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Kastrat

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Als Kastraten bezeichnete man einen Sänger, der vor der Pubertät der Kastration unterzogen worden war, um den Stimmwechsel zu unterbinden und seine Knabenstimme (Sopran oder Alt) zu erhalten. So erlangte der junge Mensch die normale Größe eines Erwachsenen, behielt aber seine hohe Stimme und konnte mit ihr so kräftig singen wie ein nicht kastrierter Mann.

Problematische Praxis

Datei:1749 eunuch.jpg
Europäischer Kastrat (1749)

Schon von der Spätantike an wurden vor allem in Italien viele Knaben mit dem Ziel kastriert, ihnen eine Laufbahn als erfolgreicher Sänger zu ermöglichen. Bei einer blutigen Kastration überlebten viele Jungen den chirurgischen Eingriff auf Grund von postoperativen Komplikationen nicht, da damals diese Eingriffe nicht unter sterilen Bedingungen ausgeführt wurden und entzündungshemmende Antibiotika noch nicht bekannt waren.[1][2]

Doch auch eine überstandene Kastration bot keine Gewähr für eine Sängerkarriere. Da der Eingriff vor Einsetzen der Pubertät vorgenommen werden musste, war nicht abzusehen, wie sich die vorhandene Singstimme und das musikalische Talent des betroffenen Knaben entwickeln beziehungsweise weiterentwickeln würden. Nur die wenigsten der vielen Tausend Kastraten fanden den Weg auf die Bühne. Diese begeisterten jedoch mit „überirdischer Stimme“ ihr Publikum über die Maßen.

Den weitaus meisten Kastraten gelang die erhoffte Karriere als Sänger nicht und die derart verstümmelten Männer hatten zumeist ein schweres Leben. Sie mussten versuchen, eine Anstellung in eher unbedeutenderen Kirchenchören zu erlangen, zogen mit Gauklertruppen durch die Lande oder versuchten, durch Prostitution zu überleben.[2]

Selbstverständlich waren es nach einer Kastration nicht allein die Stimmbänder, deren Wachstum zurückblieb. Dem männlichen Körper fehlten in der entscheidenden pubertären Entwicklungsphase der wichtige Anstieg des in den Hoden gebildeten männlichen Geschlechtshormons Testosteron, die damit verbundenen körperlichen Veränderungen bei Ausprägung der sekundären Geschlechtsmerkmale und die rechtzeitige Beendigung des Längenwachstums. Viele Kastrierte wurden daher übermäßig groß („Riesen”), behielten aber eine hohe Sprechstimme, die etwa der eines hohen Tenors glich, und neigten im fortgeschrittenen Lebensalter zur Leibesfülle, teils mit deutlich wahrnehmbarem Brustansatz (Gynäkomastie).

Kastraten sind dennoch prinzipiell zu einer Erektion fähig. Diese Tatsache machte sie auch bei finanziell besser gestellten Frauen beliebt, da diese von Kastraten die Erfüllung ihrer sexuellen Wünsche erhofften, ohne sich dabei der Gefahr einer „Schande“ durch resultierende Schwangerschaft auszusetzen.[2]

Geschichte

Kastraten in der Kirchenmusik

Im Christentum lehnte die Mehrzahl der Gelehrten die Kastration ab, es gab aber auch Befürworter. Besonders galt das für Fürstbischöfe und andere große Höfe Geistlicher. Dazu wurden durch die Geistlichkeit des Barocks, die Knabenstimmen in einem Erwachsenenkörper liebte, spezielle Abteilungen von Knabenschulen gegründet. Ausgehend von Konservatorien in Neapel (Conservatorio dei Poveri di Gesù Cristo, Conservatorio della Pietà dei Turchini, Conservatorio Sant’Onofrio und andere), einst Verwahranstalten für verwaiste oder verstoßene Kinder, wurden für derartige Einrichtungen später in ganz Italien Jahr für Jahr tausende vorpubertäre Jungen rekrutiert, indem man sie für ein Trinkgeld von Eunuchenhändlern, den sogenannten Mangones, ihren zumeist bitterarmen Eltern abkaufte, um sie anschließend illegal im Verborgenen zu kastrieren und hernach stimmlich und liturgisch auszubilden.[3] Auch hier überlebten viele Jungen den Eingriff nicht.[4] Charles Ancillon beschreibt 1707 allerdings auch die Anwendung von unblutigen Methoden zur Kastration.[1]

