum Zentrum ihrer Familie und ihrer Arbeit. Keine einfach Arbeit, gerade in einer jüdischen Gemeinschaft, die sich nach der Katastrophe gerade auch in der Schweiz neu finden musste. Heinrich Ungar war Flüchtling, interniert im Arbeitslager. Claire Ungar kam aus Deutschland. Es war die Zeit, als Emigranten sich in einer alteingesessenen jüdischen Schweizer Gemeinschaft integrieren und emanzipieren, als sie in eine für viele ungewisse Zukunft aufbrechen mussten.

Der Historiker und Judaist Ernst Ludwig Ehrlich blickte im Jahre 2001 auf die Zeitung zurück, mit der er weit über die familiäre Freundschaft verbunden war aufgrund der von ihm immer wieder hervorgehobenen pluralistischen Ausrichtung der unabhängigen europäischen Wochenzeitung: «Die Redaktion der ‹Rundschau› hatte stets den Mut, auch eigene Auffassungen auszudrücken, die zumindest einem Teil der Schweizer Judenheit missfallen mussten. Worum es einer jüdischen Zeitung gehen muss – und hier war die ‹Rundschau› meist vorbildlich – ist eine klare Linie und kein jüdisches Allerlei. Die ‹Rundschau› war meinungsbildend, gelegentlich kritisch, aber nie destruktiv. So hofft Yves Kugelmann, dass der Geist der ‹Jüdischen Rundschau› in der neuen Zeitung weiterlebt, und die heutige tachles-Redaktion gedenkt in Dankbarkeit derer, die heute nicht mehr leben und die ‹Rundschau› entwickelten zu dem, was sie heute ist – Adrien Blum, Otto Abisch, Heinrich Ungar und schliesslich Dr. Leo Abisch, der über Jahrzehnte hinaus Kugelmanns Freund war und viel zu früh starb.» Claire Ungars Bruder Leo war mit seiner Schwester wichtig für diese Offenheit der redaktionellen Plattformen auch in schwierigen Zeiten. Er war Mentor für Redaktionen und unternehmerisches Rückgrat. Fast immer waren Zeitungen auf wirtschaftliche Unterstützung von aussen angewiesen.

Unabhängigkeit und Offenheit

Doch so sehr die Zeitungsarbeit im Zentrum der Familie stand, blieben die Kriegsjahre doch prägend für Claire Ungar: «Die eigenen Leute, die Schweizer Juden, wollten uns eigentlich gar nicht haben.» Immer wieder schildert Ungar, wie jüdische Einwanderer etwa in Flüchtlingsstuben behandelt wurden. Ihr Mann Heinrich arbeitete im Arbeitslager Bad Schauenburg als Strassenbauer. 1944 haben die beiden geheiratet. «Zum ersten Mal sah ich Heini, als ich mit einer Freundin aus dem Fenster schaute. Er lief unten durch und fragte, ob ich mit ihm spazieren gehen wolle.» Ein Spaziergang, aus dem eine Familie mit drei Kindern und eine lange glückliche Ehe bis zum Tod von Heinrich Ungar im Jahre 2000 wurde.

Bewusst und früh entschieden sich Ungars für die Unabhängigkeit der Zeitung. Selbst Mitglied in der orthodoxen Gemeinde Israelitische Religionsgesellschaft Basel, sollte dies in Familie und Verlag für permanente Diskussionen sorgen: «Es war ein Spagat. Wir hatten ja immer junge Leute in die Redaktionen geholt, ausgebildet und gefördert. Diese mussten dann viele Kämpfe mit meinem Mann bestehen.» Einer der Jungen war auch Sohn Jacques. Er arbeitet bis heute und seit den siebziger Jahren für den Verlag und leitete diesen später, stand ebenso für die Öffnung und Modernisierung des Verlags.

Heimat und Familie

Claire Ungar blickte zufrieden auf ihr Leben, die zehn Enkel und 25 Urenkel in der Schweiz und Israel: «Wir wurden einst nicht mit offenen Armen empfangen. Doch ich habe hier viele Freunde gefunden und heute bin ich hier zu Hause». Bis in die letzten Monate blickte sie zuversichtlich in die Zukunft. Immer auch die kritische Schlagfertigkeit auf der Zunge und mit Klarsicht in der Beurteilung der Zeit und der Entwicklungen: «Das eine oder andere ist nichts für die Zeitung. Das bespreche ich mit meinen Freundinnen, die ich täglich treffe.» Und in diesem privaten Rahmen unterstützte sie viele Menschen und war auf Ausgleich bedacht, schlichtete oft zwischen Familien und Freunden, galt als Instanz.

Diese Klarsicht hatte sie auch in ihren letzten Tagen der Krankheit. Körperlich gezeichnet, behielt Claire Ungar im Blick, was um sie herum geschah, und kommentierte pointiert. Und so war auch ihr letzter Satz typisch für jemanden, der in Wort und Sprache immer erfassen konnte, was ist – zwischen den Zeilen und gleichsam direkt ausgesprochen. Nach dem Nachmittags-Tee am Schabbat (14. Dezember 2013) und nach Tagen im Kreise der ganzen Familie zog sie sich zurück mit den Worten: «So. Jetzt gehe ich sterben.»

Claire Ungar wurde auf dem Israelitischen Friedhof Basel bestattet.

Hinweis

Dieser Jewiki-Artikel entspricht weitestgehend dem in tachles, Ausgabe vom 20. Dezember 2013, Seite 26-27, abgedruckten Nachruf: Judentum, Sprache und Emanzipation. Zum Tod von Claire Ungar (Autor: Yves Kugelmann)

Dieser Artikel / Artikelstub / diese Liste wurde in Jewiki verfasst und steht unter der Lizenz Creative Commons CC-BY-SA 3.0 Unported. Hauptautor des Artikels (siehe Autorenliste) war Michael Kühntopf. Weitere Artikel, an denen dieser Autor / diese Autorin maßgeblich beteiligt war: 2.655 Artikel (davon 1.531 in Jewiki angelegt und 1.124 aus Wikipedia übernommen). Bitte beachten Sie die Hinweise auf der Seite Jewiki:Statistik.