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Aníbal Quijano

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Aníbal Quijano Obregón (* 1928 in Yanama, Provinz Yungay; † 31. Mai 2018[1]) war ein peruanischer Soziologe. Seine Arbeiten über die weltweiten Auswirkungen eurozentristischer Denkmuster führten zu einem Konzept der „Kolonialität der Macht“ (Colonialidad del Poder).

Leben

Die Schulausbildung schloss Quijano im Colegio Nacional Santa Inés in Yungay ab. Danach begann er in Lima an der Universidad Nacional Mayor de San Marcos (UNMSM) zu studieren und erhielt da einen Bachelor. Seinen Master erlangte er nach der Fortsetzung des Studiums an der Facultad Latinoamericana de Ciencias Sociales (FLACSO) in Santiago de Chile, einer UNESCO-Einrichtung in Lateinamerika. 1964 promovierte er an der Facultad de Letras seiner Heimatuniversität, der UNMSM.[2]

Zwischen 1966 und 1971 war Quijano in Santiago de Chile als Forschungsdirektor des Programms „Erforschung der Urbanisierung und Ausgrenzung“ in der Abteilung für Sozialordnung der UN-Kommission CEPAL tätig. Im Zentrum der dort vorgenommenen Arbeiten standen Aspekte der Ausgrenzung eines wachsenden Bevölkerungsanteils aus regulären ökonomischen Zusammenhängen.[2][3] Kritische Betrachtung fanden dabei Handlungsperspektiven des Freihandels, die als Ursache einer rasanten Entwicklung des informellen Sektors in Lateinamerika erkannt wurden und in wechselseitiger Abhängigkeit stehen.[4]

Quijano war Gründer des Zentrums für Sozialforschung von Peru (Centro de Investigações Sociais do Peru) an der Universidade de San Marcos in Lima.[5] Im Jahre 2010 richtete die Universidad Ricardo Palma für ihn einen Lehrstuhl mit der Bezeichnung „Lateinamerika und die Kolonialität der Macht“ ein.[6]

Im Verlauf seiner wissenschaftlichen Laufbahn hatte Quijano an mehreren lateinamerikanischen Universitäten Forschungsprofessuren inne und war an europäischen sowie nordamerikanischen Universitäten als Gastprofessor lehrend tätig. Im Zentrum des wissenschaftlichen Wirkens von Quijano standen volkswirtschaftliche Betrachtungen in gesamtgesellschaftlichen Umfeldbedingungen sowie in Bezug auf soziale Bewegungen. Einen wichtigen Raum nahmen dabei Untersuchungen zum kritischen bzw. konfliktgeladenen Verhältnis zwischen Akteuren eines gesellschaftlichen Wandels und modernen Imperialismusstrukturen sowie damit in Verbindung stehenden Dependenzfaktoren ein.[2] Quijano analysierte die dabei sich auf diesem Gebiet vollziehenden Prozesse als Vorgänge der Dekolonisation mit dem Hintergrund eurozentristischer Motivlagen.[6]

Im eurozentristischen Anspruch auf die ausschließliche Urheberschaft der Moderne erkennt Quijano eine ethnozentrische Behauptung, die er als provinziell einordnet. Das Weltbild in der Kategorie von Orient-Okzident tritt spät ein und ist seines Schlusses nach ein Bestandteil britischer Hegemonie. Als ein Merkmal dieser geographischen Perspektive auf Geschichte und Kultur gilt für ihn beispielhaft die Erschaffung des Nullmeridians mit dem Greenwich-Observatorium in London, und eben nicht in Sevilla oder Venedig.[7]

„Verteidiger des europäischen Anspruchs auf die Moderne berufen sich gewöhnlich auf die kulturelle Geschichte der alten hellenisch-römischen Welt und auf die Welt des Mittelmeers vor der Existenz Amerikas, um ihren exklusiven Anspruch darauf zu legitimieren. An diesem Argument ist kurios, dass es erstens unterschlägt, dass der tatsächlich entwickelte Teil dieser Welt des Mittelmeerraums islamisch-jüdisch war. Zweitens war es in dieser Welt, in der das griechisch-römische Erbe, die Städte, der Handel, die handelsorientierte Landwirtschaft, der Bergbau, das Textilhandwerk, die Philosophie und die Geschichte bewahrt wurden, während das zukünftige Westeuropa von Feudalismus und kulturellem Obskurantismus beherrscht war. [...]“

