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Gottesmord

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Als Gottesmord (lat. Deizid) oder – seltener – als Christusmord bezeichnen manche Vertreter des Christentums eine angebliche unaufhebbare Kollektivschuld des Judentums an der Kreuzigung Jesu von Nazaret als des Sohnes Gottes.

Diese These begründete seit dem 2. Jahrhundert eine fundamentale Abwertung und Ausgrenzung („Verwerfung“) aller Juden in der Christentumsgeschichte. Sie ist damit ein Zentralmotiv des christlichen Antijudaismus. Diese religiöse Diskriminierung der Juden ging mit dem Aufstieg der Kirche zur Staatsreligion des Römischen Reiches einher und rechtfertigte fortan vielfach die Unterdrückung und Verfolgung der jüdischen Minderheit. Das in der Volksfrömmigkeit immer neu befestigte und verankerte „Gottesmord“-Motiv trug wesentlich dazu bei, dass Judenfeindlichkeit nahezu 1800 Jahre lang ein „kulturelles Grundmuster“ (Stefan Rohrbacher) der Geschichte Europas wurde und so den modernen Antisemitismus begünstigte, der seinerseits den Holocaust an den europäischen Juden mit ermöglichte.

Historiker beachten hierzu auch die Tatsache, dass die meisten ausführenden Täter des Holocaust nominell Christen waren; kirchliche Schulderklärungen nehmen seit etwa 1975 darauf ausdrücklich Bezug.[1]

Neues Testament

Das Neue Testament (NT) kennt das antijudaistische Gottesmordmotiv nicht. Es nennt meist verschiedene, zusammenwirkende Gruppen als Verursacher des Kreuzestodes Jesu.

Paulusbriefe

Paulus von Tarsus sah die weltweite Heidenmission seit seiner Bekehrung als seine Aufgabe an. In seinem ersten Gemeindebrief schrieb er (1_Thess 2,15 EU):

„Die Juden haben unseren Herrn Jesus getötet und die Propheten und haben uns verfolgt und gefallen Gott nicht und sind allen Menschen Feind.“

Dies ist die einzige Stelle im NT, die Juden gegenüber Heidenchristen insgesamt zu Mördern Jesu erklärt. Paulus verwies dabei auf die selbstkritische jüdische Tradition des Prophetenmords und verknüpfte sie mit dem antiken Klischee des „Menschenhasses“ (lat.: odium generis), den römische Bildungsbürger wie Tacitus (Annales 5,5) Juden häufig nachsagten. Den Hintergrund dieses Vorwurfs zeigt der Folgevers (v. 16a):

„Und um das Maß ihrer Sünden voll zu machen, wehren sie uns, den Heiden zu predigen zu ihrem Heil.“

Zugleich betonte er (v. 16b):

„Aber der Zorn Gottes ist schon in vollem Maß über sie gekommen bis zum Ende.“

Jesu Kreuzestod selber war für Paulus Gottes Zorngericht über Israel und die Völker, so dass er betonte (Röm 12,19 EU):

„Rächt euch nicht selber, meine Lieben, sondern gebt Raum dem Zorn Gottes; denn es steht geschrieben: 'Die Rache ist mein, ich werde vergelten, spricht der Herr.'“

Röm 12:19

Damit verwies er seine Gemeinden auf das Toraverbot der Rache (Dtn 32,35 EU), das im Toragebot der Nächstenliebe (Lev 19,18 EU) zu anderen Juden, Fremden und Feinden enthalten ist.

Trotzdem wurde der Satz von der Schuldbehaftung der beteiligten mutmaßlichen Tätergruppen abgetrennt und konnte so als Vorwurf der Kollektivschuld am Gottesmord weiterwirken.

Evangelien

Die Evangelien machen den Sanhedrin für Jesu Kreuzigung verantwortlich, weil dieser ihn zum Tod verurteilt und mit einer falschen Anklage an den römischen Statthalter Pontius Pilatus ausliefert habe. Dieser habe ihn auf ihr Drängen hin hinrichten lassen.

Das Markusevangelium stellt die Sadduzäer (die jüdische Oberschicht in Jerusalem, aus deren Reihen die Tempelpriester kamen) und ihre Anhänger als die dar, die spätestens nach Jesu Tempelreinigung seinen Tod beschlossen und konspirativ darauf hingearbeitet hätten (Mk 10,33 EU). Der Sanhedrin habe ihn festnehmen lassen, geschlossen zum Tod verurteilt (Mk 14,64 EU) und dann unter einer falschen Anklage an Pilatus überstellt. Nachdem dieser Jesus verhört und keine Schuld habe feststellen können, habe er der jüdischen Menge mehrmals seine Freilassung im Tausch für einen Zeloten angeboten. Dies habe diese Menge abgelehnt mit der Forderung Kreuzige ihn!, der Pilatus schließlich nachgegeben habe (Mk 15,1-15 EU). Dieser Darstellung folgen die übrigen Evangelien im Kern.

Im Matthäusevangelium erklärt die von Pilatus nach Jesu Schuld befragte jüdische Volksmenge zudem (Mt 27,25 EU): „Sein Blut komme über uns und unsere Kinder!“ Damit machte der Evangelist diese Generation von Juden für die Folgen eines römischen Unrechtsurteils gegen Jesus haftbar. Er folgte damit biblischer Tradition. Demgemäß deuteten die Urchristen die Zerstörung Jerusalems und des Tempels im Jüdischen Krieg (70 n.Chr.) als Strafe Gottes für die Ablehnung des Gottessohnes (Mk 14,58 EU; 15,38 EU; Lk 21,24 EU). Dies begünstigte den späteren christlichen Glauben, Gott habe sein eigenes Volk Israel endgültig „verworfen“ und stattdessen die Kirche erwählt. Dem hatten die Autoren des NT – besonders Paulus – ausdrücklich widersprochen (Röm 11,1f.29 EU).

