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Alphabetisierung (Lesefähigkeit)

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Datei:Stamps of Germany (DDR) 1990, MiNr 3353.jpg
Internationales Jahr der Alphabetisierung,
Briefmarke der DDR 1990

Als Alphabetisierung bezeichnet man den Prozess der Vermittlung der Lesefähigkeit sowie ggf. auch der Schreibfähigkeit, unabhängig davon, ob die erlernte Schrift eine alphabetische ist. Der Grad der Lese- oder Schreib- bzw. Schriftkompetenz einer Bevölkerung kann prozentual für einzelne Bevölkerungsschichten sowie teilweise auch für historische Epochen angegeben werden. Alphabetisierung gilt als Basisbildung.

Alphabetisierung in Europa

Im Römischen Reich einschließlich der Provinzen waren weite Teile der Bevölkerung alphabetisiert. Es existierte ein dreigliedriges staatliches Schulsystem, das auch einfache Bauern und Sklaven auf dem Land erfasste, sowie ein verbreitetes Bibliotheks- und Verlagswesen.[1] Mit dem Zerfall des römischen Reichs ging neben Schulen und Alphabetisierung auch das Gesamt der antiken Literatur fast vollständig verloren. Ein der Antike vergleichbares Niveau der Herstellung und Aneignung von Schrift wurde erst zum Ende des 18. Jahrhunderts wieder erreicht.

Im Mittelalter und zu Beginn der frühen Neuzeit war der Anteil der Lese- und Schreibkundigen gering und konzentrierte sich in den Städten sowie an den Höfen und im Klerus. Im 7. bis 13. Jahrhundert wurden überhaupt nur sehr wenige neue Titel verfasst. Den ersten wesentlichen Impuls zur nachhaltigen Alphabetisierung Europas lieferte die Medienrevolution des Gutenbergschen Buchdrucks, der die Grundlage für eine massenhafte und ökonomische Verbreitung von zunächst vorwiegend religiösen, dann aber auch weltlichen Schriften darstellte. Das Gedankengut der sich über drei Jahrhunderte ausstreckenden Aufklärung entfaltete seine Breitenwirkung gleich zu Beginn vor allem durch das Flugschriften­wesen, das auf eine Einbindung der Bevölkerung in die verschiedenen politisch-theologischen Diskurse abzielte. Einen weiteren Impuls lieferte die Französische Revolution im letzten Jahrzehnt des 18. Jahrhunderts, was sich durch die allmählich einsetzende Industrialisierung und Verstädterung im Laufe des 19. Jahrhunderts wiederum beschleunigte. „Die Zeit um 1860 markierte einen Wendepunkt“.[2]

„Um 1920 waren die männliche Bevölkerung der maßgebenden europäischen Länder und ein Teil der weiblichen Bevölkerung des Lesens und Schreiben kundig. […] Nur Großbritannien, die Niederlande und Deutschland hatten um 1910 eine Alphabetisierungsrate von 100 Prozent erreicht. Für Frankreich lag sie bei 87 Prozent, für Belgien [..] bei 85 Prozent.“[2] „Deutlich niedriger fielen die Werte für den europäischen Süden aus: 62 Prozent für Italien, 50 Prozent für Spanien, nur 25 Prozent für Portugal.“[2]

„Eliten reagierten auf Massenalphabetisierung widersprüchlich: Auf der eine Seite erschien die Aufklärung des «einfachen Volkes» […] als «Zivilisierung» von oben, Durchsetzung der Moderne und Förderung nationaler Integration. Auf der anderen Seite gab es weiterhin Misstrauen, das freilich mit der Zeit überall abnahm, gegenüber der kulturellen Emanzipation der Massen, die zugleich – Arbeiterbildungsvereine zeigen dies schnell – mit Forderungen nach sozialer und politischer Besserstellung verbunden war. Diese Misstrauen der Besitzer von Macht und Bildung war nicht unberechtigt. Alphabetisierung, also die «Demokratisierung» des Zugangs zu schriftlichen Kommunikationsinhalten, führt in der Regel zu Umschichtungen in Prestige- und Machthierarchien und eröffnet neue Möglichkeiten des Angriffs auf die bestehende Ordnung.“[2]