Datei:Alessandro Moreschi.ogg

Papst Sixtus V. hatte am 7. Juni 1587 mit dem Impotenzdekret verfügt, dass ein Mann über wirklichen, das heißt aus den Hoden stammenden Samen verfügen müsse, andernfalls er nicht heiraten dürfe, und damit die Zeugungsfähigkeit (potentia generandi) zur Eheschließung verlangt.[5] Unabhängig davon waren vor und nach 1588 Kastraten als päpstliche Sänger im Sixtinischen Chor beschäftigt[6] und noch bis in die Mitte des 19. Jahrhunderts wurden Knaben im vorpubertärem Alter zur Förderung einer Sängerkarriere auch in Kirchenchören kastriert. Den Opfern dieser Praxis boten Päpste eine Existenz als Sänger für hohe Stimmen in der päpstlichen Kapelle. Erst Papst Pius X. schrieb am 22. November 1903 in seinem Motu Proprio Tra le sollecitudini („Über die Kirchenmusik“) vor, zur Besetzung von Sopran- und Altstimmen allein Knaben einzusetzen und verbot damit praktisch die Beschäftigung von Kastraten (Kastrati) in Kirchenchören.[7] Dieses Verbot entzog der Kastrationspraxis zur Förderung einer Sängerkarriere die letzte Basis.

1922 starb Alessandro Moreschi, der letzte Kastrat der päpstlichen Kapelle und der einzige, von dem Tondokumente erhalten sind.

Kastraten in der weltlichen Musik seit dem Barock

Kastraten waren im europäischen Musikleben des 17. und 18. Jahrhunderts beliebt und genossen oft hohes Ansehen. Zu den berühmtesten Kastraten des 18. Jahrhunderts zählen Senesino, Farinelli, Carestini, Caffarelli und Antonio Bernacchi. Sie gehörten zu den ersten Superstars der Musik, ihr Genre war vorzugsweise die Oper. Der 1792 geborene Gioachino Rossini soll durch Intervention seiner Mutter vor der Karriere als Sängerkastrat bewahrt worden sein. Er selbst schrieb sein Alterswerk Petite Messe solennelle im Jahre 1863 für „zwölf Sänger der drei Geschlechter“[8], wohl wissend, dass es keine Kastraten mehr gab, eine merkwürdig-ironische Äußerung eines Mannes im Alter seiner „Alterssünden“ (Péchés de vieillesse).

Ersatz im 20. Jahrhundert

Seit der endgültigen Einstellung der Kastrationspraxis stellt die Besetzung von Männerrollen in Sopran- oder Altlage ein besonderes Problem für die Aufführung Alter Musik dar. Im 20. Jahrhundert war es lange üblich, solche Rollen in typische Männerlagen zu transponieren, um den von Werken des 19. Jahrhunderts geprägten Hörerwartungen zu entsprechen (→ Heldentenor). Mit der Entwicklung der Historischen Aufführungspraxis hat sich die Ansicht durchgesetzt, dass eine Änderung der Stimmlage die Struktur der Musik beeinträchtigt – insbesondere etwa bei Liebesduetten in Barockopern, bei denen die beiden Stimmen oft in der gleichen Lage miteinander verwoben sind. Deshalb behilft man sich mit Frauenstimmen oder Countertenören, deren Falsett aber deutlich anders klingt als eine Knabenstimme, wie Kastraten sie hatten.

Die Möglichkeiten digitaler Klangmanipulation wurden im Film über den Kastraten Farinelli (1994) angewandt, um aus den Stimmen einer Sopranistin und eines Countertenors eine synthetische Kastratenstimme zu mischen. Grundlage dafür waren Tondokumente des letzten Kastraten Moreschi und zeitgenössische Beschreibungen. Eine grundlegende Idee der Kastratenstimme im 17. Jahrhunderts war es, eine Stimme zu schaffen, die alles Menschenmögliche übersteigt. Insofern kommt der Versuch, für den Film technisch eine Stimme zu kreieren, die es in der Realität nicht gibt, nämlich die Mischung von weiblicher Sopran- und männlicher Altus-Stimme, der historischen Kastratenstimme zumindest vom philosophischen Ansatz her nahe.

Kastraten als Thema in der Literatur

  • Im Roman Melodien von Helmut Krausser wird die Figur des Kastraten und Komponisten Marc Antonio Pasqualini (1614-1691) mit einer realen und fiktiven Vita beschrieben und besonders auf seinen Leidensweg und seine Stellung in der Gesellschaft eingegangen.
  • Erzählung Sarrasine von Honoré de Balzac (Online bei Projekt Gutenberg)
  • Roman Der Virtuose von Margriet de Moor (deutsch 1994)
  • Im Kriminalroman Das Gift der Engel von Oliver Buslau (2006) bildet ein Musikwissenschaftler in einem abgelegenen Anwesen einen operierten Knaben zu einem Kastratensänger aus.
  • In den historischen Kriminalromanen Imprimatur, Secretum und Veritas des italienischen Autorenpaares Rita Monaldi und Francesco Sorti ist der (historisch belegte) Kastrat Atto Melani eine der zentralen Figuren.
  • In dem Roman Falsetto von Anne Rice wird die Geschichte des Marco Antonio Treschi, genannt Tonio, erzählt, der als 15-Jähriger in Venedig entdeckt und durch eine Intrige zum Kastraten wird. Erfolgreich und berühmt geworden, sinnt er auf Rache.
  • Roman Porporino oder Die Geheimnisse von Neapel von Dominique Fernandez (deutsch 1976)