Die bereits vollzogene Trennung von Juden und Christen spiegelt sich im Johannesevangelium: Anders als die älteren synoptischen Evangelien spricht es oft von „den Juden“ als Gegnern Jesu. Es stellt sie damit als Vertreter des gottfeindlichen Äons dar, den Jesu Kreuzigung und Auferstehung beendet und überwunden habe. Diese theologische Deutung des Heilswerks Jesu Christi setzt den Glauben an Israels unaufhebbare Erwählung zum Volk Gottes gerade voraus, den alle Urchristen von Jesus übernahmen: Das Heil kommt von den Juden (Joh 4,22). Darum redet eine der vom Evangelisten komponierten Jesusreden nicht alle Juden, sondern nur die damaligen jüdischen Gegner Jesu als jene an, die „den Teufel zum Vater“ hätten (Joh 8,44). So stellt der Evangelist „die Juden“, ohne zwischen Volk und Führung zu unterscheiden, in seiner Version der Passionsgeschichte als die da, die Pilatus erpresserisch dazu drängten, Jesus hinzurichten (Joh 19,12 EU).

Die Vergebungsbitte des gekreuzigten Jesus nach Lk 23,34 EU schließt den Gottesmordvorwurf jedoch aus. Sie wurde von Christen in einigen NT-Handschriften des 2. Jahrhunderts weggelassen, wahrscheinlich um die Juden als angebliche Gottesmörder von Jesu Vergebung für alle seine Mörder auszunehmen.[2]

Neutestamentler und Historiker wie der römische Katholik Jules Isaac und der Jude Paul Winter beurteilten bestimmte Züge der Passionserzählungen wie die Pessachamnestie des Pilatus, die Selbstbezichtung der jüdischen Ankläger Jesu und eine angebliche Folter Jesu durch Mitglieder des Sanhedrin (Mk 14,64) als redaktionelle, antijudaistische Tendenz, die die historische Schuld der römischen Besatzungsmacht am Tod Jesu auf die Sadduzäer und ihre Anhänger in der Jerusalemer Stadtbevölkerung verlagerte. Sie erklären diese Verlagerung aus der Situation nach der Tempelzerstörung des Jahres 70, als die Christen sich stärker von den Juden abzusetzen versuchten, um nicht mit ihnen von Römern verfolgt zu werden. Sie betonten, dass auch die Juden scheinbar pauschal verurteilende NT-Aussagen von Urchristen jüdischer Herkunft stammen, die sich weiter als Teil des Judentums betrachteten. Sie gelten daher als innerjüdische Polemik im Trennungsprozess beider Religionen, nicht als Ausdruck allgemeinen Judenhasses.

Der US-amerikanische Neutestamentler John Dominic Crossan hält auch den in Mk 14, 53-64 beschriebenen regulären Prozess des Sanhedrin gegen Jesus für ahistorisch. Er sieht die Anfänge der Gottesmordtheorie in dieser tendenziösen Passionsredaktion begründet. Im Blick auf deren Wirkungsgeschichte erklärte er:[3]

„Solange die Christen eine unterprivilegierte Randgruppe waren, schadeten ihre Passionserzählungen, welche die Juden als schuldig am Tode Jesu hinstellten, die Römer aber von jeder Schuld daran entlasteten, im Grunde niemandem. Doch als dann das römische Reich christlich wurde, wurde die Fabel mörderisch. [...] Mögen die Ursprünge der Erfindung auch erklärlich sein und die Motive ihrer Erfinder verständlich, so hat doch das Beharren auf dieser Fabel ... sie zu einer langandauernden Lüge gemacht, und um unserer eigenen Integrität willen müssen wir Christen sie endlich als solche bezeichnen.“

Apostelgeschichte

Die Apostelgeschichte folgt der Darstellung der Evangelien und nennt die Jerusalemer Stadtbevölkerung und deren jüdische Repräsentanten als Verursacher des Todes Jesu (Apg 13,27 EU):

„Denn die zu Jerusalem wohnen und ihre Obersten haben, weil sie Jesus nicht erkannten, mit ihrem Urteilsspruch die Worte der Propheten, die an jedem Sabbat verlesen werden, erfüllt. Und obwohl sie nichts an ihm fanden, das den Tod verdient hätte, baten sie doch Pilatus, ihn zu töten.“

Das stellt die Unschuld des Opfers und das Unrecht der Täter heraus, nimmt sie aber zugleich in Schutz: So seien sie Werkzeug des lange vorher in der Schrift angekündigten Willens Gottes geworden.

Die Apostel-Predigten der Urchristen reden die Jerusalemer Juden als Täter an:

Apg 2,23 EU: Ihn, der durch Gottes Ratschluss und Vorsehung dahingegeben wurde, habt ihr durch die Hand der Heiden ans Kreuz geschlagen und getötet.

Apg 3,15 EU: Den Fürsten des Lebens habt ihr getötet.

Apg 5,30 EU: Der Gott unserer Väter hat Jesus auferweckt, den ihr an das Holz gehängt und getötet habt.

Zugleich bekräftigen sie, dass die Täter aus Unwissenheit handelten (Apg 3,17 EU):

Nun, liebe Brüder, ich weiß, dass ihr es aus Unwissenheit getan habt wie auch eure Obersten.

Diese Aussagen sind integraler Bestandteil der Verkündigung des Evangeliums.