Alphabetisierungsgrade

Alphabetisierungsrate weltweit nach Ländern (Quelle: UNHD)[3]

Der Alphabetisierungsgrad bzw. Alphabetisierungsrate ist eine statistische Größe, die den Anteil an einer Bevölkerungs­gruppe angibt, der lesen und schreiben kann. Das Gegenteil ist die Analphabetenquote. Sie ist ein Indikator für das Bildungsniveau einer Bevölkerungsgruppe. Der Alphabetisierungsgrad gibt Aufschluss über die Anstrengungen einer Regierung, den Bildungsstand der Bevölkerung auf ein bestimmtes Niveau zu heben und fließt häufig in Kennzahlensysteme zur Beschreibung des Entwicklungsgrades eines Landes ein, z. B. in den Human Development Index (HDI) der Vereinten Nationen. Innerhalb einer Gesellschaft kann sich die Alphabetisierungsrate zwischen den verschiedenen Bevölkerungsgruppen stark unterscheiden. Mögliche Ursachen hierfür sind z. B.:

Alphabetisierungsgrad in Deutschland

Strebt der Alphabetisierungsgrad in Deutschland (gemessen an der Zahl der „totalen“ bzw. „primären“ Analphabeten), wie in den meisten Industrieländern, gegen 100 %, nimmt man doch an, dass es vier bis zehn Millionen „funktionale“ Analphabeten unter den Erwachsenen gibt. Nach einer OECD-Studie (1994–1998) liegt die Zahl der funktionalen Analphabeten in zwei von drei Industriestaaten höher als 15 %.

Alphabetisierungsgrad in den USA

„Die Alphabetisierungsrate unter Männern lag schon 1860 in den Neuenglandstaaten bei 95 Prozent; einzigartig in der Welt, hatten Frauen dort damals bereits ähnliche Werte erreicht.“[2] Der nationale Durchschnitt war zu der Zeit geringer, da die schwarze und indianische Bevölkerung geringer alphabetisiert war. „1890 lag die Alphabetisierungsrate unter Afroamerikanern landesweit bei 39 Prozent, 1910 bei 89 Prozent, fiel dann aber bis 1930 auf 82 Prozent.“[2]

In den USA wurde 1992 eine große National Adult Literacy Survey (NALS) durchgeführt. Nach Angaben des Institute of Literacy[4] erreichten zwischen 21 und 23 Prozent der erwachsenen Bevölkerung, d. h. 44 Millionen Menschen nur das unterste Niveau (Level 1), d. h. sie können nicht genug lesen, um ein Formular auszufüllen, die Beschreibungen auf Lebensmitteln zu lesen oder einem Kind eine einfache Geschichte vorzulesen.

Definition der OECD

Bei den Zahlen zur funktionalen Alphabetisierung einer Gesellschaft handelt es sich um relative Daten, die immer in Bezug auf die sozialen Standards der jeweiligen Gesellschaft gesehen werden müssen. Dagegen misst beispielsweise die OECD den Alphabetisierungsgrad mit einer global einheitlichen Definition. Die Zahlen beziehen sich auf Personen über 15 Jahre. Ein Alphabetisierter wird hier wie folgt definiert:

„Eine Person wird als alphabetisiert bezeichnet, wenn sie eine kurze, einfache Aussage zu ihrem alltäglichen Leben mit Verständnis sowohl lesen als auch schreiben kann.“
Alphabetisierte Bevölkerung; geschätzt
(Quelle: OECD)
  1970 2000
 weltweit   63 %   79 % 
 Entwickelte Länder und Transformationsländer   95 %   99 % 
 am wenigsten entwickelte Länder   47 %   73 % 
 Entwicklungsländer ohne Meerzugang   27 %   51 % 

