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Anatomie der menschlichen Destruktivität

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Anatomie der menschlichen Destruktivität (original The Anatomy of Human Destructiveness) ist der Titel eines anthropologischen und sozialpsychologischen Werkes über mutmaßliche Ursachen menschlicher Gewalttätigkeit, das Erich Fromm 1973 in den USA veröffentlichte. 1974 erschien die deutsche Übersetzung. Im Vorwort bezeichnet Fromm die Untersuchung als ersten Band einer umfassenden Arbeit über die psychoanalytische Theorie. Demnach begann er bereits über sechs Jahre zuvor, also 1967, mit der Niederschrift, und bezog zahlreiche Kenntnisse aus anderen Gebieten (Neurophysiologie, Tierpsychologie, Paläontologie, Anthropologie) in die Betrachtung mit ein.

Inhalt

Terminologie und Einleitung

Als Destruktivität oder Grausamkeit definiert Fromm die »bösartige Aggression«, also die spezifisch menschliche Leidenschaft, zu zerstören und absolute Kontrolle über ein Lebewesen zu haben – im Unterschied zur »gutartigen Aggression«, der Abwehr gegen Angriffe.

In der Einleitung heißt es: Die ständig zunehmende Gewalttätigkeit und Destruktivität auf der ganzen Welt lenkte die Aufmerksamkeit der Fachwelt wie der breiten Öffentlichkeit auf die theoretische Erforschung des Wesens und der Ursachen der Aggression. Fromm bekennt sich dort zu einem soziobiologischen Standpunkt – fünf Jahre bevor Edward O. Wilson und Richard Dawkins den Begriff Soziobiologie popularisierten. Fromm meint damit nicht primär die Genetik, sondern seinen Versuch, das Wesen des Menschen und seiner Leidenschaften aus seinen anatomischen, neurologischen und physiologischen Grundlagen sowie aus seinen anthropologisch belegbaren Lebensbedingungen abzuleiten.

Gegen andere Aggressionstheorien

Fromms Werk wendet sich gegen die Aggressionstheorie von Konrad Lorenz, gegen Sigmund Freuds Theorie vom »Todestrieb« und gegen die Theorie der Behavioristen (namentlich B. F. Skinners), Aggression werde reflexartig erlernt, wenn und weil sie Erfolg bringe. Er referiert diese Theorien grob (und ziemlich selektiv); der Aggressionstheorie von Freud jedoch widmet er einen vierzigseitigen Anhang.

Zur Anthropologie des Mordes

Fromm wertete zahlreiche Studien von Tierpsychologen, Paläontologen und Anthropologen aus, um herauszufinden, ob die weit verbreitete These stimmt, der Mensch sei »von Natur aus« ein Raubtier und Mörder, und nur der »dünne Firnis der Zivilisation« hindere ihn in der Regel daran, seiner Mordlust freien Lauf zu lassen. Er kommt zu dem Ergebnis, dass die These nicht stimmt. Es spricht nach Fromm vielmehr einiges dafür,

  • dass der Mensch eine angeborene Tötungshemmung besitzt;
  • dass die Frühmenschen biologisch betrachtet keine Fleischfresser, sondern Allesfresser waren;
  • dass es keinen Zusammenhang zwischen Jagd und Mord bzw. Krieg (also dem vorsätzlichen Töten von Artgenossen) gibt;
  • dass die meisten primitiven Kulturen »lebensbejahend« oder allenfalls »nichtdestruktiv-aggressiv« waren; dass grausame Kriege u. ä. also erst in zivilisierten Gesellschaften mit Ackerbau und Viehzucht aufgetreten sind.

Gutartige Aggression

Als solche definiert Fromm die unbeabsichtigte Aggression, die spielerische Aggression und die Aggression als Selbstbehauptung, die er unter dem Oberbegriff Pseudoaggression zusammenfasst. Im Kapitel Die defensive Aggression geht er auf Themen wie Aggression und Freiheit, Aggression und Narzissmus, Aggression und Widerstand (im freudschen Sinne als Widerstand gegen die Aufdeckung verdrängter innerer Motive), konformistische Aggression, instrumentale Aggression und Ursachen des Krieges ein.