Siehe auch

Literatur

  • Franz Haböck: Die Gesangskunst der Kastraten. Universal-edition a. g., Wien 1923.
  • Franz Haböck: Die Kastraten und ihre Gesangskunst, eine gesangsphysiologische kultur- und musikhistorische Studie. Deutsche Verlags-Anstalt, Stuttgart 1927.
  • Hubert Ortkemper: Engel wider Willen. Die Welt der Kastraten. Eine andere Operngeschichte. Henschel, Berlin 1993, ISBN 3-89487-006-0.
  • Hans Fritz: Kastratengesang. Hormonelle, konstitutionelle und pädagogische Aspekte (= Musikethnologische Sammelbände Bd. 13). Schneider, Tutzing 1994, ISBN 3-7952-0797-5, (Zugleich: Graz, Hochsch. für Musik und Darstellende Kunst, Diss., 1991).
  • Richard Somerset-Ward: Angels & monsters. Male and female sopranos in the story of opera, 1600–1900. Yale University Press, New Haven (CT) u. a. 2004, ISBN 0-300-09968-1.
  • Cecilia Bartoli: Sacrificium. (Doppel CD und Buch). Decca Records 2009. (Die Mezzosopranistin Cecilia Bartoli erinnert mit ihrem Album an das Leid und an die Kunst der Kastratensänger des 18. Jahrhunderts).
  • Wilhelm Ruprecht Frieling: Killer, Kunstfurzer, Kastraten. Reportagen über ungewöhnliche Schicksale. Internet-Buchverlag 2011, ISBN 978-3-941286-69-6, Kapitel: Der jubilierende Kastrat.
  • Corinna Herr, Kai Wessel (vorrangig): Gesang gegen die "Ordnung der Natur"? : Kastraten und Falsettisten in der Musikgeschichte. (Zugleich überarbeitete Version von: Habilitations-Schrift Universität Bochum, 2009 unter dem Titel: Corinna Herr: Hoch singende Männer - Gesang gegen die "Ordnung der Natur"?). Bärenreiter, Kassel/ Basel/ London u. a. 2013.

Einzelnachweise

  1. 1,0 1,1 Charles Ancillon (1659-1715), Robert Samber: Eunuchism display'd, describing all the different sorts of eunuchs … Written by a person of honour [i. e. Charles Ancillon]. (Originalwerk ins Englische übersetzt von Robert Samber) E. Curll, London 1718, online Digitalisat (Originalwerk: Charles Ancillon: Traité des eunuques. 1707 [im Nachdruck: (publié par) Dominique Fernandez, Ramsay, Paris 1978, ISBN 2-85956-070-X.]) Onlineverweis NLM Catalog.
  2. 2,0 2,1 2,2 Video Stefan Schneider & Cristina Trebbi: Opfer und Verführer, dt. / ital. TV-Dokumentation, ZDF, 6. August 2010, 23.45 Uhr in der ZDFmediathek, abgerufen am 2. Februar 2014 (offline)
  3. John Rosselli: The Castrati as a Professional Group and a Social Phenomenon, 1550-1850. In: Acta Musicologica. vol. 60, fascicule 2, Mai-August 1988, S. 143-179.
  4. John Rosselli: The Castrati as a Professional Group and a Social Phenomenon, 1550-1850. S. 152.
  5. Uta Ranke-Heinemann: Eunuchen für das Himmelreich, Vollständige Taschenbuchausgabe, 5. Auflage, Droemer Knaur, München 1996, ISBN 3-426-04079-4, S. 258 ff.
  6. Uta Ranke- Heinemann: Eunuchen für das Himmelreich. S. 263.
  7. Tra le sollecitudini. Absatz V „Die Sänger.“ 13. Auf: www.vatican.va zuletzt abgerufen am 04. Sept. 2013.
  8. Rossini in Paris-Passy 1863, zitiert nach Joachim Risch: Rossinis letzte Alterssünde (Memento vom 24. Oktober 2007 im Internet Archive).

Weblinks

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