Die sogenannten Hellenisten unter den Jerusalemer Urchristen begannen mit der Heidenmission, lehnten den Jerusalemer Tempelkult ab und erklärten ihn mit Jesu Kreuzigung für unwirksam. So wird Stephanus wie folgt zitiert (Apg 7,52 EU):

„Ihr Halsstarrigen und Unbeschnittenen an Herzen und Ohren! Ihr widerstrebt allzeit dem Heiligen Geist, wie Eure Väter so auch ihr. Welchen Propheten haben eure Väter nicht verfolgt? Und sie haben getötet, die da zuvor verkündeten das Kommen des Gerechten, dessen Verräter und Mörder ihr nun geworden seid.“

Damit redete er die Sadduzäer an. Seine Polemik entsprach bis in die Wortwahl hinein der scharfen Kritik jüdischer Propheten am Götzendienst Israels. Prophetische Kultkritik gab es im Judentum seit Elija und Amos im 8. vorchristlichen Jahrhundert; sie war Ausdruck eines innerjüdischen Konflikts zwischen verschiedenen Interessengruppen und den ihnen zugehörigen Theologien. Jeremia hatte um 590 v. Chr. im Tempelbezirk die Zerstörung des ersten Jerusalemer Tempels angekündigt und damit sein Leben riskiert (Jer 26).

Patristik

Die auf Rettung und Umkehr zielende Verkündigung getaufter an ungetaufte Juden wandelte sich in der Christentumsgeschichte zu einer neuen, theologisch untermauerten und später vielfach für Juden tödlichen Feindschaft. Dabei erhielten dieselben Worte einen entgegengesetzten, alle Juden zu satanischen Feinden Gottes stempelnden und sie auf ewig verdammenden Sinn.

Das Judentum wurde ab etwa 130 zum Gegenpol und zur Negativfolie des christlichen Glaubens fixiert. Die Kirchenväter legten Mt 27,25 als weiterwirkende Selbstverfluchung aller Judengenerationen aus. Zur Strafe habe Gott Tempelzerstörung (70), Landverlust (135) und ihre Zerstreuung unter die Völker bewirkt. Damit begründeten sie fortlaufend die Unterdrückung des Judentums unter den christianisierten Völkern Europas.

Die antijudaistische Gottesmordtheorie zeigte sich um 160 bei Bischof Melito von Sardes († um 190). Er klagte die Juden in seiner – 1940 als Handschrift wiederentdeckten – Predigt Über das Passah wie folgt an:[4]

„Welch schlimmes Unrecht, Israel, hast du getan? Du hast den, der dich ehrte, geschändet...Du bereitetest ihm spitze Nägel und falsche Zeugen und Fesseln und Geißeln und Essig und Galle und das Schwert und die Trübsal wie für einen Raubmörder...Getötet hast du den Herrn inmitten Jerusalems! Höret es, alle Geschlechter der Völker und sehet: Unerhörter Mord geschah inmitten Jerusalem in der Stadt des Gesetzes, der Hebräer, der Propheten, in der Stadt, die für gerecht galt!...Der die Erde aufhing, ist aufgehängt worden; der die Himmel festmachte, ist festgemacht worden; der das All befestigte, ist am Holz befestigt worden...der Gott ist getötet worden; der König Israels ist beseitigt worden von Israels Hand. Oh, welch unerhörter Mord! Oh, welch unerhörtes Unrecht!“

Die Rede verzerrt die NT-Überlieferung von Jesu Passion, indem sie „spitze Nägel“, „Geißeln“, „Schwert“ von den Römern auf Juden überträgt. So macht sie diese nicht nur für Todesurteil und Auslieferung, sondern auch für Folter und Hinrichtung Jesu verantwortlich. Die Schuldanklage an Israel ist hier ein rhetorisches Stilmittel, dessen Kollektivschuld gegenüber den christlichen Predigthörern und von dort aus allen Völkern zu demonstrieren. Jerusalem wird als „Stadt des Gesetzes“ identifiziert, so dass das Festhalten an diesem Gesetz als Todesursache Jesu und Unrecht erscheint. Der besondere historische Justizmord an einem Juden wird zum Mord am Schöpfer der Welt überhöht, so dass dieses Unrecht kosmische Dimensionen erhält und der jüdische Glaube an den Schöpfer als Heuchelei erscheint. Dies sollte dem rabbinischen Judentum, das die Tora nach dem Ende des Tempelkults als weitergeltenden Willen Gottes auslegte und bewahrte, theologisch jede Daseinsberechtigung entziehen.

Hintergrund der Predigt war zum einen der frühchristliche Streit um das Osterdatum: Es fiel für Melito noch mit dem 14. Nisan, dem Hauptfesttag des jüdischen Passah, zusammen. Dies machte es für ihn umso notwendiger, die Überlegenheit der christlichen gegenüber der jüdischen Heilslehre herauszustellen. Zum anderen bahnte sich im 2. Jahrhundert der innerchristliche Streit um die zwei Naturen Jesu Christi schon an: Für die sich später durchsetzende orthodoxe Linie war der Mensch Jesus unmittelbar identisch mit dem der Welt zugewandten Wesen Gottes, so dass alles, was Menschen ihm antaten, gegen Gott selbst gerichtet war. Auch für die Theologen, die stärker die Selbstständigkeit der menschlichen Natur Jesu gegenüber Gott betonten, war sein Sterben menschliche Sünde gegen Gott, die aber Gottes Wesen nicht angreifen könne. Ihnen – wie auch den Juden selbst – erschien die Rede vom „Mord an Gott“ wie eine Gotteslästerung, da Gottes Wesen unsterblich sei. Erst mit dem 1. Konzil von Nicäa 325 wurde dieser Streit im Christentum entschieden.