Ursachen des Krieges

Dieses für Fromms Argumentation zentrale Unterkapitel steht genau zwischen seinen Betrachtungen über die gutartige und über die bösartige Aggression, also die eigentliche Destruktivität. Die geschriebene Geschichte der Menschheit zeigt, darin waren sich Freud und Fromm einig, dass Kriege wegen realistischen Interessenskonflikten geführt werden und nicht wegen eines angeborenen Triebes:

Die Babylonier, die Griechen und alle Staatsmänner bis in unsere Zeit haben ihre Kriege aus Gründen geplant, die sie für sehr realistisch hielten, und sie haben die Pros und Contras sehr sorgfältig erwogen, wenn sie sich bei ihren Berechnungen natürlich auch oft irrten. Sie hatten dabei mannigfache Motive: Land, das sie kultivieren wollten, Reichtümer, Sklaven, Rohstoffe, Märkte, Expansion – und Verteidigung.

Dazu kommt, dass die primitiven Gesellschaften offensichtlich seltener und weniger destruktiv Krieg geführt haben als die zivilisierten Gesellschaften. Würde der Krieg durch angeborene destruktive Impulse verursacht, so wäre das Gegenteil der Fall. Humanitäre Tendenzen ließen die Zahl der Kriege im 19. Jahrhundert vorübergehend wieder sinken. Fromm zitiert eine Tabelle von Q. Wright (1965). Danach führten die europäischen Mächte im 16. Jahrhundert 87 Schlachten, im 17. Jahrhundert 239, im 18. Jahrhundert 781, im 19. Jahrhundert 651; 1900–1940 waren es 892.

Fromm untersucht dann den Ersten Weltkrieg genauer. Auf beiden Seiten gab es wirtschaftliche und machtpolitische Kriegsziele. Beide Seiten mussten an das Selbstverteidigungs- und Freiheitsgefühl appellieren, um ihre Bevölkerungen zum Kriegseinsatz motivieren zu können. In Deutschland gab es 1914 nur für einige Monate eine kollektive Kriegsbegeisterung, die 1939, beim Ausbruch des Zweiten Weltkriegs, vollkommen fehlte. 1917 und 1918 gab es in Russland, Frankreich und Deutschland massive Meutereien von kriegsmüden Soldaten, die in Russland und Deutschland schließlich sogar zur Revolution führten. All das wäre unter der Annahme eines angeborenen Kriegstriebes völlig unerklärlich.

Fromm geht auch auf Aspekte ein, die den Krieg für breitere Bevölkerungskreise akzeptabel oder sogar attraktiv machen: die Ehrfurcht vor der Autorität, die Flucht aus Langeweile und Routine des Alltagslebens, gewisse Formen kameradschaftlicher Solidarität, die sich vom täglichen Konkurrenzkampf der Friedenszeiten positiv abheben: Daß der Krieg diese positiven Züge aufweist, ist ein trauriger Kommentar zu unserer Zivilisation.

Die Natur des Menschen

Als Prämisse seines Kapitels über die bösartige Aggression versucht Fromm, einige psychische Eigenschaften zu definieren, die den Menschen wesentlich von anderen Primaten unterscheiden – als Hintergrund für seine These, dass dazu auch die nur bei Menschen gelegentlich auftretende Lust am Morden und Zerstören gehöre:

Das Einzigartige beim Menschen ist, dass er von Impulsen zu morden und zu quälen getrieben werden kann und dass er dabei Lustgefühle empfindet. Er ist das einzige Lebewesen, das zum Mörder und Vernichter der eigenen Art werden kann, ohne davon einen entsprechenden biologischen oder ökonomischen Nutzen zu haben.

Fromm kommt zu dem Ergebnis, dass sich die Entwicklung des Menschen dort von derjenigen der Primaten getrennt habe, wo seine Determinierung durch Instinkte ein Minimum und das Wachstum des Gehirns, vor allem des Großhirns, ein Maximum erreicht hatte.