Aníbal Quijano: Kolonialität der Macht, Eurozentrismus und Lateinamerika. 2016, S. 50

Der von ihm geprägte Begriff zur „Kolonialität“ umfasst das divergente Machtverhältnis zwischen Kolonisierern und Kolonisierten, das mit dem Kolonialzeitalter begann und nach dessen Ende sich in sozio-ökonomischen Verhältnissen vielgestaltig fortsetzt.[8][9] Quijano untersuchte in seinen Arbeiten seit 1980 die Verflechtung von sozio-ökonomischen Herrschaftsstrukturen mit kulturellen Beziehungen, wofür er zunächst den Begriff „kulturelle Kolonialität“ prägte. Analogien bestehen zu den Arbeiten von Walter Mignolo und Enrique Dussel, sowie weiteren Teilnehmern an der lateinamerikanischen Forschungsgruppe Modernidad/Colonialidad (M/C). Aus diesem Kreis wird sein Konzept der Kolonialität der Macht inzwischen differenziert angewandt, so auf den Ebenen „Kolonialität des Wissens“ (Edgardo Lander) und „Kolonialität des Seins“ (Nelson Maldonado-Torres).[10]

Quijano vertritt die Auffassung, dass die Entwicklung Westeuropas zum Zentrum des modernen Weltsystems in einen einflussreichen Ethnozentrismus mündete, der allgemein ein gemeinsames Wesensmerkmal jeglicher kolonialer bzw. imperialer Herrschaften sei. Dabei geht er mit diesbezüglichen Erkenntnissen von Immanuel Wallerstein konform. Essentiell liege dem europäischen Ethnozentrismus eine „rassialisierte“ Klassifizierung der Weltbevölkerung zu Grunde und sie diene zu dessen universeller Rechtfertigung. Demnach beinhalte das europäische Selbstverständnis in seinen ökonomischen und kulturellen Machtmustern die Eigenwahrnehmung, wonach Europäer sich anderen Bevölkerungsgruppen nicht nur überlegen fühlen, sondern von einer naturgegebenen Überlegenheit ausgehen. Dieser ethnozentrischen Perspektive folgend, seien nach Quijano die Begriffsinhalte von Modernität und Rationalität ausschließlich durch europäische Erfahrungen und Erzeugnisse vorgegeben. Daraus entwickelten sich wechselseitig verschränkte und kodifizierte Fiktionen bezüglich der intersubjektiven und kulturellen Beziehungen, wie Orient-Okzident, primitiv-zivilisiert, irrational-rational, mythisch-wissenschaftlich, traditionell-modern, also ganz abstrakt die Konstruktion Europa versus Nicht-Europa. Letztendlich führe die menschliche Zivilisationsgeschichte aus einem frühen Naturzustand in die höchste erreichte gesellschaftliche Qualität, die sich zum Mythos „Europa“ imaginierte. Dieser Mythos verkörpere eine hegemoniale Wissensperspektive mit weltweiter Wirkung, ein Kernelement des Eurozentrismus.[11]

Feministische Ansätze kritisieren jedoch Quijano, da seine Analyse der Ideologie des globalen eurozentrischen Kapitalismus nicht weit genug gehen würde.[12]