Melito überhöhte Jesu Tod zum Mord an Gott aber nicht, um in dem innerchristlichen Streit Stellung zu beziehen, sondern um die religiöse „Enterbung“ des Judentums als biblisch erwähltes Volk Gottes durch die Kirche zu begründen. Für diese Substitutionstheologie war der Gottesmord-Vorwurf gegen das Judentum zentraler Dreh- und Angelpunkt. Daher griffen sämtliche frühen Kirchenväter ihn auf und entfalteten ihn theologisch. Origenes z.B. widersprach Paulus mit den Worten:[5]

„Das Blut Jesu haftet nicht nur an jenen, die Jesu Zeitgenossen waren, sondern fürwahr an allen künftigen jüdischen Geschlechtern bis ans Ende der Zeiten.“

Nach dem Aufstieg der Kirche zur römischen Staatsreligion (380) wurde der angebliche jüdische Gottesmord zum festen Stereotyp in der Adversos-Iudaeos („gegen die Juden“) -Literatur christlicher Theologen. Hieronymus identifizierte den Messias, den die Juden nach Jesus weiter erwarteten, um 400 mit dem Antichrist und erklärte aus dem Gottesmord das gegenwärtige Elend der seit der Tempelzerstörung in der Welt zerstreuten Juden:[6]

„Welches Verbrechens, welches fluchwürdigen Vergehens wegen hat Gott seine Augen von euch abgewandt? Wisst ihr es nicht? Denkt an das Wort eurer Väter: „Sein Blut komme über uns und unsere Kinder!“ [Mt 27,25] „Kommt, lasst uns ihn töten, und unser wird das Erbe sein!“ [Mk 12,7] „Wir haben keinen König außer dem Kaiser!“ [Joh 19,15] Nun habt ihr, was ihr gewählt habt. Bis zum Ende der Welt werdet ihr dem Kaiser dienen, bis die Fülle der Heiden sich bekehrt. Dann wird auch ganz Israel gerettet werden [Röm 11,25f], aber was einst Kopf wart, wird jetzt zum Schwanz werden.“

Er legte die Selbstverfluchung der Zeitgenossen Jesu also als weiterwirkenden ewigen Fluch über das Judentum aus und rechtfertigte damit die aktuelle und dauernde Unterdrückung der Juden im römischen Kaiserreich. Ihre jenseitige Errettung machte er vom Erfolg der christlichen Völkermission abhängig, die zugleich den Antijudaismus globalisieren sollte.

Johannes Chrysostomos schrieb um 390 in der sechsten seiner Predigten adversos Iudaeos, die sich indirekt gegen judaisierende Christen richteten:[7]

„Weil ihr Christus getötet habt, weil ihr gegen den Herrn die Hand erhoben habt, weil ihr sein kostbares Blut vergossen habt, deshalb gibt es für euch keine Besserung mehr, keine Verzeihung und auch keine Entschuldigung. Denn damals ging der Angriff auf Knechte, auf Mose, Jesaja und Jeremia. Wenn auch damals gottlos gehandelt wurde, so war das, was verübt wurde, noch kein todeswürdiges. Nun aber habt ihr alle alten Untaten in den Schatten gestellt durch die Raserei gegen Christus. Deshalb werdet ihr auch jetzt mehr gestraft. Denn, wenn dies nicht die Ursache eurer gegenwärtigen Ehrlosigkeit ist, weshalb hat euch Gott damals ertragen, als ihr Kindesmord begangen habt, wohingegen er sich jetzt, da ihr nichts derartiges verübt, von euch abwendet? Also ist klar, dass ihr mit dem Mord an Christus ein viel schlimmeres und größeres Verbrechen begangen habt als Kindesmord und jegliche Gesetzesübertretung.“

Augustinus von Hippo schrieb in De Civitate Dei (420):[8]

„Die Juden aber, die Christus dem Tod überliefert haben und nicht an ihn glauben wollten, daß er sterben und auferstehen müsse, dienen uns, von den Römern noch unheilvoller heimgesucht und aus ihrem Reiche, wo ohnehin bereits Ausländer über sie herrschten, mit der Wurzel ausgerottet und über alle Länder zerstreut [...], durch ihre Schriften zum Zeugnis, daß die Weissagungen über Christus kein Machwerk der Christen sind.“

Demnach hätten die Juden zur Strafe für Jesu Auslieferung bzw. Kreuzigung und für ihren Unglauben an seine Messianität ihren eigenen Staat und Tempelkult verloren, seien unter alle Völker zerstreut und den Christen unterworfen worden. Diese Knechtschaft sei gottgewollt, damit die Juden durch ihr Dasein und ihre biblischen Schriften die überlegene Wahrheit des Christentums bis zum Ende der Welt immer neu bestätigen müssten.

Diese Ansicht wurde im 5. Jahrhundert Allgemeingut der christlichen Theologie, vertreten auch von Eusebius von Caesarea, Tiro von Aquitanien († um 455) und Cassiodor († um 583). Papst Leo der Große († 461) bildete damals bereits eine sehr seltene Ausnahme: Er zitierte in seinen Passionspredigten nicht nur die Selbstverfluchung Mt 27,25, sondern auch die Vergebung Jesu für seine Mörder (Lk 23,34), bezog diese also auch auf das Judentum. Dass Römer Jesus gefoltert und zusammen mit anderen Juden gekreuzigt hatten, wurde kaum noch erwähnt und in seinen Folgen für das Verhältnis der Kirche zum Staat nicht mehr bedacht.

Die Gottesmord-, Verwerfungs- und Fluchtheorie bildete den Kern des christlichen Antijudaismus und rechtfertigte die Unterdrückung und phasenweise Verfolgung der jüdischen Minderheit im ganzen Mittelalter und darüber hinaus. Sie sorgte mit dafür, dass das Judentum eine ausgegrenzte, bedrückte und ständig bedrohte Randgruppe blieb, die zum „Sündenbock“ für alle möglichen Übel gemacht werden konnte.