Jedoch: Bewusstsein seiner selbst, Vernunft und Fantasie haben nach Fromm die »Harmonie« zerstört, welche die tierische Existenz kennzeichnet… Er [der Mensch] ist Teil der Natur, ihren physikalischen Gesetzen unterworfen und unfähig, sie zu ändern, und doch transzendiert er die Natur. Er ist getrennt von ihr und doch ein Teil von ihr. Er ist heimatlos und doch an die Heimat gekettet, die er mit allen Kreaturen teilt… Der Mensch ist das einzige Lebewesen, das sich in der Natur nicht zu Hause fühlt, das sich aus dem Paradies vertrieben fühlen kann, das einzige Lebewesen, für das die eigene Existenz ein Problem ist…

Diese Widersprüche nehmen noch zu, wenn der Mensch sich »als Individuum und nicht nur als Mitglied eines Stammes« erlebt. Sie erzeugen bestimmte existenzielle psychische Bedürfnisse, die – so Fromm – alle Menschen gemeinsam haben. Da sie bei jedem Menschen anders befriedigt werden, entstehen unterschiedliche Charaktere mit unterschiedlichen Leidenschaften.

Im folgenden Kapitel referiert Fromm aus seinem Werk The Sane Society (Der moderne Mensch und seine Zukunft, 1955/1960) sechs existenzielle Bedürfnisse des Menschen, die Quellen von Leidenschaften sein können: Orientierung und Devotion, Verwurzelung, Einheit, das Bestreben, etwas zu bewirken, Erregung und Stimulation (mit dem Gegenstück Langeweile und chronische Depression), das Streben nach einer Charakterstruktur.

Spontane Destruktivität

Fromm grenzt spontane Ausbrüche von Destruktivität, also spontane Massaker, wie sie in vielen modernen Kriegen vorgekommen sind, vom destruktiven Charakter ab. Erstere sind schlummernde destruktive Impulse, die durch plötzliche traumatische Ereignisse mobilisiert werden; der destruktive Charakter dagegen ist eine ständig strömende Energiequelle.

Zur spontanen Destruktivität gehören Formen wie die rachsüchtige Destruktivität (Blutrache u. ä.; nach Fromm sehr unterschiedlich stark in den Kulturen verankert) und ekstatische Destruktivität, die sich in tranceartigen Zuständen äußert. Es gibt auch die chronische Form der Anbetung der Destruktivität, und Fromm porträtiert den rechtskonservativen Schriftsteller Ernst von Salomon, der 1922 am Mordanschlag auf Walter Rathenau beteiligt war, als klinischen Fall des Götzendienstes an der Zerstörung.

Sadismus

Fromm unterscheidet zwei Formen des manifesten destruktiven Charakters: Sadismus und Nekrophilie. Sadismus definiert er als Wunsch, einer Person physische oder psychische Schmerzen zuzufügen, sie zu demütigen, in Ketten zu legen, zu unbedingtem Gehorsam zu zwingen. Nach Fromm kommen nichtsexuelle Formen des Sadismus viel häufiger vor als sexuelle. Sie äußern sich zum Beispiel in der Misshandlung von Kindern, Gefangenen, Sklaven, Kranken (vor allem Geisteskranken) oder Hunden.

In einer kurzen Studie porträtiert Fromm Josef Stalin als klinischen Fall von nichtsexuellem Sadismus. Er zitiert mehrere von Roi Alexandrowitsch Medwedew überlieferte Fälle, in denen deutlich wird, dass Stalin es bei der Verfolgung und Ermordung von Kommunisten genoss, der vollkommen unberechenbare Herr über Leben, Tod und Selbstachtung seiner Untertanen zu sein. Er ließ zum Beispiel den Bruder des Politbüromitglieds Lasar Kaganowitsch verhaften und ergötzte sich daran, wie Kaganowitsch ihm gegenüber die Verhaftung seines eigenen Bruders begrüßte.

Als Wesen des Sadismus leitet Fromm aus diesen Beispielen die Leidenschaft ab, absolute und uneingeschränkte Herrschaft über ein lebendes Wesen auszuüben. Das Musterexemplar eines Sadisten in diesem Sinne ist die Figur des Caligula in Albert Camus’ gleichnamigem Theaterstück. Fromm schlägt einen Bogen von dieser Leidenschaft zu dem von Freud beschriebenen »anal-hortenden Charakter« und zum »bürokratischen Charakter«. Beiden ist gemeinsam, dass sie das Unberechenbare und Ungewisse im Leben ihrer Mitmenschen fürchten und deshalb einen starken Drang entwickeln, alles Leben ringsum in eine feste Ordnung zu bringen und unter rigider Kontrolle zu halten.