Diese Daten werden der OECD von den jeweiligen Ministerien zur Verfügung gestellt. Es handelt sich meist um Selbstauskünfte, die geschönt sein können. Da es ein sogenanntes verdecktes Analphabetentum in allen Ländern der Erde gibt, kann die tatsächliche Alphabetisierung hinter den angegebenen Zahlen zurückbleiben. Auch ist die nicht kontinuierliche Bewertung der Lese- und Schreibfähigkeit (entweder Analphabet oder Alphabet) wenig realitätsnah. Dennoch zeigen die Daten, dass sowohl in Industrienationen als auch in Entwicklungsländern die Alphabetisierung zwischen 1970 und 2000 gestiegen ist.

Der Alphabetisierungsgrad trägt zur Ermittlung des Human Development Index der Vereinten Nationen bei.

Beispiele für den Stand der Alphabetisierung ausgewählter Länder

Im Human Development Report 2007/2008 veröffentlichte das UNDP z. B. folgende Daten:[5]

Hochentwickelte Länder:

  • Island > 99 %, Rang 1 in der HDI-Liste
  • Schweiz > 99 %, Rang 7 in der HDI-Liste
  • Österreich > 99 %, Rang 15 in der HDI-Liste
  • Deutschland > 99 %, Rang 22 in der HDI-Liste

Länder mittleren Entwicklungsstandes:

  • Rumänien 97,3 %, Rang 60 in der HDI-Liste
  • China 90,1 % Rang 81 in der HDI-Liste
  • Bangladesch 47,4 %, Rang 140 in der HDI-Liste

Gering entwickelte Länder:

  • Ruanda 43,4 %, Rang 161 in der HDI-Liste
  • Niger 28,7 %, Rang 174 in der HDI-Liste

(Anmerkung: In den Human Development Index (HDI) fließen weitere Faktoren ein, so dass der HDI-Listenplatz nicht notwendigerweise mit dem Alphabetisierungsgrad übereinstimmt.)

Alphabetisierung und Entwicklung

Der Alphabetisierungsgrad gilt als einer der wichtigsten Entwicklungsindikatoren. Die OECD berechnet die Alphabetisierung gesondert für die 15-24-Jährigen, da hier die Resultate der Bildungsanstrengungen eines Landes am schnellsten wirksam sind, und die Alphabetisierung der jungen Bevölkerung (die in Entwicklungsländern meist einen großen Anteil an der Gesamtbevölkerung ausmachen) billiger ist. Die OECD hat sich zum Ziel gesetzt, bis 2015 den Alphabetisierungsgrad der 15-24-Jährigen in allen Ländern auf 99 % zu steigern. Die Vereinten Nationen haben die Jahre 2003–2013 zur UNO-Alphabetisierungdekade erklärt.

Der Alphabetisierungsgrad ist in Ländern mit niedrigem und mittlerem Pro-Kopf-Einkommen seit 1960 von einem Drittel auf über die Hälfte gestiegen. 2003 galten weltweit 862 Millionen als Analphabeten. Mangelnde Bildung gilt als eines der größten Hindernisse gesellschaftlicher Entwicklung. Besonders betroffen sind arme und bevölkerungsreiche Länder wie z. B. Bangladesch, Brasilien, Indien, Indonesien, Ägypten, Mexiko, Nigeria und Pakistan. Alphabetisierung ist eine notwendige Bedingung für Entwicklung, aber keine hinreichende. Gibt es keine Wirtschaft, die die gestiegene Alphabetisierung nutzt, kommt es zu Abwanderung, wie z. B. auf den Philippinen. Die meisten Analphabeten leben in Asien, es sind etwa 833 Millionen. Danach folgt Afrika mit etwa 156 Millionen und Südamerika mit 25 Millionen. Im Allgemeinen gilt, dass Analphabetismus bei der Landbevölkerung größer ist als bei der Stadtbevölkerung und bei den Frauen höher als bei den Männern.