Mittelalter

Der zur theologischen Lehre verfestigte Gottesmord-Vorwurf wanderte von der Patristik in das Frühmittelalter ein. Dort war er eine nicht mehr hinterfragte Tatsache für die christliche Theologie. Erzbischof Agobard von Lyon († 840) z.B. legte den Juden in seinen um 825 verfassten antijüdischen Polemiken zahlreiche Verbrechen zur Last. Er setzte – wie Johannes Chrysostomos 400 Jahre zuvor – einen kriminellen Charakter aller Juden voraus, den er auf ihren Gottesmord zurückführte. Diesen Vorwurf führte er als Faktum an, ohne ihn näher zu begründen.

Auch Hrabanus Maurus († 856), Erzbischof von Mainz, und Petrus Damiani († 1072) sprachen von Juden allgemein nur als „verruchtem Volk“ und „Christusmördern“. Dabei waren sie – anders als Agobard – keineswegs fanatische Judenfeinde. Dies traf jedoch auf den Benediktiner-Abt Rupert von Deutz († 1129) zu, der um 1120 ein fiktives Streitgespräch zwischen einem Christen und einem Juden verfasste.

Hier schlug die übliche Verwerfung des Judentums in akute Bedrohung um, wie sie das Zeitalter der Kreuzzüge kennzeichnete. Christliche Anführer des ersten Kreuzzugs rechtfertigten ihre Massaker an Judengemeinden auf dem Weg nach und in Palästina als Rache für den angeblichen Gottesmord der Juden. Gottfried von Bouillon etwa schwor nach zeitgenössischen Quellen, „nicht die Heimat zu verlassen, ohne das Blut seines Gottes an dem Blut Israels zu rächen; von allem, was den Namen Jude trägt, nicht Rest noch Flüchtling [am Leben] zu lassen.“[9]

Reformationszeit

Martin Luther ersetzte die katholische Vorlage des Passionshymnus in den Improperien der Karfreitagsmesse, der Judas Ischariot und die Juden als Christusmörder verfluchte, durch folgenden, 1544 erstmals in Wittenberg veröffentlichten Text:[10]

„Unser grosse Sünde und schwere Missetat
Jesum den wahren Gottes Sohn ans Kreuz geschlagen hat.
Drumb wir dich, armer Juda, darzu der Jüden Schar
Nicht feindlich dürfen schelten. Die Schuld ist unser zwahr!
Kyrie eleison!“

Dem Lutherforscher Heiko Oberman zufolge versuchte Luther damit, „jener Hass einpeitschenden Passionsfrömmigkeit an die Wurzeln zu gehen, die im christlichen Europa die Karwoche für Juden jahrhundertelang zur besonderen Schreckenszeit gemacht hat.“[11]

Gleichwohl setzten evangelische wie katholische Christen die Gottesmordpropaganda ungebrochen fort und benutzten sie weiterhin zur Diskriminierung, Unterdrückung und zum Ausschluss der Juden aus der mittelalterlichen Gesellschaftsordnung. So verpflichtete Papst Paul IV. die Juden mit der Bulle Cum nimis absurdum (14. Juli 1555) dazu, in Ghettos zu leben. Denn sie seien „durch ihre Schuld zu ewiger Sklaverei verdammt“. Wenige Tage nach Bekanntgabe der Bulle wurden in Ancona 24 aus Portugal geflohene Marranos, also zwangsbekehrte Juden, verbrannt. 1566 erneuerte Pius V. die Bulle mit Gottesmordargumenten und verbot jeden Kontakt zwischen Neuchristen (getauften Juden) und Juden.

19. Jahrhundert

Im 19. Jahrhundert entstand mit dem europäischen Nationalismus auch der moderne, sozialdarwinistische und rassistische Antisemitismus. Obwohl er sich vom religiösen Antijudaismus abgrenzte, um seine Judenfeindlichkeit pseudowissenschaftlich zu begründen, blieb er dem Stereotyp des Gottesmordes verhaftet. So knüpfte Karl Eugen Dühring an die christliche Ritualmordlegende an und deutete sie zum Mord an den christianisierten Völkern um:

„Die Juden verstehen das Christenthum gern so, dass sich die modernen Völker von den Juden sollen kreuzigen lassen.“

Christliche Judengegner kolportierten die These vom Gottesmord parallel dazu weiter und lieferten Antisemiten damit ein zentrales Argument. So war es bei christlichen Autoren, die sich gegen Antisemiten abgrenzten, üblich, die Zerstreuung der Juden im Römischen Reich als wohlverdiente Strafe für den Messiasmord darzustellen: so bei Rudolf Kleinpaul (Alt- in Neujerusalem), Franz Kayser (Die Ausbeutung der christlichen Konfessionen und politischen Parteien durch die Juden), Carl Fey (Bausteine zur Geschichte des Antisemitismus), J.G.A. Walch (Die Judenfrage). Der Jesuit Theodor Granderath (1839–1902) etwa führte dazu angelehnt an die im 17. Jahrhundert verbreitete Legende vom Ewigen Juden aus:

„Eine Erklärung der Thatsache der ewigen Heimatlosigkeit der Juden ... ist einzig und allein jene Erklärung, welche sich dem Christen wie von selbst bietet: Der allmächtige Gott und Herr der Völker ... hat dieses Volk, welches seinem Berufe nicht entsprochen und den Messias verworfen und gekreuzigt, zur Strafe zur ewigen Heimatlosigkeit verurtheilt.“