In einer ausführlichen, 28-seitigen Studie porträtiert Fromm Heinrich Himmler als klinischen Fall des anal-hortenden Sadismus. Seine Studie stützt sich vor allem auf die Himmler-Biographie von Bradley F. Smith (Heinrich Himmler. A Nazi in the Making. Stanford 1971), die sich auf Himmlers Jugendjahre konzentriert. Als Schlüsselstelle greift Fromm eine Episode heraus, in der der 21-Jährige die Braut seines älteren Bruders Gebhard wegen angeblicher Flirts mit anderen Männern bespitzeln ließ, sie seinem persönlichen Strafgericht unterzog und schließlich ihre Verbannung aus der Familie durchsetzte. Fromm beschreibt mehrere Parallelfälle, bei denen der spätere SS-Führer untergebene Offiziere ganz ähnlich behandelt hatte.

Nekrophilie

Traditionell versteht man unter Nekrophilie den perversen Drang zu sexuellen Handlungen mit Leichen oder zum Zerstückeln von Leichen. Fromm überträgt den Begriff auf eine bestimmte Charakterstruktur. Der erste, der diese Idee hatte, war der spanische Philosoph Miguel de Unamuno, der 1936 den Kampfruf der spanischen Faschisten, Viva la muerte! (Es lebe der Tod!), als nekrophil bezeichnet hat. Das Gegenteil von Nekrophilie nennt Fromm Biophilie (Liebe zum Lebendigen).

Fromm beschreibt sechs nekrophile Träume verschiedener Personen (darunter einen Traum Albert Speers, in dem Hitler mechanisch eine endlose Reihe von Kränzen an Kriegerdenkmälern niederlegt – Fromm interpretiert den Traum als Traum eines biophilen Menschen über einen Nekrophilen). Auffällig an Nekrophilen ist nach Fromm eine Vorliebe für schlechte Gerüche – ursprünglich für den Geruch von verfaulendem oder verwesendem Fleisch. Die nekrophile Sprache benutzt vorwiegend Worte, die sich auf Zerstörung, auf Exkremente und Toiletten beziehen. Auf Grundlage solcher Beobachtungen haben Fromm und M. Maccoby einen interpretativen Fragebogen entwickelt und sind zu dem Ergebnis gekommen, dass biophile und nekrophile Tendenzen messbar seien und stark mit politischen und sozialen Einstellungen korrelierten.

Anknüpfend an Lewis Mumford entwickelt Fromm die These, dass Nekrophilie oft eng mit einer Vergötterung der Technik einhergehe. Als Beleg zitiert er ausführlich aus dem Manifest des Futurismus, das der italienische Faschist Filippo Tommaso Marinetti 1909 verfasst hat – darin die Zeilen: …ein aufheulendes Auto … ist schöner als die Nike von Samothrake… Wir wollen den Krieg verherrlichen – diese einzige Hygiene der Welt –, den Militarismus, den Patriotismus, die Vernichtungstat der Anarchisten, die schönen Ideen, für die man stirbt, und die Verachtung des Weibes. Im Folgenden stellt Fromm allerlei Bezüge zum Bombenkrieg, zum Atomkrieg und zum Bau von Robotern her.

In seiner Hypothese über den Inzest und den Ödipuskomplex versucht Fromm, das Phänomen Nekrophilie auf die traditionellen Kategorien von Sigmund Freuds Psychoanalyse zurückzuführen. Seine These ist: Männer, die es als Kind nicht geschafft haben, eine emotionale oder auch erotische Beziehung zu ihrer Mutter aufzubauen, werden im Extremfall autistisch. In weniger extremen Fällen könnte daraus eine Wurzel der Nekrophilie werden: Sie werden nicht von der lebendigen Mutter oder von der Mutter ähnelnden lebendigen Frauen erotisch angezogen, sondern von der Mutter als abstraktem Symbol (für Heimat, Blut, Rasse usw.) oder von der Mutter als potenzieller Mörderin ihrer Kinder. Auf diese Weise kann eventuell eine inzestuöse Bindung an Tod und Zerstörung entstehen.