Beispiele für Alphabetisierungskampagnen

Nicaragua

Es gab immer wieder Versuche einzelner Länder, den Alphabetisierungsgrad kurzfristig zu erhöhen. Als beispiellos in der Geschichte der Bildung kann die Alphabetisierungskampagne in Nicaragua zu Beginn der 1980er Jahre gesehen werden. Nach dem Sturz der Somoza-Diktatur erklärte die sandinistische Regierung die Alphabetisierung des Landes zu einer ihrer Hauptmissionen. Im sogenannten „Kreuzzug gegen die Ignoranz“ zogen etwa 100.000 Freiwillige in die entlegenen Dörfer der ländlichen Gebiete und unterrichteten, zum Teil in drei Schichten am Tag. In nur zwei Jahren gelang es, die Analphabetenquote von 65 % auf 12 % zu senken. Nach der Abwahl der sandinistischen Regierung 1990 wurden die Bemühungen im Bildungswesen zurückgeschraubt. Zurzeit besuchen ein Drittel der schulpflichtigen Kinder Nicaraguas – etwa 800.000 – keine Schule mehr. Nach den entsprechenden Human Development Reports lag 1990 die Analphabetenquote bei 19,0 %,[6] 2005 betrug sie 23,3 %.[5]

Mexiko

In Mexiko wurde 1944 ein Aufruf zur Linderung des Analphabetismus als Dekret des Staatspräsidenten Manuel Ávila Camacho veröffentlicht. Unter dem Titel „¡Oyed!“ („Hört zu!“) wurden in der Presse alle Lese- und Schreibkundigen aufgefordert, mindestens einer anderen Person Lesen und Schreiben beizubringen. In den Erinnerungen an seine Mutter Anna Seghers, die in dieser Zeit in Mexiko im Exil war, berichtet Peter Radvanyi, dass sich tatsächlich viele, die diesen Aufruf hatten lesen können, unter den Nachbarn und Bekannten umsahen, um Stunden zu geben.[7]

Brasilien

Paulo Freire entwickelte in den 1960er Jahren in Brasilien ein Alphabetisierungsprogramm, das nicht nur eine Technik des raschen und gezielten Erwerbs von Lesen und Schreiben, sondern darüber hinaus eine Methode der Bewusstseinsbildung darstellt. Da zu diesem Zeitpunkt in Brasilien Analphabeten nicht wahlberechtigt waren, war Alphabetisierung eine Kampagne von hoher politischer Relevanz. Er selbst sah sein Programm als einen Schritt zur Demokratisierung Brasiliens an.

Siehe auch

  • Aufschreibesystem – primär technische Einrichtungen, die dem Speichern von Daten dienen.
  • Gutenberg-Galaxis – bezeichnet eine Welt, die grundlegend vom Buch als Leitmedium geprägt ist.

Literatur

Weblinks

Einzelnachweise

  1. Rolf Bergmeier. Schatten über Europa: Der Untergang der antiken Kultur. Alibri Verlag, 2012. ISBN 3-86569-075-0
  2. 2,0 2,1 2,2 2,3 2,4 2,5 Jürgen Osterhammel: Die Verwandlung der Welt – Eine Geschichte des 19. Jahrhunderts. Verlag C. H. Beck, 2009, ISBN 978-3-406-58283-7, S. 1118-1123 (Auszug online bei Google).
  3. Reports (Memento vom 23. Januar 2009 im Internet Archive)
  4. National Institute of Literacy (Memento vom 7. Oktober 2007 im Internet Archive)
  5. 5,0 5,1 Human Development Report 2007/2008 – Human Development Indicators (PDF; 1,5 MB)
  6. Human Development Report 1993 – Human Development Indicators (PDF; 7,6 MB)
  7. Peter Radvanyi: Jenseits des Stroms. Erinnerungen an meine Mutter Anna Seghers. Aus dem Französischen übersetzt von Manfred Flügge. Aufbau, Berlin 2006, ISBN 3-7466-2283-2, S. 104.
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