Akademische Ehrungen

Ausgewählte Arbeiten

  • Urbanización y tendencias de cambio en la sociedad rural en Latinoamérica. In: Instituto de estudios peruanos (Lima). Documentos teóricos, 5, Lima 1967
  • Nationalism & capitalism in Peru: a study in neo-imperialism. Monthly Review Press, New York 1971 (3. Aufl.), ISBN 0-85345-246-6.
  • Nationalism & capitalism in Peru; a study in neo-imperialism. Monthly Review Press, New York 1971 (Übersetzung ins Englische von Helen R. Lane)
  • Problema agrario y movimientos campesinos. Lima 1971
  • Dependencia, urbanizacion y cambio social en América Latina. Lima 1977
  • Dominación y Cultura – Lo cholo y el conflicto cultural en el Perú. Lima 1980
  • Modernidad, ifentidad y utopía en América Latina. Lima 1988
  • Colonialidad del poder, eurocentrismo y América Latina. In: Edgardo Lander (Hrsg.): La colonialidad del saber: eurocentrismo y ciencias sociales. Perspectivas latinoamericanas. Buenos Aires 2000, S. 201–246
  • Des/colonialidad y bien vivir: un nuevo debate en América Latina. Lima 2014, ISBN 978-612-4234-13-2.
  • Kolonialität der Macht, Eurozentrismus und Lateinamerika. Wien/Berlin 2016, ISBN 978-3-85132-821-9. (Übersetzung ins Deutsche von Alke Jenss und Stefan Pimmer)

Einzelnachweise

  1. Falleció el sociólogo Aníbal Quijano, abgerufen am 31. Mai 2018
  2. 2,0 2,1 2,2 Centro de Estudos Sociais: Anibal Quijano, Curriculum vitae. auf www.ces.uc.pt (portugiesisch)
  3. Alexis Cortés: Aníbal Quijano: Marginalidad y urbanización dependiente en América Latina. In: Polis, Revista Latinoamericana, Volumen 16, Nr. 46, 2017, S. 221–238, online auf www.scielo.cl (spanisch)
  4. Aníbal Quijano: New light on the concepts of „private“ and „public“. In: CEPAL Review. United Nations, Santiago, Chile 1988, S. 105–120
  5. Instituto de Estudos Avançados da Universidade de São Paulo: Anibal Quijano Obregon. auf www.iea.usp.br (portugiesisch)
  6. 6,0 6,1 Universidad Ricardo Palma: Cátedra América Latina y la Colonialidad del Poder. auf www.urp.edu.pe (spanisch)
  7. Quijano: Kolonialität der Macht, Eurozentrismus und Lateinamerika. 2016, S. 50–51
  8. Maja Bächler, Julia Roth: Blicke auf den Film "Concerning Violence" aus dekolonialer Perspektive. auf www.bpb.de
  9. Elina Marmer, Papa Sow (Hrsg.): Wie Rassismus aus Schulbüchern spricht. Kritische Auseinandersetzung mit ›Afrika‹-Bildern und Schwarz-Weiß-Konstruktionen in der Schule. Leseprobe auf www.beltz.de ISBN 978-3-7799-3323-6, PDF-Dokument S. 8
  10. Pablo Quintero, Sebastian Garbe (Hrsg.): Kolonialität der Macht. De/Koloniale Konflikte: zwischen Theorie und Praxis. Münster 2013, ISBN 978-3-89771-650-6, S. 37.
  11. Quijano: Kolonialität der Macht, Eurozentrismus und Lateinamerika. 2016, S. 44–46
  12. Sabine Jarosch: The Marginal God. Potentiale und Grenzen des postkolonialen Gottesbildes der Theologin Marcella Althaus-Reid (Memento vom 24. April 2017 im Internet Archive). Rostock 2013, Studienarbeit, online auf www.ekd.de PDF-Dokument S. 21, 28.
  13. Universidade de Coimbra. Centro de Estudos Sociais: Anibal Quijano, Curriculum vitae. auf www.ces.uc.pt (portugiesisch)
  14. Cuba discute o bicentenaria da Independencia. auf www.theotoniodossantos.blogspot.de (spanisch)
  15. Universidad de Guadalajara: Doctorado Honoris Causa para Aníbal Quijano Obregón. www.vicerrectoria.udg.mx (spanisch)
  16. Semanario Universidad: UCR honra a dos sociólogos con doctorado honoris causa. auf www.semanariouniversidad.ucr.cr (spanisch)
  17. Sergio Villena Fiengo: Palabras en ocasión a la entrega del doctorado honoris causa a Aníbal Quijano Obregón. In: Anuario de Estudios Centroamericanos. Instituto de Investigaciones Sociales, Universidad de Costa Rica, 42, San José 2016, S. 465–481 ISSN 0377-7316 (online auf www.revistas.ucr.ac.cr Universidad de Costa Rica)
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