Abschließend diskutiert Fromm die Parallelen zwischen seinem Gegensatzpaar Biophilie-Nekrophilie und Freuds Gegensatzpaar Lebenstrieb-Todestrieb (Eros-Thanatos). Fromm: Die Biophilie ist die leidenschaftliche Liebe zum Leben und allem Lebendigen; sie ist der Wunsch, das Wachstum zu fördern, ob es sich nun um einen Menschen, eine Pflanze, eine Idee oder eine soziale Gruppe handelt. Während der späte Freud Lebens- und Todestrieb als gleichrangige Prinzipien betrachtete, sieht Fromm die Biophilie als biologisch normalen Impuls, die Nekrophilie dagegen als psychopathologisches Phänomen, als Folge eines gehemmten Wachstums, einer seelischen Verkrüppelung. Bei den meisten Menschen sind nach Fromms Auffassung sowohl biophile als auch nekrophile Tendenzen vorhanden, wobei erstere in der Regel überwiegen. Er regt an, die Verteilung von Charakterstrukturen (z. B. von biophilen und nekrophilen Tendenzen) in der Bevölkerung mit ähnlichen Methoden zu erforschen, wie sie die Meinungsforschung anwendet.

Adolf Hitler

Das wohl bekannteste Kapitel von Fromms Werk ist die Studie Adolf Hitler, ein klinischer Fall von Nekrophilie. Fromm stützte sich dabei auf folgende Werke über Hitlers Kindheit und Jugend (schwerpunktmäßig auf das erste):

  • Bradley F. Smith: Adolf Hitler. His Family, Childhood and Youth. Stanford 1967
  • Werner Maser: Adolf Hitler. Legende, Mythos, Wirklichkeit. München 1971
  • August Kubizek: Adolf Hitler, mein Jugendfreund. Graz 1953

Er fand aber in den Berichten über Hitlers Kindheit letztlich keine Belege für das, was er in seiner theoretischen Hypothese eine inzestuöse Bindung an Tod und Zerstörung genannt hatte. Allerdings gibt es zahlreiche Hinweise darauf, dass Hitler als Kind und Jugendlicher nie seinen kindlichen Narzissmus überwunden hat und lieber in einer Fantasiewelt lebte, als sich z. B. für die Realschule anzustrengen. Er scheiterte in der Realschule und interessierte sich noch mit 15 Jahren ausschließlich für Kriegsspiele mit anderen, meist jüngeren Jungen, bei denen er den Anführer spielen konnte; er entwickelte keine produktiven persönlichen Interessen. Seiner Leidenschaft für Karl-May-Romane hat er noch als Reichskanzler gefrönt.

Sein Scheitern in der Realschule wie auch später bei der Aufnahmeprüfung der Wiener Kunstakademie lastete Hitler ausschließlich einer ihm angeblich feindlich gesinnten Mitwelt an, der er dafür die unversöhnlichste Rache schwor. Es war ihm unmöglich, seinen eigenen Anteil daran, vor allem seine Faulheit, zu erkennen. Er ließ sich weiterhin von seiner Mutter finanzieren und lebte als Dandy in den Tag hinein, bis das Geld alle war und er in die Obdachlosigkeit abrutschte. Erst jetzt, in äußerster Not, bequemte er sich zu einer Arbeit, malte und verkaufte Kunstpostkarten. Im Obdachlosenheim entdeckte er sein einziges wirkliches Talent, die Demagogie.

