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Asoziale (Nationalsozialismus)

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Der schwarze Winkel war das Kennzeichen der „Asozialen“ in den Konzentrationslagern.

Die Fremdbezeichnung „Asoziale“ (Kompositum aus α privativum und lat. socius „gemeinsam, verbunden, verbündet“, s. a. Asozialität) im NS-Sprachgebrauch disqualifiziert Individuen oder soziale Gruppen – in der Regel aus den Unterschichten – als unfähig oder unwillig zur geforderten Einordnung in eine imaginär als „Kollektiv“ konstruierte soziale Gemeinschaft.[1] In der Zeit des Nationalsozialismus war der Begriff „Asoziale“ eine übliche Sammelbezeichnung für als „minderwertig“ bezeichnete Menschen aus den sozialen Unterschichten („Ballastexistenzen“), die nach NS-Auffassung sozialen Randgruppen zugehörten oder schwere Leistungs- und Anpassungsdefizite aufzuweisen hätten. Menschen und Menschengruppen wurden so als Ressourcen verbrauchende „Schädlinge“ und „unnütze Esser“ etikettiert, für die die als „gutwillig“ und „fleißig“ bezeichnete Mehrheit der „Volksgemeinschaft“ zu ihrem Nachteil aufkommen müsse.

Zeit des Nationalsozialismus

„Asoziale“ und „Lumpenproletariat“

Anders als der Begriff Lumpenproletariat, wie er in abschätzigem Sinn von Karl Marx geprägt und von der organisierten Arbeiterbewegung zur Bezeichnung subproletarischer Gruppen (also als soziale Kategorie) übernommen wurde, hatte asozial einen völkisch-rassischen, erbbiologischen Inhalt. Das gilt auch für „Lumpenproletariat“, wenn es synonym gelegentlich von NS-Ideologen und „Asozialen“-Forschern verwendet wurde.

Ein NS-Synonym, das „Asoziale“ ablöste, war „Gemeinschaftsfremde“.[2] Ein „Gemeinschaftsfremden-Gesetz“ gegen marginalisierte Sozialgruppen war geplant und in Vorbereitung, wurde aber durch die Niederlage des NS-Regimes 1945 verhindert[3]

Diskriminierte Gruppen

Rasseideologen – wie beispielsweise Robert Ritter, Hans F. K. Günther und Sophie Ehrhardt – postulierten einen so genannten „volkshygienischen“ Standpunkt, mit dem zahlreiche Menschen als „unerwünscht“ und „asozialer Abschaum“ gebrandmarkt wurden. Dazu zählten vor allem soziale Minderheiten wie Obdachlose, Wanderarbeiter, „selbstverschuldete Fürsorgeempfänger“, Bettler, Landstreicher, kinderreiche Familien aus den sozialen Unterschichten, Familien aus Quartieren an den Stadträndern, „nach Zigeunerart herumziehende Landfahrer“, darunter viele Jenische, angeblich „Arbeitsscheue“, Alkoholiker, „getarnt Schwachsinnige“, Prostituierte sowie Zuhälter. „Unter den als asozial Verhafteten [gab es] auch genug Leute, denen nichts anderes vorzuwerfen war, als daß sie etwa zweimal zur Arbeit zu spät gekommen waren oder unberechtigt Urlaub genommen, ohne Genehmigung des Arbeitsamtes den Arbeitsplatz gewechselt, ihr nationalsozialistisches Dienstmädchen ‚schlecht behandelt‘, als Eintänzer ihr Brot verdient hatten, und was dergleichen ‚Vergehen‘ mehr waren.“[4] Weiterhin zählten zu den 'Asozialen' „Frauen, die sich in irgendeiner Form nicht in den NS-Staat einfügten, beispielsweise den Bund Deutscher Mädels ablehnten oder nicht zum Reichsarbeitsdienst gingen“.[5] Die Kategorien überschnitten sich. Mittels massiver nationalsozialistischer Propaganda verbreitete sich so die Vorstellung, dass die faktische Diskriminierung einem „gesunden Volksempfinden“ entsprechen würde.