Max Bergedorf schrieb 1884 (Das Gefängnis der Juden. Nicht ein Recht menschlicher Notwehr ... sondern eine Pflicht christlichen Gehorsams), Juden seien zur Strafe für den Messiasmord als Sträflinge Gottes unter die christlichen Nationen zerstreut worden, die Jüdische Emanzipation sei also eine unerlaubte Gefangenenbefreiung. Daher müsse diese völlig zurückgenommen, die Juden müssten radikal aus dem Staatsleben „ausgeschieden“ und der christliche Staat müsse erneuert werden.[12]

Zeit des Nationalsozialismus

Im Dritten Reich rechtfertigten Christen aller Konfessionen die staatliche Verfolgung der Juden als Folge des Fluches, den ihre Vorfahren seit dem Gottesmord auf sich gezogen hätten. Diese Fluchtheorie vertrat auch Dietrich Bonhoeffer in seinem ab 7. April 1933 – kurz nach dem Judenboykott – entstandenen Aufsatz Die Kirche vor der Judenfrage:[13]

„Niemals ist in der Kirche Christi der Gedanke verloren gegangen, daß das ‚auserwählte Volk‘, das den Erlöser der Welt ans Kreuz schlug, in langer Leidensgeschichte den Fluch seines Leidens tragen muss.“

Dennoch rief er die Kirche zum Schutz der Menschenrechte für verfolgte Minderheiten wie die Juden auf, zu dem sie von Jesus Christus her unbedingt verpflichtet sei.

Angesichts der Novemberpogrome 1938, also der reichsweiten Zerstörung jüdischer Gotteshäuser, wandte sich Bonhoeffer von der antijudaistischen Tradition ab. Als Ausbilder junger Theologen für die Bekennende Kirche tätig, unterstrich er in seiner Arbeits- und Gebetsbibel Ps 74,8 EU: „Sie verbrennen alle Häuser Gottes im Lande...“ Daneben notierte er das Datum „9. 11. 1938“. Eine solche Datumsnotiz findet man in Bonhoeffers Bibel nur an dieser einen Stelle. Ferner widersprach er Vikaren unter seinen Auszubildenden, die das Pogrom mit dem Fluch Gottes über die Juden seit der Kreuzigung Christi in Verbindung brachten. Nach dem Zeitzeugen, Freund und Bonhoefferbiografen Eberhard Bethge wies Bonhoeffer diese These energisch zurück und erklärte das Pogrom als reines Gewaltverbrechen, in dem der Nationalsozialismus sein wahres gottloses Gesicht gezeigt habe.

Anschließend habe Bonhoeffer mit den Vikaren jene Bibelstellen besprochen, auf die die Fluchtheorie sich stützte (Mt 27,25 und Lk 23,28): Die Urchristen hätten nicht alle Juden, sondern nur „die damaligen Theologen“, den Hohen Rat, und „die damalige staatliche Obrigkeit“, die Römer, für Jesu Hinrichtung verantwortlich gemacht. Zudem habe Bonhoeffer diesen Bibelstellen andere gegenübergestellt, die die unkündbare Verheißung Gottes für sein erwähltes Volk im Neuen Testament bekräftigen. Dies bestätigt ein Rundbrief Bonhoeffers vom 20. November 1938 an ehemalige Finkenwalder Seminaristen:

„In den letzten Tagen habe ich viel über Psalm 74, Sacharja 2,12, Römer 9,4f und 11,11–15 nachgedacht. Das führte sehr ins Gebet.“

Schon im Dezember 1937 hatte Bonhoeffer die Zusage Gottes in Sacharja 2,12 (Wer euch antastet, der tastet meinen Augapfel an) auf verfolgte Juden, nicht mehr nur auf die Nachfolger Jesu bezogen. Damit begann er stellvertretend für die evangelische Kirche während der Eskalation der Judenverfolgung die Abkehr von der traditionellen antijudaistischen Substitutions- und Verwerfungstheologie.[14]

Nach 1945

Römisch-katholische Kirche

Das Zweite Vatikanische Konzil rückte mit der Denkschrift Nostra Aetate von 1965 erstmals von der jahrhundertelangen Gottesmordlehre ab:[15]

„Obgleich die jüdischen Obrigkeiten mit ihren Anhängern auf den Tod Christi gedrungen haben, kann man dennoch die Ereignisse seines Leidens weder allen damals lebenden Juden ohne Unterschied noch den heutigen Juden zur Last legen. [...] Auch hat ja Christus, wie die Kirche immer gelehrt hat und lehrt, in Freiheit, um der Sünden aller Menschen willen, sein Leiden und seinen Tod aus unendlicher Liebe auf sich genommen, damit alle das Heil erlangen. So ist es die Aufgabe der Predigt der Kirche, das Kreuz Christi als Zeichen der universalen Liebe Gottes und als Quelle aller Gnaden zu verkünden.“

Die Denkschrift war gerade auch wegen dieser Passage bis zuletzt umstritten; es war dem Engagement etwa von Kardinal Franz König zu verdanken, dass diese Abkehr vom Gottesmordvorwurf ausdrücklich in den Text aufgenommen wurde.[16]

Nostra Aetate schwieg jedoch weiterhin zu den Kirchenlehrern, die den Gottesmord jahrhundertelang gelehrt und damit dem Antisemitismus ein wesentliches Argument geliefert hatten. Sie lehnte diese Folgen nur allgemein, nicht konkret auf kirchliche Mitschuld bezogen ab und zeigte eine apologetische Tendenz:

„Im Bewusstsein des Erbes, das sie mit den Juden gemeinsam hat, beklagt die Kirche, die alle Verfolgungen gegen irgendwelche Menschen verwirft, nicht aus politischen Gründen, sondern auf Antrieb der religiösen Liebe des Evangeliums alle Hassausbrüche, Verfolgungen und Manifestationen des Antisemitismus, die sich zu irgendeiner Zeit und von irgend jemandem gegen die Juden gerichtet haben.“