Im weiteren Verlauf dieser biographischen Studie bemüht sich Fromm nachzuweisen, dass Hitler nicht nur destruktiv gehandelt hat, sondern dass er dabei von einem destruktiven Charakter getrieben war. Viele Hinweise darauf fand Fromm in den Erinnerungen Albert Speers, in der erwähnten Biographie von Werner Maser, im Werk von Percy Ernst Schramm über Hitler als militärischer Führer (1965) und in Hitlers Tischgesprächen (1965 von H. Picker herausgegeben) – etwa seine häufig geäußerten Erwägungen, bestimmte Städte zu zerstören, bis hin zu dem von Speer überlieferten sog. Nero-Befehl. Weitere Details, die Fromm aufzählt, sind Hitlers paranoide Angst vor der Syphilis, sein Hass auf Juden als Fremdlinge und seine schon im Januar 1942 ausgesprochene Drohung, das deutsche Volk müsse verschwinden, wenn es nicht bereit sei, sich für seine Selbstbehauptung einzusetzen.

Ernst Hanfstaengl überlieferte eine bizarre Szene aus der Zeit um 1925: Er hatte Hitler den Vorschlag gemacht, London zu besuchen, und dabei auch König Heinrich VIII. erwähnt. Hitler stimmte zu mit dem Hinweis, er wolle gerne die Stelle sehen, an der zwei Frauen Heinrichs VIII. »vom Schafott ausgemerzt« worden seien. Schließlich die berüchtigte Langweiligkeit und Sterilität seiner Monologe, die er vor Gästen zu halten pflegte. Bei alledem war Hitler ein vollendeter Lügner und Schauspieler, der es immer wieder verstand, seine Destruktivität vor dem Publikum zu verbergen, seine Stimme und sein Auftreten an das jeweilige Publikum anzupassen.

Fromm untersucht auch andere Aspekte von Hitlers Persönlichkeit: seinen extremen Narzissmus, seine beinahe freundschaftliche Beziehung zu Albert Speer, seine Kälte und Mitleidlosigkeit, seine Beziehungen zu Frauen, sein (kaum bekanntes) Sexualleben, seine größte Begabung, die Fähigkeit, andere Menschen zu beeindrucken, die angeblich von seinen kalt glitzernden Augen ausging, sein schauspielerisches Talent, seine echten und gespielten Wutanfälle, sein ungewöhnliches Gedächtnis, sein Konversationstalent, seine kulturellen und künstlerischen Vorlieben, schließlich sein liebenswürdiges, höfliches, beinahe scheues Auftreten, das Fromm als Tarnschicht, als Maske wertet. Auch die Liebe zu seinen Hunden ordnet Fromm hier ein.

Fromm diskutiert den offenkundigen Widerspruch zwischen Hitlers Kult der Willenskraft und seiner tatsächlichen Willensschwäche sowie seinen mangelhaften Wirklichkeitssinn. Fromm zieht das Resümee: Hitler war ein Spieler; er hat mit dem Leben aller Deutschen ebenso wie mit seinem eigenen Leben gespielt. Er habe zwar vermutlich psychotische, vielleicht schizophrene Züge gehabt, sei aber wahrscheinlich kein »Wahnsinniger« gewesen, habe also nicht an einer Psychose oder Paranoia gelitten.

Epilog

In seinem Epilog betont Fromm, dass Sadismus und Nekrophilie, wie er gezeigt habe, nicht angeboren seien, also stark reduziert werden könnten, wenn die gegenwärtigen sozioökonomischen Bedingungen durch andere ersetzt würden, die der vollen Entwicklung der echten Bedürfnisse und Fähigkeiten des Menschen günstig seien. Er kritisiert sowohl die Optimisten, die an das Dogma vom ständigen »Fortschritt« glaubten, als auch die Pessimisten: Jeder, der die Schlechtigkeit des Menschen beweisen will, findet nämlich bereitwillig Zustimmung, weil er damit einem jeden ein Alibi für die eigenen Sünden bietet… Seine eigene Position definiert er als die eines rationalen Glaubens an die Fähigkeit des Menschen, sich aus dem scheinbar verhängnisvollen Netz der Umstände, das er selbst geschaffen hat, zu befreien.

Ausgaben

  • Erich Fromm: The Anatomy of Human Destructiveness..Holt Rinehart & Winston, New York 1973.
  • Erich Fromm: Anatomie der menschlichen Destruktivität. Deutsche Verlags-Anstalt, Stuttgart 1974, ISBN 3-421-01686-0.
  • Erich Fromm: Anatomie der menschlichen Destruktivität. Rowohlt, Reinbek 1977, ISBN 3-499-17052-3.