Roma, in nationalsozialistischer Terminologie „Zigeuner“ (mit den beiden Subgruppen der „stammechten Zigeuner“ und „Zigeunermischlinge“), galten als geborene „fremdrassige Asoziale“.

Anordnung zur Erfassung und Bekämpfung der Gemeinschaftsunfähigen (Asozialen) 1943, Erlass Nr. 235 des Reichsstatthalters in der Steiermark, Sigfried Uiberreither

„Verwahrung“ und „Umerziehung“

Bei der Eröffnung des Konzentrationslagers Dachau im März 1933 wurde noch behauptet, dass dort Personen lediglich in Verwahrung genommen werden, die „die Sicherheit des Staates gefährdeten“. Kurz danach wurden jedoch die Konzentrationslager als Stätten der „Umerziehung“ von „Verbrechern“ immer stärker betont, sodass sämtliche politischen Gegner und wahrgenommenen Feinde des NS-Staates öffentlich und nachhaltig als „Kriminelle“ diskriminiert wurden.[6] In Bremen wurde 1936 die Wohnungsfürsorgeanstalt Hashude eingerichtet, die die Stadt von Bettlern und "Asozialen" frei machen sollte. 1940 wurde sie geschlossen, weil sie nicht den gewünschten Erfolge hatte.

NS-Grunderlass von 1937

Gemäß dem Grunderlass zur „Vorbeugenden Verbrechensbekämpfung“ vom 14. Dezember 1937 konnte, wer „ohne Berufs- und Gewohnheitsverbrecher zu sein, durch sein asoziales Verhalten die Allgemeinheit gefährdet“, im Zuge kriminalpolizeilicher „ Vorbeugehaft“ in ein Konzentrationslager eingewiesen werden.[7] Die Entscheidung, ob ein „gemeinschaftswidriges Verhalten“ vorlag, lag dabei allein bei den Ordnungs- und Polizeibehörden.[6] Im Rahmen der Aktion „Arbeitsscheu Reich“ kam es im Frühjahr und Sommer 1938 zu Verhaftungswellen. Mehr als 10.000 Juden, Roma und Sinti und „deutschblütige Asoziale“ wurden in Konzentrationslager verschleppt, davon 6.000 im Juli 1938 in das KZ Sachsenhausen. Sie wurden in den Lagern mit einem schwarzen Winkel auf der Häftlingskleidung markiert.

„Vernichtung durch Arbeit“

In der zweiten Jahreshälfte 1942 gewann eine Strömung in der NS-Führung an Einfluss, die in der „Asozialenfrage“ feinere völkische und rassische Differenzierungen einschließlich der sich daraus ergebenden Vernichtungs- beziehungsweise Schonungsentscheidungen ablehnte. So erklärte Joseph Goebbels dem Reichsjustizminister Otto Thierack im September 1942 zur „Vernichtung asozialen Lebens“, es seien „Juden und Zigeuner schlechthin, Polen, die etwa 3–4 Jahre Zuchthaus zu verbüßen hätten, Tschechen und Deutsche, die zum Tode, lebenslangem Zuchthaus oder Sicherungsverwahrung verurteilt“ seien, zu „vernichten“. Der „Gedanke der Vernichtung durch Arbeit“ sei „der beste“. Einige Tage später vereinbarten Himmler und Thierack die „Auslieferung asozialer Elemente aus dem Strafvollzug an den Reichsführer SS zur Vernichtung durch Arbeit“. Alle „Sicherungsverwahrten, Juden, Zigeuner, Russen und Ukrainer“, ferner Polen mit einer Strafe über drei Jahren sollten demnach „restlos“, „Tschechen oder Deutsche über 8 Jahre Strafe nach Entscheidung des Reichsjustizministers“ ausgeliefert werden. Thierack teilte dies im Oktober 1942 dem Leiter der Reichskanzlei, Bormann, mit, der seinerseits Hitler informierte, der ausdrücklich zustimmte.[8]

Wirkungsgeschichte

Nachhaltige Stereotype

Auch nach 1945 blieb der Begriff mit den dahinter befindlichen Vorstellungskomplexen („zu faul zu arbeiten“, „können sich nicht anpassen“) Bestandteil des stereotypen Alltagsdenkens der deutschen öffentlichen Meinung. „Asoziale“ wurden als NS-Verfolgte selbst von anderen NS-Verfolgten nicht anerkannt. In der DDR setzte sich diese Tradition im § 249 des StGB „Gefährdung der öffentlichen Ordnung durch asoziales Verhalten“ fort. Wer hiernach verurteilt wurde, kam ins Arbeitserziehungslager und später (ab 1977) in Haft.