In der katholischen Praxis und Volksfrömmigkeit blieb das Gottesmordmotiv auch nach den Reformen des Konzils präsent. So enthielt die Ausgabe des Neuen Stundenbuchs der Diözesen Salzburg, Zürich und Trier bis 1971 einen Psalmenkommentar Augustins, der die Gottesmordtheorie begründete.[17]

Der Katholische Erwachsenen-Katechismus von 1997 weist die Gottesmordlehre mit Bezug auf Nostra Aetate zurück:[18]

„Die Juden sind für den Tod Jesu nicht kollektiv verantwortlich. [...] Berücksichtigt man, wie geschichtlich verwickelt der Prozeß Jesu nach den Berichten der Evangelien ist und wie auch die persönliche Schuld der am Prozeß Hauptbeteiligten (von Judas, dem Hohen Rat, von Pilatus) – die Gott allein kennt – sein mag, so darf man nicht die Gesamtheit der Juden von Jerusalem dafür verantwortlich machen – trotz des Schreiens einer manipulierten Menge [Vgl. Mk 15,11.] und ungeachtet der allgemeinen Vorwürfe in den nach Pfingsten erfolgenden Aufrufen zur Bekehrung [Vgl. Apg 2, 23. 36; 3,13–14; 4,10; 5,30; 7,52; 10,39; 13,27–28; 1 Thess 2,14–15.]. Als Jesus ihnen vom Kreuz herab verzieh [Vgl. Lk 23,24.], entschuldigte er – wie später auch Petrus – die Juden von Jerusalem und sogar ihre Führer mit ihrer „Unwissenheit“ (Apg 3,17). Noch weniger darf man den Schrei des Volkes: „Sein Blut komme über uns und unsere Kinder!“ (Mt 27,25), der eine Bestätigungsformel darstellt [Vgl. Apg 5,28; 18,6.], zum Anlaß nehmen, die Schuld auf die Juden anderer Länder und Zeiten auszudehnen.“

Katholische Traditionalisten wie die Piusbruderschaft lehnen die Reformen des 2. Vatikanischen Konzils ab und vertreten die Gottesmordtheorie weiter. So schrieb deren deutscher Distriktleiter Franz Schmidberger im Dezember 2008 an alle deutschen Bischöfe:[19]

„Die Juden unserer Tage [...] sind des Gottesmordes mitschuldig, solange sie sich nicht durch das Bekenntnis der Gottheit Christi und durch die Taufe von der Schuld ihrer Vorväter distanzieren.“

Evangelische Kirche in Deutschland

Ein Bewusstsein für die besondere kirchliche Mitschuld an der Judenvernichtung setzte nach 1945 in der EKD nur ganz allmählich ein. In den ersten Schulderklärungen der Nachkriegszeit war weder vom Holocaust noch von Antijudaismus und Antisemitismus die Rede. Vielmehr setzte sich die Gottesmord- und Substitutionstheologie zunächst ungebrochen fort. So hieß es in dem „Wort zur Judenfrage“ der EKD von 1948:

„Indem Israel den Messias kreuzigte, hat es seine Erwählung verworfen. [...] Die Erwählung Israels ist durch und seit Christus auf die Kirche aus allen Völkern, aus Juden und Heiden übergegangen.“

Zwar hieß es außerdem, alle Menschen seien am Tod Christi mitschuldig, so dass Christen Juden nicht als Alleinschuldige brandmarken dürften. Doch es folgten Sätze, die das bestehende Judentum nur als Zeugen des Gerichtes Gottes und den Holocaust als Zeichen seiner „Geduld“ deuteten:

„Dass Gottes Gericht Israel in der Verwerfung bis heute nachfolgt, ist Zeichen seiner Langmut. [...] Dass Gott nicht mit sich spotten lässt, ist die stumme Predigt des jüdischen Schicksals, uns zur Warnung, den Juden zur Mahnung, ob sie sich nicht bekehren möchten zu dem, bei dem allein auch ihr Heil steht.“

Zwei Jahre später verabschiedete die Synode von Weißensee unter dem Eindruck neuer antisemitischer Ausschreitungen jedoch eine Erklärung, die von diesen problematischen Thesen abrückte:[20]

„Wir glauben, dass Gottes Verheißung über dem von ihm erwählten Volk Israel auch nach der Kreuzigung Jesu Christi in Kraft geblieben ist.“

Damit widerrief eine offizielle kirchliche Stellungnahme der EKD erstmals die aus dem Gottesmord abgeleitete Fluchtheorie. Doch der Folgepassus zeigte die Schwierigkeiten der Beteiligten, eine kirchliche Mitschuld zu benennen. Stattdessen hieß es dort:

„Wir bekennen uns zu der Schuld der Deutschen, die vor dem Gott der Barmherzigkeit durch den Massenmord an den Juden handelnd oder schweigend schuldig geworden sind.“

Dennoch bahnte sich nun in den Großkirchen, vor allem beeinflusst vom Jüdisch-christlichen Dialog, unaufhaltsam eine Abkehr vom Antijudaismus an. Im evangelischen Bereich wurde der Synodalbeschluss der Rheinischen Landeskirche von 1980 wegweisend für eine entschiedene Revision judenfeindlicher Dogmen, die vom Bekenntnis kirchlicher Mitschuld am Holocaust ausging.