Rezeption

Der ausgeprägt interdisziplinäre Ansatz in Fromms Werk erschwerte seine Rezeption in der wissenschaftlichen Fachliteratur. Anders war es bei den ebenfalls interdisziplinär arbeitenden feministischen Forscherinnen: Amerikanische Feministinnen wie Mary Daly griffen z. B. Fromms Konzept der Nekrophilie auf, vor allem den behaupteten Zusammenhang zwischen Vergötterung der Technik und Frauenverachtung, den Fromm am Beispiel von Marinettis Futuristischem Manifest aufgezeigt hatte.[1]

Der amerikanische Anthropologe David Shapiro und die amerikanische Biologin Evelyn Fox Keller griffen Fromms Definition des nichtsexuellen Sadismus auf. Sadismus, so Shapiro, sei ein besonderer Ausdruck für die extreme Verachtung von Schwäche und Verletzlichkeit.[2]

Der deutsche Historiker Wolfgang Ruge zitierte 1990 in seiner Analyse des Stalinismus zustimmend Fromms Stalin-Diagnose als „klinischen Fall von nichtsexuellem Sadismus“, unter Verweis auf Stalins Umgang mit Nikolai Bucharin 1938.[3] Der britische Historiker Alan Bullock griff 1991 in seiner Doppelbiographie von Hitler und Stalin Fromms These auf, beide Diktatoren seien narzisstisch fixiert gewesen.[4]

Die deutsche Kunsthistorikerin Gerlinde Volland übertrug in ihrer Kritik an Edmund Burkes Philosophischer Untersuchung über den Ursprung unserer Ideen vom Erhabenen und Schönen Fromms Sadismustheorie und seine Kategorien Nekrophilie und Biophilie auf Burkes Dualismus des männlichen Prinzips des "Erhabenen" und des weiblichen Prinzips des "Schönen".[5]

Kritik

Der ebenfalls aus Wien stammende amerikanische Psychologe Friedrich Hacker kritisiert in seinem Werk Aggression – Die Brutalisierung unserer Welt Fromms Unterscheidung zwischen „gutartiger (defensiver)“ und „bösartiger (sadistischer, nekrophiler) Aggression“ und wirft Fromm Schwarz-Weiß-Malerei vor. Das Problem, so Hacker, seien gerade aggressive Taten, die vom Handelnden als konstruktiv, vom Betroffenen aber als destruktiv beurteilt würden. Auch bleibe bei Fromm letztlich unklar, wie sich biologisch entstandene Instinkte zu den charakterlichen Leidenschaften der Menschen verhielten.[6]

Siehe auch

Literatur

Weblinks

Einzelnachweise

  1. Mary Daly: Gyn/Ökologie. Eine Meta-Ethik des radikalen Feminismus. 5. Auflage. Verlag Frauenoffensive, München 1991, ISBN 3-88104-215-6, S. 83 (original: Gyn/ecology).
  2. David Shapiro: Autonomy and Rigid Character. 9. Auflage. Basic Books, New York 1997, ISBN 0-465-00567-5; Evelyn Fox Keller: Liebe, Macht und Erkenntnis. Männliche oder weibliche Wissenschaft? Hanser, München 1986, ISBN 3-446-14652-0, S. 110 (original: Reflections on gender and science).
  3. Wolfgang Ruge: Stalinismus. Eine Sackgasse im Labyrinth der Geschichte. Deutscher Verlag der Wissenschaften, Berlin 1990, ISBN 3-326-00630-6, S. 99.
  4. Alan Bullock: Hitler und Stalin. Parallele Leben. Siedler, Berlin 1991, ISBN 3-88680-370-8, S. 26–27 (original: Hitler & Stalin).
  5. Gerlinde Volland: Männermacht und Frauenopfer. Sexualität und Gewalt bei Goya. Reimer, Berlin 1993, ISBN 3-496-01105-X, S. 24–25 und 29 ff.
  6. Friedrich Hacker: Aggression. Die Brutalisierung unserer Welt. Aktualisierte Neuauflage. Econ, Düsseldorf 1985, ISBN 3-430-13737-3, S. 115 ff. (Erstveröffentlichung: 1971).
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