Entschädigungen

Von einer ernsthaften Anerkennung und materiellen Entschädigung kann selbst im Fall der nach langen Auseinandersetzungen als „rassisch verfolgt“ anerkannten Roma und Sinti nicht die Rede sein, geschweige denn bei anderen Gruppen. Die Diskriminierung wurde unbeeindruckt durch die vorausgegangenen Ereignisse politisch, entschädigungsrechtlich und im populären Verständnis fortgeführt.

Siehe auch

Literatur

NS-Quellentexte
  • Irmgard Andrees: Untersuchungen über eine asoziale Sippe in Münster (Westf.). In: Der Öffentliche Gesundheitsdienst. Zeitschrift des Reichsausschusses für Volksgesundheitsdienst, der Staatsakademie des Öffentlichen Gesundheitsdienstes Berlin und der Wissenschaftlichen Gesellschaft der deutschen Ärzte des öffentlichen Gesundheitsdienstes. Ausgabe A, 5, H. 3, 1939, ZDB-ID 216948-4, S. 81–101.
  • Fred Dubitscher: Asoziale Sippen. Erb- und sozialbiologische Untersuchungen. Georg Thieme, Leipzig 1942
  • Fred Dubitscher: Der Schwachsinn. Sammelwerk: Handbuch der Erbkrankheiten, Bd. 1. Hg. des Gesamtwerks Arthur Gütt. Thieme, Leipzig 1937 (passim)
  • Eine „Familie Kallikak“ in Deutschland. In: Völkischer Wille. Kampfblatt für Bevölkerungspolitik und Familie. Nr. 46, 1935, ZDB-ID 717052-x.
  • Albert Friehe: Was muß der Nationalsozialist von der Vererbung wissen? Die Grundlagen der Vererbung und ihre Bedeutung für Mensch, Volk und Staat. Diesterweg, Frankfurt 1934
  • Heinrich Wilhelm Kranz, Siegfried Koller: Die Gemeinschaftsunfähigen. Ein Beitrag zur wissenschaftlichen und praktischen Lösung des sogenannten „Asozialenproblems“. 2 Teile. Verlag K. Christ, Gießen 1939–1941.
  • Wilhelm Langenbach: Die Gefahr der Asozialen. Mit einer Stammtafel. In: Volk und Rasse. Illustrierte Monatsschrift für deutsches Volkstum, Rassenkunde, Rassenpflege. Zeitschrift des Reichsausschusses für Volksgesundheitsdienst und die Deutsche Gesellschaft für Rassehygiene. H. 1, 1939, ZDB-ID 201180-3, S. 15–19.
  • Robert Ritter: Die Aufgaben der Kriminalbiologie und der kriminalbiologischen Bevölkerungsforschung in Deutschland. In: Kriminalistik. 15, 1941, ZDB-ID 206468-6, S. 38–41.
Forschungsliteratur
  • Wolfgang Ayaß: „Asoziale“ im Nationalsozialismus. Klett-Cotta, Stuttgart 1995, ISBN 3-608-91704-7.
  • Wolfgang Ayaß: „Gemeinschaftsfremde“. Quellen zur Verfolgung von „Asozialen“ 1933–1945. Koblenz 1998.
  • Wolfgang Benz (Hrsg.): Legenden, Lügen, Vorurteile. Ein Wörterbuch zur Zeitgeschichte. 8. Auflage (Sonderauflage), Deutscher Taschenbuch-Verlag, München 1996, ISBN 3-423-04666-X (dtv 4666).
  • Thomas Irmer, Barbara Reischel, Kaspar Nürnberg: Das Städtische Arbeits- und Bewahrungshaus Rummelsburg. Zur Geschichte eines vergessenen Ortes der Verfolgung von „Asozialen in der NS-Zeit“. In: Gedenkstättenrundbrief. Nr. 144, 8, 2008, ZDB-ID 1195828-5, S. 22–31.
  • Jens Kolata: Zwischen Sozialdisziplinierung und "Rassenhygiene". Die Verfolgung von "Asozialen", "Arbeitsscheuen", "Swingjugend" und Sinti, in: Ingrid Bauz, Sigrid Brüggemann, Roland Maier (Hg.): Die Geheime Staatspolizei in Württemberg und Hohenzollern, Stuttgart Schmetterling-Verlag 2013, ISBN 3-89657-138-9, S. 321-337.
  • Klaus Scherer: „Asozial“ im Dritten Reich. Die vergessenen Verfolgten. Votum-Verlag, Münster 1990, ISBN 3-926549-25-4.
  • Christa Schikorra: Kontinuitäten der Ausgrenzung. „Asoziale“ Häftlinge im Frauen-Konzentrationslager Ravensbrück. Metropol, Berlin 2001, ISBN 3-932482-60-3 (Reihe Dokumente, Texte, Materialien 41), (Zugleich: Berlin, Techn. Univ., Diss., 2000), Rezension.
  • Dietmar Sedlaczek u. a. (Hrsg.): „minderwertig“ und „asozial“. Stationen der Verfolgung gesellschaftlicher Außenseiter. Chronos, Zürich 2005, ISBN 3-0340-0716-7.
  • Thomas Roth: Von den „Antisozialen“ zu den „Asozialen“. Ideologie und Struktur kriminalpolizeilicher „Verbrechensbekämpfung“ im Nationalsozialismus. In: Dietmar Sedlaczek u. a. (Hrsg.): „minderwertig“ und „asozial“. Stationen der Verfolgung gesellschaftlicher Außenseiter. Chronos, Zürich 2005, ISBN 3-0340-0716-7, S. 65–88.