Schulischer Geschichtsunterricht

In manchen deutschen Geschichtsbüchern findet man weiterhin verkürzte und tendenziell antijudaistische Darstellungen, etwa 2007 in einem Geschichtsheft für die Grundschule:

"Zur Zeit des Kaisers Augustus predigte in Judäa, im heutigen Israel, Jesus von Nazareth. Für die jüdischen Priester war sein Evangelium (=frohe Botschaft) eine Gotteslästerung. Sie sorgten dafür, dass Jesus zum Tode verurteilt wurde."[21]

Siehe auch

Literatur

  • Stefan Rohrbacher, Michael Schmidt: Judenbilder. Kulturgeschichte antijüdischer Mythen und antisemitischer Vorurteile. Rowohlt, Reinbek 1991, ISBN 3-499-55498-4, S. 218–241: Kreuzestod und Gottesmord.
  • Heinz Schreckenberg: Die christlichen Adversus Iudaeos-Texte und ihr literarisches und historisches Umfeld (1.–11. Jahrhundert). Lang, 1999, ISBN 3-631-33945-3.
  • Karl-Erich Grözinger: Erstes Bild: Die Gottesmörder. In: Julius H. Schoeps, Joachim Schlör (Hrsg.): Bilder der Judenfeindschaft. Antisemitismus – Vorurteile und Mythen. Augsburg 1999, ISBN 3-8289-0734-2, S. 57–66.
  • Hardy Ostry: „Gottesmörder“ – Auserwähltes Volk: Das American Jewish Committee und die Judenerklärung des II. Vatikanischen Konzils. Paulinus, 2003, ISBN 3-7902-1373-X.
  • Friedrich Gleiss: Von der Gottesmordlüge zum Völkermord, von der Feindschaft zur Versöhnung: kirchlicher Antijudaismus durch zwei Jahrtausende und seine Überwindung, illustriert mit Bildern aus der christlichen Ikonographie. Geiger-Verlag, 1995, ISBN 3895700606

Einzelbelege

  1. Beispiele: Manfred Gailus, Armin Nolzen: Zerstrittene »Volksgemeinschaft«: Glaube, Konfession und Religion im Nationalsozialismus. Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen 2011, ISBN 3525300298, S. 288; Fritz May: Israel zwischen Blut und Tränen: der Leidensweg des jüdischen Volkes. Schulte + Gerth, 1987, ISBN 3877390811, S. 134; Leonore Siegele-Wenschkewitz: Mitverantwortung und Schuld der Christen am Holocaust. In: Evangelische Theologie 42/1982, S. 171-190
  2. Franz Mussner, Michael Theobald: Jesus von Nazareth im Umfeld Israels und der Urkirche: Gesammelte Aufsätze. Mohr Siebeck, Tübingen 1999, ISBN 3161469739, S. 124
  3. John Dominic Crossan: Wer tötete Jesus? Die Ursprünge des christlichen Antisemitismus in den Evangelien. C. H. Beck, München 1999, ISBN 3406445535, S. 10
  4. Rohrbacher/Schmidt, Judenbilder S. 222
  5. Portal Katholische Kirche Schweiz: Originalquellen
  6. Rohrbacher/Schmidt: Judenbilder, S. 223
  7. zitiert nach Andreas Mertin: Ecce homo; englische Übersetzung
  8. zitiert nach Alex Bein: Die Judenfrage. Biografie eines Weltproblems, Band I, Stuttgart 1980, S. 55
  9. Walther Zimmerli: Die Schuld am Kreuz. In: Walther Zimmerli: Israel und die Christen, Neukirchener Verlag, Neukirchen-Vluyn 1964, S. 19f
  10. Michael Marissen: Lutheranism, Anti-Judaism, and Bach's St. John Passion: With an Annotated Literal Translation of the Libretto, Oxford University Press, 1998, ISBN 019511471X, S. 26
  11. Heiko Oberman: Luther, Israel und die Juden. In: Das Parlament Nr. 3, 22. Januar 1983, Anmerkung 21
  12. alle Zitate und Beispiele nach Stefan Lehr: Antisemitismus – religiöse Motive im sozialen Vorurteil, Christian Kaiser Verlag, München 1974, S. 23ff
  13. Dietrich Bonhoeffer Werke, Band 12, S. 354
  14. Paul Gerhard Schoenborn: „Tu deinen Mund auf für die Stummen“: Dietrich Bonhoeffers Widerstand gegen die Judenverfolgung im Dritten Reich
  15. Vatikan Archiv: Erklärung NOSTRA AETAT: Über das Verhältnis der Kirche zu den nichtchristlichen Religionen
  16. David Neuhold: Franz Kardinal König - Religion und Freiheit: Ein theologisches und politisches Profil. Academic Press, Fribourg 2008, ISBN 3727816074, S. 112
  17. Urs Altermatt: Katholizismus und Antisemitismus, Verlag Huber, Frauenfeld/Stuttgart/Wien, ISBN 3-7193-1160-0, S. 94
  18. Katholischer Katechismus: Absatz 2 JESUS IST AM KREUZ GESTORBEN I Der Prozeß Jesu
  19. Der Spiegel 4/19. Januar 2009, S. 32: Problem für den Papst
  20. Synode der Evangelischen Kirche in Deutschland: Wort zur Judenfrage vom April 1950
  21. Dr. Hagen Schneider; Das Römische Weltreich, Christentum, S. 62; 'Entdecken und Verstehen - Arbeitshefte - Heft 1 - Von der Urgeschichte bis zum Frühen Mittelalter', Cornelsen Verlag, 2007. Arbeitsheft zu: 'Entdecken und Verstehen - Grundschule Berlin und Brandenburg: 5./6. Schuljahr - Von der Urgeschichte bis zum Beginn des Mittelalters: Schülerbuch: Geschichtsbuch für Grundschulen', ebenda 2004.
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