Weblinks

Einzelnachweise

  1. Wolfgang Müller-Funk / Hans Ulrich Reck (Hrsg.): Inszenierte Imagination. Beiträge zu einer historischen Anthropologie der Medien, Wien / New York 1996, ISBN 3-211-82772-2; Cornelius Castoriadis: Gesellschaft als imaginäre Institution. Entwurf einer politischen Philosophie, Frankfurt a. M. 1990, ISBN 3-518-28467-3.
  2. Vgl. dazu Wolfgang Ayaß: „Demnach ist zum Beispiel asozial…“ Zur Sprache sozialer Ausgrenzung im Nationalsozialismus, in: Beiträge zur Geschichte des Nationalsozialismus 28 (2012), S. 69–89.
  3. Arendt, Hannah: Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft, München 1986, ISBN 3-492-21032-5, S. 853
  4. Eugen Kogon: Der SS-Staat, Verlag Karl Alber, München 1946, S. 15.
  5. Robert Sommer im Interview mit Franziska von Kempis: Himmlers KZ-Bordelle – "Die verfluchten Stunden am Abend". In: Süddeutsche Zeitung, 19. Juni 2009.
  6. 6,0 6,1 Barbara Distel: „Asoziale und Berufsverbrecher“. In: Wolfgang Benz (Hrsg.): Legenden, Lügen, Vorurteile. Ein Wörterbuch zur Zeitgeschichte, 5. Aufl., München 1992, ISBN 3-423-03295-2, S. 29–31.
  7. Abgedruckt bei Wolfgang Ayaß (Bearb.), „Gemeinschaftsfremde“. Quellen zur Verfolgung von „Asozialen“ 1933–1945, Koblenz 1998, Nr. 50.
  8. Michael Zimmermann, Rassenutopie und Genozid. Die nationalsozialistische „Lösung der Zigeunerfrage“, Hamburg 1996, S. 300.
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